Der kurze Judasbrief gehört zu den weniger bekannten Schriften des Neuen Testaments. Er stammt natürlich nicht von Judas Iskariot, dem Verräter Jesu. Der Autor stellt sich als „Judas, Knecht Jesu Christi, Bruder des Jakobus“ vor. Mit Jakobus ist mit größter Wahrscheinlichkeit Jakobus, der Bruder des Herrn, gemeint. Dieser Jakobus hatte nach dem Weggang der Apostel aus Jerusalem eine wichtige Position in der dortigen Gemeinde. Er ist auch der Autor des Jakobusbriefes. In Matthäus 13,55 und Markus 6,3 werden Jakobus und Judas als Brüder Jesu genannt.
In der neueren Theologie teilt der Judasbrief das Schicksal anderer Briefe, welche vielfach als pseudepigraphisches Schreiben betrachtet werden. Das heißt, es wird eine falsche Autorenangabe angenommen. Jemand anderer habe später im Namen des Judas dieses kurze Schreiben verfasst. Bevor ich mich mit den Argumenten hierfür befasse, sei auf den Artikel über Pseudepigraphie im Neuen Testament hingewiesen, wo vor allem am Beispiel der Pastoralbriefe die Problematik falscher Autorenangaben behandelt wird.
1 Argumente gegen Judas als Verfasser
Ich entnehme die Argumente dem Standardwerk Udo Schnelle: Einleitung in das Neue Testament, 9., durchgesehene Auflage, Göttingen 2017, S. 494-495:
Seinem Selbstanspruch nach will der Judasbrief vom Herrenbruder Judas geschrieben worden sein, dies signalisiert deutlich die Inanspruchnahme des Herrenbruders Jakobus in Jud 1. 1 Kor 9,5 bezeugt eine Missionstätigkeit der Herrenbrüder, und Jud könnte ein Zeugnis dieses Wirkens sein. Zudem lässt die judenchristliche Denkwelt des Jud eine Zuschreibung an den Bruder Jesu als möglich erscheinen. Schließlich: Warum sollte ein später Autor in so vager Form auf den Namen Judas zurückgegriffen haben? Gegen eine Verfasserschaft des Herrenbruders Judas sprechen jedoch folgende Argumente: a) Warum bezeichnet sich der Autor nicht direkt als Bruder Jesu, sondern als Bruder des Jakobus? b) Der Begriff ἀδελφός / adelphós ist mehrdeutig, oft wird er im Neuen Testament im Sinn von ‚Mitarbeiter‘ gebraucht (vgl. z. B. Kol 1,1). c) Der Traditionsbegriff in Jud 3.20, die Auseinandersetzung zwischen Orthodoxie und Häresie und der Topos des Auftretens von Irrlehrern in der Endzeit (vgl. 1 Tim 4,1-3; 2 Tim 4,3f; 1 Joh 2,18; 4,1-3; Did 16,3) weisen in die nachapostolische Zeit. d) Der Verfasser ordnet sich mit Jud 17f selbst in die späte Zeit des Urchristentums ein, wo auf die Epoche der Apostel als der glaubensgründenden Zeit zurückgeblickt wird.
Sehr wahrscheinlich ist der Jud ein pseudepigraphisches Schreiben, ein unbekannter Judenchrist nimmt die Autorität des Herrenbruders Judas in einer aktuellen Kontroverse in Anspruch.
2 Was ist von diesen Argumenten zu halten?
Eingangs erwähnt Schnelle einige Argumente, die für den Herrenbruder Judas als Verfasser des Briefes sprechen könnten:
- 1 Korinther 9,5 bezeugt eine Missionstätigkeit der Herrenbrüder und der Judasbrief könnte ein Zeugnis seines Wirkens sein.
Das ist freilich noch kein Argument für die Echtheit des Briefes, erleichtert aber die Annahme, dass dieser tatsächlich von Judas geschrieben wurde. - Die judenchristliche Denkwelt des Judasbriefes lässt eine Zuschreibung an den Bruder Jesu als möglich erscheinen.
- Warum sollte ein später Autor auf den Namen des Judas zurückgegriffen haben?
Das ist ein wichtiger Gedanke. Judas, der Herrenbruder, gehörte nicht zu den Aposteln und ist auch sonst nicht besonders hervorgetreten. Die Frage, warum ein späterer Autor ausgerechnet im Namen von Judas geschrieben haben sollte, ist mehr als berechtigt. In der Tat ist mir keine apokryphe Schrift bekannt, die sich auf Judas, den Bruder des Herrn, beruft.
