Maria im Tempel

In der koranischen Version der Geschichte der Geburt Marias heißt es:

35 Als ʿImrāns Frau sagte: „Mein Herr, ich gelobe Dir, was in meinem Mutterleib ist, für Deinen Dienst freigestellt. So nimm (es) von mir an! Du bist ja der Allhörende und Allwissende.“ 36 Als sie sie dann zur Welt gebracht hatte, sagte sie: „Mein Herr, ich habe ein Mädchen zur Welt gebracht.“ Und Allah wußte sehr wohl, was sie zur Welt gebracht hatte, und der Knabe ist nicht wie das Mädchen. „Ich habe sie Maryam genannt, und ich stelle sie und ihre Nachkommenschaft unter Deinen Schutz vor dem gesteinigten Satan.“ 37 Da nahm ihr Herr sie auf gütigste Art an und ließ sie auf schöne Weise heranwachsen und gab sie Zakariyyā zur Betreuung. Jedesmal, wenn Zakariyyā zu ihr in die Zelle trat, fand er bei ihr Versorgung. Er sagte: „O Maryam, woher hast du das?“ Sie sagte: „Es kommt von Allah; Allah versorgt, wen Er will, ohne zu berechnen.“ (Sure 3,35-37)

Das von Bubenheim und Elyas in Vers 37 mit „Zelle“ wiedergegebene Wort miḥ’rāb (مِحْرَاب) lautet in anderen Übersetzungen „Tempel“ oder „Heiligtum“. Auch islamische Erklärer gehen davon aus, dass der Tempel in Jerusalem gemeint sei.

In der Bibel lesen wir nichts über einen Aufenthalt der kleinen Maria im Tempel.

„Informationen“ dazu liefert das aus dem späten 2. Jahrhundert stammende apokryphe Protoevangelium des Jakobus.1

7,2 Und als das Kind dreijährig geworden war, sagte Joachim: „Wir wollen die unbefleckten Töchter der Hebräer rufen, die mögen jede eine Fackel nehmen, und diese sollen brennend sein, auf daß sich das Kind nicht zurückwende und sein Herz nicht vom Tempel des Herrn weggelockt werde!“ Und er verfuhr in dieser Weise, bis sie hinauskamen zum Tempel des Herrn. Und der Priester empfing es, küßte und segnete es mit den Worten: „Der Herr hat deinen Namen groß gemacht unter allen Geschlechtern; an dir wird der Herr am Ende der Tage seine Erlösung für die Söhne Israels offenbaren!“ 3 Und er setzte es auf die dritte Stufe des Altars, und Gott, der Herr, legte Anmut auf das Kind, und es tanzte vor Freude mit seinen Füßchen, und das ganz Haus Israel gewann es lieb.
8,1 Und seine Eltern zogen hinab, verwundert und mit Lob und Preis für Gott, den Allmächtigen, darum daß sich das Kind nicht rückwärts gewandt hatte [zu ihnen]. Maria aber wurde im Tempel wie eine Taube gehegt und empfing Nahrung aus der Hand eines Engels.

Mit dem apokryphen Protoevangelium des Jakobus begann eine Tradition, die im syrisch-arabischen Raum seit dem 6. Jahrhundert auch durch Handschriften belegt ist.2 So konnte auch der Autor der dritten Sure darauf aufbauen. Der Aufenthalt Marias im Tempel und ihre wunderbare Versorgung dort sind auffallende Parallelen, auch wenn im Koran der sie versorgende Engel nicht erwähnt wird.

Aus jüdischen oder sonstigen Quellen ist über Jungfrauen, die in den Tempeldienst gestellt worden sind, nichts bekannt. Es muss davon ausgegangen werden, dass es eine derartige Einrichtung nicht gab.3 Hundert Jahre nach der Zerstörung des Tempels waren der Fantasie des Autors des apokryphen Protoevangeliums keine Grenzen mehr gesetzt.

Interessant ist, dass in Sure 3 im Anschluss an die Erwähnung der wunderbaren Versorgung Marias Zacharias um einen Sohn bittet. Unmittelbar darauf wird ihm die Geburt Yaḥyās (Johannes des Täufers) angekündigt.

Nach dem Lukasevangelium (1,36) empfing Elisabeth ihren Sohn Johannes etwa sechs Monate bevor Maria vom Engel Gabriel erfuhr, dass sie die Mutter des Erlösers werden sollte. Zu diesem Zeitpunkt war Maria in Nazaret (Lukas 1,26).

