„Er häuft die Toten …“

Er hält Gericht unter den Völkern, er häuft die Toten, die Häupter zerschmettert er weithin auf Erden. (Psalm 110,6)

In diesem Vers aus dem messianischen Psalm 110 geht es um Gottes Gericht an den Königen, den Herrschern dieser Welt, und an den Völkern.

Der mittlere Teil des Verses wird unterschiedlich übersetzt. Oben findet sich das Zitat aus der Einheitsübersetzung 2016.

Luther 2017: Er wird richten unter den Völkern, aufhäufen Erschlagene, wird Häupter zerschmettern weithin auf der Erde.

Zürcher Bibel 2007: Er hält Gericht unter den Völkern, es häufen sich die Leichen, er zerschmettert Häupter weithin auf Erden.

Schlachter 2000: Er wird Gericht halten unter den Heiden, es wird viele Leichen geben; er zerschmettert das Haupt über ein großes Land.

Menge: Gericht wird er unter den Völkern halten, füllt alles mit Leichen an, zerschmettert ein Haupt auf weitem Gefilde.

Elberfelder 2006: Er wird richten unter den Nationen, er füllt ⟨Täler⟩ mit Leichen. Das Haupt über ein großes Land zerschmettert er.

In der Elberfelder Bibel wird dazu angemerkt:

So ergänzt nach alten Üs. Mas. T. hat nur: er füllt Leichen. Das Wort für »Täler« bildet mit dem Wort für »Leichen« ein Wortspiel (gewijjot geajot), kann aber dieses Gleichklangs wegen ausgefallen sein.

Im Hebräischen steht: מָלֵ֣א גְוִיֹּ֑ות / mālê′ ḡəwîjjōṯ. Die wortwörtliche Übersetzung „Er füllt Leichen (oder Körper)“ ergibt keinen rechten Sinn. Deswegen wird in einigen Übersetzungen „füllen“ im Sinne von „(auf)häufen“ verstanden. Das liegt durchaus im Bereich des Möglichen.

Menge und Elberfelder bleiben bei der Bedeutung „füllen“, wobei allerdings nicht die Leichen, sondern „alles“ oder „Täler“ mit Leichen gefüllt werden. Die Elberfelder Übersetzung folgt hiebei dem Ergänzungsvorschlag der Biblia Hebraica Stuttartensia.

„Täler“ – allerdings keine Leichen – finden sich auch in der Vulgata: implebit valles – er wird die Täler füllen. Es sieht so aus, dass hier das Wort für „Leichen“ aufgrund der Ähnlichkeit als „Täler“ aufgefasst wird.

Nach den meisten Übersetzungen ist es Gott, der aktiv ist und die Leichen anhäuft oder die Täler damit füllt. Im Hebräischen steht das Verb in der 3. Person maskulin Singular.

Zürcher und Schlachter schreiben die Anhäufung der Leichen nicht direkt Gott zu und entfernen sich hier etwas von der hebräischen Grammatik. Aber auch in diesem Fall ist es Gott, der richtet. Die Anhäufung der Leichen ist auch hier eine Folge des Gerichtes Gottes.

Wir müssen uns vor Augen halten, dass es sich in den Psalmen noch nicht um die vollkommene Offenbarung Gottes handelt. Das Ziel des Gerichtes Gottes besteht nicht darin, möglichst viele Leichen aufzuhäufen, sondern Gerechtigkeit zu schaffen. Gerechtigkeit kann es ohne die Bestrafung der Übeltäter nicht geben. Doch besteht Gottes Gericht nicht in einem riesigen Massaker. Sondern jeder wird das empfangen, was seinem Tun entspricht.

Denn wir alle müssen vor dem Richterstuhl Christi offenbar werden, damit jeder seinen Lohn empfängt für das Gute oder Böse, das er im irdischen Leben getan hat. (2 Korinther 5,10)

Was im Psalm gesagt werden will, ist, dass Gott richten wird.

Martin Buber gibt Psalm 110,6 anders als alle anderen Übersetzungen wieder:

Aburteilen unter den Erdstämmen wird er den, der Leichen gehäuft hat, er zerschmettert das Haupt über großes Land.

Er interpretiert den zweiten Teil des Verses nicht als eigenen Satz, sondern als eine Beschreibung dessen, der abgeurteilt wird. Das Anhäufen der Leichen ist dann nicht das richtende Werk Gottes, sondern das Tun des von Gott gerichteten Rebellen.

Wenn man mālê′ nicht als 3. Person Singular, sondern als Partizip auffasst, das im Hebräischen bei diesem Verb dieselbe Form hat, ist die Übersetzung Bubers problemlos möglich, wobei ich meine bescheidenen Kenntnisse auf keinen Fall mit denen Bubers vergleichen möchte.

Obwohl Buber meines Wissens der Einzige ist, der diesen Vers so übersetzt hat, halte ich es für wahrscheinlich, dass er mit seinem Verständnis recht hat. Es ginge dann nicht um eine Riesenmenge an Erschlagenen, sondern um eine nähere Beschreibung der Verbrechen des Widersachers. Auch im Schlussteil des Verses steht das Wort „Haupt“ im Singular, nicht im Plural, wie man aus einigen Übersetzungen vermuten könnte. Es könnte hier an einen besonderen Widersacher Gottes und seines Gesalbten gedacht sein. Nicht Gott ist es, der die Leichen anhäuft, sondern der Feind Gottes, der deswegen von seinem Schöpfer zur Rechenschaft gezogen wird.

Es ist klar, dass bei poetischen Texten manchmal eine Offenheit besteht, die mehrere Erklärungen erlaubt. Die Übersetzung von Buber liefert zumindest Stoff zum Nachdenken.

Eines ist klar: Gott ist der Richter. Auch alle Machthaber dieser Welt werden vor ihm zur Rechenschaft gezogen werden. Sein Gesalbter ist als Priester „nach der Ordnung Melchisedeks“ gekommen, um uns durch sein Opfer mit Gott zu versöhnen. Alleine durch ihn ist es möglich, im Gericht zu bestehen.

Darum kann er auch die, die durch ihn vor Gott hintreten, für immer retten; denn er lebt allezeit, um für sie einzutreten. (Hebräer 7,25)

Kommentare sind geschlossen.

Bloggen auf WordPress.com.

Nach oben ↑