Doch nun zu Schnelles Gegenargumenten:
2.1 Warum Bruder des Jakobus und nicht Bruder Jesu?
Die Frage, warum sich der Autor nicht als Bruder Jesu, sondern nur als Bruder des Jakobus bezeichnet, würde sich bei einem späteren Fälscher noch stärker stellen. Gerade jemand, der die Autorität des Judas für sich in Anspruch nehmen wollte, hätte sehr starke Interesse daran gehabt, die besondere Nähe von Judas zu Jesus herauszustreichen und so seinen Worten noch mehr Gewicht zu verleihen.
Judas hingegen konnte in christlicher Demut bemüht sein, nicht zu sehr seine Verwandtschaft zu Jesus zu betonen. Es war völlig ausreichend, sich Bruder des Jakobus zu nennen.
2.2 Die Mehrdeutigkeit des Begriffs adelphós (Bruder)
Dieses Argument erschließt sich mir nicht. Es ist richtig, dass das Wort „Bruder“ im Neuen Testament unterschiedliche Bedeutung haben kann. Am häufigsten wird es im Sinne „Bruder im Glauben“ verwendet. Die Christen waren miteinander durch die Gotteskindschaft in tiefer brüderlicher Liebe verbunden. In diesem Sinne war jeder Christ ein Bruder des Jakobus. Gewiss wollte der Autor auch mehr sagen, als dass er ein Mitarbeiter des Jakobus war. In Judas 1 ist klar, dass der Autor sich als leiblicher Verwandter des Jakobus ausgegeben hat. Das trifft sowohl für den echten Judas zu, als auch für einen eventuellen Fälscher, der sich als der Herrenbruder Judas ausgegeben hätte.
2.3 Manche Inhalte weisen in die nachapostolische Zeit.
2.3.1 Der Traditionsbegriff der Verse 3 und 20
Geliebte, da es mich sehr drängte, euch über unsere gemeinsame Rettung zu schreiben, hielt ich es für notwendig, euch mit diesem Brief zu ermahnen: Kämpft für den Glauben, der den Heiligen ein für alle Mal übergeben ist! (Judas 3)
20 Ihr aber, Geliebte, baut weiter auf eurem hochheiligen Glauben auf, betet im Heiligen Geist, 21 bewahrt euch in der Liebe Gottes und wartet auf das Erbarmen Jesu Christi, unseres Herrn, zum ewigen Leben! (Judas 20-21)
Ich nehme an, dass Schnelle an die Formulierungen, die den Glauben betreffen, denkt. Der Glaube ist den Heiligen ein für alle Mal übergeben, er ist hocheilig und man soll auf ihm aufbauen. Judas betont die Inhalte des Glaubens, an denen nicht gerüttelt werden darf. Auf diesem Glauben soll aufgebaut werden, es darf aber nichts Neues dazukommen, da der Glaube ein für alle Mal gegeben wurde.
Galt das erst in der nachapostolischen Zeit?
Hört sich Römer 6,17 nicht ganz ähnlich an?
Gott aber sei Dank; denn ihr wart Sklaven der Sünde, seid jedoch von Herzen der Gestalt der Lehre gehorsam geworden, an die ihr übergeben wurdet.
Die „Gestalt der Lehre“ weist doch auch auf einen sehr konkreten Inhalt der Lehre hin, dem die Gläubigen übergeben wurden, an dem sie festhalten sollten.
Bereits von der frühesten Urgemeinde heißt es:
Sie hielten an der Lehre der Apostel fest und an der Gemeinschaft, am Brechen des Brotes und an den Gebeten. (Apostelgeschichte 2,42)
Die von den Aposteln gelehrten Inhalte waren die Inhalte des Glaubens der ersten Jünger. Daran hielten sie fest. Auch wenn es stimmt, dass manche Fragen des Glaubens und vor allem der Lebenspraxis im Laufe der Zeit noch klarer werden mussten, war der Grund, an dem die Gemeinde festhielt, bereits gelegt. Auch zu einer Zeit, als die Apostel noch lebten, aber nicht in der Gemeinde (oder den Gemeinden), an die Judas schrieb tätig waren, konnte Judas sie daran erinnern, an dem ihnen ein für alle Mal übergegebenen Glauben festzuhalten und dafür zu kämpfen.