Aus dem Koran gewinnt man den Eindruck, dass Zacharias bemerkte, dass Maria (als Kind) von Allah wunderbar versorgt wird und dass er daraufhin um „gute Nachkommenschaft“ gebetet hat, die ihm in der Geburt von Johannes bald geschenkt wurde. Da müsste Maria noch ein Kind im Tempel gewesen sein und sich nicht als Verlobte Josefs im weit entfernten Nazaret aufgehalten haben. Aber geografische und historische Daten werden im Koran mitunter großzügig ignoriert. Der Autor des Korans hat, so scheint es, nicht immer den nötigen Durchblick gehabt.

In Sure 3 geht es in den Versen 38-41 um die Ankündigung der Geburt des Täufers und die als Zeichen dienende Stummheit Zacharias‘. Anschließend geht es wieder um Maria, die sich offensichtlich noch im Tempel befand.

42 Und als die Engel sagten: „O Maryam, Allah hat dich auserwählt und dich rein gemacht und dich auserwählt vor den Frauen der (anderen) Weltenbewohner! 43 O Maryam, sei deinem Herrn demütig ergeben, wirf dich nieder und verbeuge dich zusammen mit den sich Verbeugenden.“ (Sure 3,42-43)

Hier geht es noch nicht um die Ankündigung der Geburt Jesu. Diese erfolgt ab Vers 45. Maria war auch noch nicht in der Obhut von Josef. Darum geht es in Vers 44.

Maria wird im Tempel von den Engeln in ganz besonderer Weise angesprochen. Sie ist „auserwählt vor den Frauen der Weltenbewohner“. Das erinnert stark an die Worte Elisabeths an Maria:

Gesegnet bist du unter den Frauen und gesegnet ist die Frucht deines Leibes. (Lukas 1,42)

Oder auch an das Wort des Priesters aus dem Protoevangelium 7,2:

„Der Herr hat deinen Namen groß gemacht unter allen Geschlechtern […]“

Katholiken könnten in Sure 3,42 vielleicht sogar einen Hinweis auf die Erbsündelosigkeit Marias finden.

Jedenfalls bestätigen diese Verse, dass für den Autor des Korans Maria, die Mutter Jesu, – anders als Amina, die Mutter Mohammeds – eine ganz besondere Bedeutung hatte.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass der koranische Abschnitt über den Aufenthalt Marias im Tempel ohne jede historische Grundlage ist. Er lässt sich nur schwer oder überhaupt nicht mit den biblischen Texten vereinbaren. Der Autor dieser Verse war also mit den biblischen Texten nicht oder nur sehr mangelhaft vertraut, kannte aber die in der syrischen Kirche verbreiteten apokryphen Überlieferungen über Maria, die er als Quelle heranzog. Trotz all dieser Probleme zeigen diese Verse dennoch die hohe Bedeutung des Sohnes der Maria, der auch nach dem Koran ein Zeichen für die ganze Welt ist.

Und (auch) diejenige, die ihre Scham unter Schutz stellte. Da hauchten Wir ihr von Unserem Geist ein und machten sie und ihren Sohn zu einem Zeichen für die Weltenbewohner. (Sure 21,91)

Der Engel antwortete ihr: Heiliger Geist wird über dich kommen und Kraft des Höchsten wird dich überschatten. Deshalb wird auch das Kind heilig und Sohn Gottes genannt werden. (Lukas 1,35)


  1. Zitiert nach: Veronika Roth, Nicolai Sinai, Protevangelium des Jakobus 1:1 – 8:1 – TUK_422. In: Texte aus der Umwelt des Korans, hg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften durch Michael Marx, mit Beiträgen von Sebastian Bitsch, Vasiliki Chamourgiotaki, Emmanouela Grypeou, Dirk Hartwig, Nestor Kavvadas, David Kiltz, Yousef Kouriyhe, Mohammed Maraqten, Adrian Pirtea, Veronika Roth, Johanna Schubert und Nicolai Sinai. Betaversion: Stand 6.0.2023. 
  2. David Kiltz, Yousef Kouriyhe, Adrian Pirtea, Samuel Teber, Lebensgeschichte der Gottesmutter Maria – TUK_34. In: Texte aus der Umwelt des Korans, hg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften durch Michael Marx, mit Beiträgen von Sebastian Bitsch, Vasiliki Chamourgiotaki, Emmanouela Grypeou, Dirk Hartwig, Nestor Kavvadas, David Kiltz, Yousef Kouriyhe, Mohammed Maraqten, Adrian Pirtea, Veronika Roth, Johanna Schubert und Nicolai Sinai. Betaversion: Stand 6.0.2023. 
  3. Die in Exodus 38,8 erwähnten Frauen, die am Eingang des Offenbarungszeltes Dienst taten, verweisen ebenso wie die in 1 Samuel 2,22 genannten Frauen auf die Frühzeit Israels. Sie können nicht als Quelle für die Verhältnisse am Herodianischen Tempel dienen. 

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