Maria und das Los

Dies gehört zu den Nachrichten vom Verborgenen, das Wir dir (als Offenbarung) eingeben. Denn du warst nicht bei ihnen, als sie ihre Rohre warfen (, um durch das Los zu bestimmen), wer von ihnen Maryam betreuen sollte. Und du warst nicht bei ihnen, als sie miteinander stritten. (Sure 3,44)

Dieser Vers aus der dritten Sure bleibt ohne Hintergrundinformation rätselhaft. Einleitend wird betont, dass das, was „Wir“ (Allah?) dem Propheten (?) „eingeben“, etwas Verborgenes sei. Der Empfänger dieser Offenbarung war ja nicht dabei. Der eigentliche Inhalt wird aber nur am Rande gestreift. Es wird nur zweimal betont, dass der Angesprochene nicht dabei war. Man erfährt nur, dass es darum ging, dass durch das Werfen von Rohren bestimmt werden soll, wer Maria betreuen sollte und dass dabei gestritten wurde.

Mehr dazu erfährt man aus dem sogenannten Protoevangelium des Jakobus 8,2-9,11:

8:2 Als sie zwölf Jahre alt war, fand eine Beratung der Priester statt, die sprachen: „Siehe, Maria ist im Tempel des Herrn zwölf Jahre alt geworden, was sollen wir nun mit ihr tun, damit sie nicht den Tempel des Herrn [unseres Gottes] beflecke?“ Und sie [die Priester] sprachen zum Hohenpriester [zu ihm]: „Du stehst am Altar des Herrn, geh (ins Heiligtum) hinein und bete ihretwegen, und wir wollen dann das tun, was dir der Herr offenbaren wird.“ 3 Und der Hohepriester nahm das Amulett mit den zwölf Glöckchen und begab sich ins Allerheiligste und betete ihretwegen. Und siehe da, ein Engel des Herrn stand (plötzlich) vor ihm und sprach zu ihm: „Zacharias, Zacharias, gehe hinaus und versammle die Witwer des Volkes, [die sollen jeder einen Stab tragen] und welchem der Herr ein (Wunder-)Zeichen geben wird, dessen Weib soll sie sein!“ Und die Boten gingen aus und verbreiteten sich über die ganze Umgegend Judäas; die Posaune des Herrn erscholl, und alle liefen herzu.
9:1 Joseph aber warf die Axt weg und ging auch seinerseits hinaus, um ihnen zu begegnen. Und als sie versammelt waren, nahmen sie die Stäbe und gingen zum Hohenpriester. Der Priester nun nahm die Stäbe von ihnen und ging in den Tempel und betete. Nach der Beendigung des Gebets nahm er die Stäbe, trat (wieder) hinaus und gab sie ihnen; ein (Wunder-)Zeichen war indessen nicht an ihnen. Den letzten Stab bekam Joseph, und siehe, eine Taube kam aus dem Stab hervor und flog auf das Haupt Josephs. Da sprach der Priester zu Joseph: „Joseph, du hast durchs Los die Jungfrau des Herrn zugeteilt bekommen; nimm sie in deine Obhut!“

Nach diesem aus dem späten 2. Jahrhundert stammenden apokryphen Text wurde Josef durch das Los ermittelt, Maria in seine Obhut zu nehmen.

Der Autor war mit den jüdischen Gebräuchen nicht besonders gut vertraut. Nicht nur, dass das Aufziehen von Jungfrauen im Tempel aus jüdischen Quellen nicht bekannt ist. Er lässt sogar den Hohepriester zum Gebet ins Allerheiligste eintreten, was dem Hohepriester nur am Versöhnungstag, der alljährlich im Herbst gehalten wurde, erlaubt war. Es wird auch vorausgesetzt, dass Zacharias der Hohepriester gewesen sei, was unmöglich ist, da er laut Lukas 1,5 zur Abteilung des Abija gehörte. Der Hohepriester um die Zeit der Geburt Jesu war Simon ben Boethos.

Ganz ähnlich wird die Geschichte auch in der syrischen „Lebensgeschichte der Gottesmutter Maria“ erzählt. Dieses Werk stammt aus dem 5. Jahrhundert.

Nur wenn man diese apokryphe Legende kennt, wird auch die koranische Stelle verständlicher. Das bedeutet nicht, dass der koranische Autor diesen Text schriftlich vorliegen hatte. Aber er war mit dieser Überlieferung, die im syrisch-arabischen Raum seit dem 5. Jahrhundert bekannt war, vertraut und konnte das auch bei seinen Lesern voraussetzen. Sonst hätte er aus Gründen der Verständlichkeit mehr ins Detail gehen müssen.

Dieses Beispiel zeigt wieder die Abhängigkeit des Korans von legendhaften apokryphen Überlieferungen, die sich in der Bibel nicht finden, sondern menschlicher Fantasie entsprungen sind. Und das soll das ewige, unabänderliche, vollkommene Wort Gottes sein?

Vielleicht hatten die kritischen Zeitgenossen Mohammeds doch nicht so unrecht in ihrem Urteil:

Und wenn zu ihnen gesagt wird: „Was hat euer Herr (als Offenbarung) herabgesandt?“, sagen sie: „(Es sind) Fabeln der Früheren.“
(Sure 16,24)

 


  1. Zitiert nach: Wilhelm Schneemelcher (Hg.), Neutestamentliche Apokryphen, Bd. 1: Evangelien, Tübingen 1990, S. 342 bei: Veronika Roth, Nicolai Sinai, Manolis Ulbricht, Protevangelium des Jakobus 8:2 – 9:3 – TUK_498. In: Texte aus der Umwelt des Korans, hg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften durch Michael Marx, mit Beiträgen von Sebastian Bitsch, Vasiliki Chamourgiotaki, Emmanouela Grypeou, Dirk Hartwig, Nestor Kavvadas, David Kiltz, Yousef Kouriyhe, Mohammed Maraqten, Adrian Pirtea, Veronika Roth, Johanna Schubert und Nicolai Sinai. Betaversion: Stand 2.0.2023. 

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