Im Grunde ist es dasselbe, was Paulus und Barnabas auf ihrer ersten Missionsreise taten:
Sie stärkten die Seelen der Jünger und ermahnten sie, treu am Glauben festzuhalten. (Apostelgeschichte 14,22)
2.3.2 Auseinandersetzung mit Häresie, Topos der Irrlehrer in der Endzeit
Sobald es in der Verkündigung um Wahrheit geht, muss damit gerechnet werden, dass es Menschen gibt, die sich dieser Wahrheit entgegenstellen. In der frühesten Zeit der Kirche, als diese noch ganz im Judentum verankert war und mit Ablehnung von Seiten der jüdischen Obrigkeit konfrontiert war, war diese Gefahr noch kleiner. Aber als sich immer mehr Heiden dem Christentum zuwandten und die Frage akut wurde, ob diese nichtjüdischen Christen auch das jüdische Ritualgesetz halten sollten, gab es schon „falsche Brüder“, die die Entscheidung der Apostel und Ältesten nicht akzeptieren wollten.
So hat Paulus im Galaterbrief – vielleicht seinem ersten erhaltenen Brief – vor Leuten gewarnt, „die euch verwirren und die das Evangelium Christi verfälschen wollen.“ (Gal 1,7) Auch die „Überapostel“ von 2 Korinther 11 dürften vor diesem Hintergrund zu verstehen sein. Probleme mit falschen Lehrern und Lügenaposteln (2 Korinther 11,13) gab es leider nicht erst in der nachapostolischen Zeit. Gewiss ging es im Judasbrief um andere Irrlehrer als die Judaisten, mit denen sich Paulus in seinen Briefen an die Galater und die Korinther auseinandersetzen musste. Doch konnte man auch schon in apostolischer Zeit auf verschiedene Weisen von der Wahrheit abweichen. Überdies ist es gar nicht so einfach, die Lehrinhalte der im Judasbrief bekämpften Gegner auszumachen.
Beim „Topos des Auftretens von Irrlehrern in der Endzeit“ sind wohl die Verse 17-19 gemeint:
17 Ihr aber, Geliebte, gedenkt der Worte, die von den Aposteln Jesu Christi, unseres Herrn, im Voraus verkündet worden sind, 18 als sie euch sagten: Am Ende der Zeit wird es Spötter geben, die sich von ihren gottlosen Begierden leiten lassen. 19 Diese sind es, die Spaltungen verursachen, irdisch gesinnte Menschen, die den Geist nicht besitzen.
Als Vergleichsstellen weist Schnelle auf 1 Timotheus 4,1-3; 2 Timotheus 4,3f; 1 Johannes 2,18; 4,1-3 und Didache 16,3 hin. Als Belege für eine nachapostolische Zeit können diese Stellen nur herangeführt werden, wenn klar ist, dass diese Stellen nachapostolisch sind. Wenn man davon ausgeht, dass die Pastoralbriefe nachapostolische Fälschungen sind und auch die Johannesbriefe und die Didache aus nachapostolischer Zeit stammen, könnte man diese Stellen als Argument verwenden. Aber das ist keineswegs sicher. Die neuere Theologie hat ein System entwickelt, wo sich die verschiedenen Spätdatierungen gegenseitig stützen, wo man aber die Frage stellen muss, wo der feste Grund für diese Argumente ist. In Bezug auf die Pastoralbriefe gibt es kein durchschlagendes Argument für die Spätdatierung. Die Johannesbriefe könnten, auch wenn man sie dem Apostel Johannes zuschreibt, noch bis gegen Ende des 1. Jahrhunderts geschrieben worden sein. Doch gibt es Theologen, die gerade diese Briefe sehr früh datieren. Klaus Berger datiert 1 Johannes in das Jahr 55.1 Auch für die üblicherweise ins 2. Jahrhundert datierte Didache gibt es Vorschläge zu einer Frühdatierung. J. A. T. Robinson nimmt eine Entstehungszeit zwischen 40 und 60 an.2 Aber auch im Fall, dass die Didache erst im 2. Jahrhundert geschrieben worden wäre, reicht es zu sehen, dass es ähnliche Formulierungen schon in der apostolischen Zeit gab. Mit der „letzten Zeit“ oder dem „Ende der Zeit“ muss nicht gemeint sein, dass erwartet wurde, dass die Wiederkunft Jesu unmittelbar bevorstand. Es ist wohl ein Hinweis auf die spätapostolische Zeit, wo bereits vermehrt mit dem Auftreten falscher Lehrer gerechnet werden musste. Aber Paulus hat schon bei seinem letzten Treffen mit den Ältesten von Ephesus diese gewarnt:
29 Ich weiß: Nach meinem Weggang werden reißende Wölfe bei euch eindringen und die Herde nicht schonen. 30 Und selbst aus eurer Mitte werden Männer auftreten, die mit ihren falschen Reden die Jünger auf ihre Seite ziehen. (Apostelgeschichte 20,29-30)
Mit dem „Weggang“ war die Abreise, nicht der Tod gemeint.
Im Römerbrief, der wenige Monate vor diesem Treffen geschrieben wurde, schreibt Paulus:
17 Ich ermahne euch aber, Brüder, auf die Acht zu geben, die im Widerspruch zu der Lehre, die ihr gelernt habt, Spaltung und Verwirrung verursachen: Haltet euch von ihnen fern! 18 Denn diese Leute dienen nicht Christus, unserem Herrn, sondern ihrem Bauch und sie verführen durch ihre schönen und gewandten Reden das Herz der Arglosen. (Römer 16,17-18)
Im Jahre 57 waren derartige Warnungen angebracht. Warum sollte der Judasbrief nicht auch etwa um diese Zeit oder etwas später entstanden sein?
2.4 Der Autor blickt auf die Epoche der Apostel zurück.
Auch bei diesem Punkt geht es um Judas 17-18:
17 Ihr aber, Geliebte, gedenkt der Worte, die von den Aposteln Jesu Christi, unseres Herrn, im Voraus verkündet worden sind, 18 als sie euch sagten: Am Ende der Zeit wird es Spötter geben, die sich von ihren gottlosen Begierden leiten lassen.
Diese Worte besagen nicht zwingend, dass die Epoche der Apostel bereits vorbei ist. Sie besagen nur, dass die Leser des Briefes sich an die Worte der Apostel erinnern sollen, die sie von ihnen gehört hatten, als sie bei ihnen waren. Aus diesen Versen können wir lernen, dass die Warnung vor Verführern ein Bestandteil der apostolischen Verkündigung war. Nachdem die Apostel den Bereich der Empfängergemeinde(n) verlassen hatten, haben sich Verführer eingeschlichen (Vers 4), vor denen sie Judas in seinem Brief warnte. Als die Apostel nicht mehr da waren, machten sich die Verführer ans Werk, was sie während ihrer Anwesenheit nicht gewagt hätten.
2.5 Weitere Gedanken
Im Judasbrief fällt der unbefangene Umgang mit apokryphen Schriften auf. In 14-15 wird das Henochbuch (1,9) zitiert, auch Vers 6 kann auf das Henochbuch anspielen. Vers 9 bezieht sich auf apokryphe Überlieferungen über Mose. Judas, der, wenn auch kein Apostel doch eine anerkannte Autorität war, konnte solche Schriften verwenden, ohne in Zweifel gezogen zu werden. Ein späterer Fälscher hätte das wahrscheinlich nicht gewagt, weil er damit rechnen musste, dass sein Werk aufgrund derartiger Zitate hinterfragt werden könnte.
Zu bemerken ist auch, dass Schnelle beim Judasbrief nicht mit der Sprache des Briefes argumentiert. Die Jerusalemer Bibel beschreibt sein Griechisch als „zwar korrekt, aber von Semitismen geprägt“.3 Das würde sehr gut zum Herrenbruder Judas passen. Auch die Hapaxlegomena (Einmalwörter), die bei anderen Briefen als Argument angeführt werden, bewegen sich beim Judasbrief im üblichen Rahmen (13 von einem verwendeten Vokabular von 227 Wörtern, d. h. 5,73 %) und stellen kein Problem dar.
Die Annahme, dass der 2. Petrusbrief eine Fälschung ist, die den Judasbrief verwendet hat, würde voraussetzen, dass der Judasbrief schon sehr früh als echt akzeptiert wurde.
3 Schlussfolgerung
Die für die Annahme, dass der Judasbrief eine später verfasste Fälschung sei, vorgebrachten Argumente sind nicht stark genug, um die Autorschaft des Herrenbruders Jakobus zu widerlegen. Somit ist dem Selbstanspruch des Briefes Glauben zu schenken. Der Brief wurde von Judas, dem Verwandten des Herrn, verfasst.
24 Dem einen Gott aber, der die Macht hat, euch vor jedem Fehltritt zu bewahren und euch untadelig und voll Jubel vor seine Herrlichkeit treten zu lassen, 25 ihm, der uns durch Jesus Christus, unseren Herrn, rettet, gebührt die Herrlichkeit, Hoheit, Macht und Gewalt vor aller Zeit und jetzt und für alle Zeiten. Amen. (Judas 24-25)
- Das Neue Testament und frühchristliche Schriften. Übersetzt und kommentiert von Klaus Berger und Christiane Nord, 2. Auflage 2005, S. 63. ↩
- John A.T. Robinson, Redating the New Testament, 1976, S. 329. ↩
- Die Bibel. Deutsche Ausgabe mit den Erläuterungen der Jerusalemer Bibel, 17. Auflage 1983, S. 1743. ↩