Zur „Pseudepigraphie“ im Neuen Testament

Etliche Briefe des Neuen Testaments werden von der überwiegenden Mehrheit der modernen Theologen als „pseudepigraphisch“ verstanden, d. h., dass sie mit einer falschen Verfasserangabe erschienen seien. Zusätzlich zur Prüfung der Argumente im Hinblick auf die einzelnen pseudepigraphisch genannten Briefe, wie etwa die Pastoralbriefe, möchte ich mich hier mit Grundsatzfragen dazu beschäftigen. Ich beziehe mich dazu auf das Buch von Udo Schnelle: Einleitung in das Neue Testament, 9., durchgesehene Auflage, Göttingen 2017.

1 Aus der Argumentation von Schnelle

Auf den Seiten 355-360 seines Buches schreibt Schnelle als Einleitung zu den „deuteropaulinischen“ Briefen einiges zum Thema Pseudepigraphie. Pseudepigraphie (von griechisch ψευδής / pseudés „lügenhaft“ und ἐπιγραφή / epigraphé „Inschrift“) meint eine Schrift mit einer falschen Verfasserangabe. Er verweist auf heidnische und jüdische Beispiele für dieses Phänomen und sieht auch die neutestamentliche Pseudepigraphie in diesem Zusammenhang.

In einer Phase der Neuorientierung und der damit verbundenen notwendigen Neuinterpretation der überlieferten Traditionen war für viele Gruppen innerhalb des Urchristentums offenbar die Pseudepigraphie das wirksamste Mittel, um auf die Entwicklung Einfluss zu nehmen. Weil es keine Persönlichkeiten mehr gab, die eine gesamtkirchliche Autorität besaßen, griffen die Verfasser pseudepigraphischer Schreiben auf die Autoritäten der Vergangenheit zurück, um ihren jeweiligen Zielen in der sich wandelnden kirchengeschichtlichen Situation einen adäquaten Ausdruck zu verleihen. […] (Schnelle, Seite 358)

Die ntl. Pseudepigraphie war somit in eine ganz bestimmte zeitgeschichtliche Situation eingebunden und muss als gelungener Versuch der Bewältigung zentraler Probleme der dritten urchristlichen Generation gesehen werden. Das Ziel der ntl. Pseudepigraphie bestand nicht nur darin, die Kontinuität der apostolischen Tradition in der Zeit nach dem Tod der Apostel sicherzustellen. Vielmehr sollte vor allem die Autorität der Apostel in der Gegenwart neu zur Sprache gebracht werden. […] (Schnelle, Seite 359)

Im Einzelnen bedienten sich die Verfasser der Pseudepigraphen sehr verschiedener Mittel. Während z. B. der Hebr in Kap. 13,23 nur andeutungsweise zu erkennen gibt, dass er von Paulus geschrieben sein will, bieten die Pastoralbriefe eine vollständige Paulus-Fiktion. So werden die Briefeingänge und Briefschlüsse dem paulinischen Stil mit ihren Adressenangaben, Grüßen, Namensnennungen und persönlichen Mitteilungen nachgeahmt (vgl. 1 Tim 1,1f; 6,21; 2 Tim 1,1-3; 4,19-22; Tit 1,1-4; 3,12-15). Darüber hinaus schildert der Verfasser bis ins Detail hinein die jeweilige Lebenssituation des Paulus (vgl. 1 Tim 1,20; 2 Tim 4,13), und er gibt sogar Gedanken des Apostels angesichts des bevorstehenden Todes wieder (vgl. 2 Tim 4,6-8.17f). Die Elemente der stilistischen Imitation, der fiktiven Situationsschilderung durch chronologische Angaben oder der Schilderung historischer Umstände und die Darstellung der jeweiligen persönlichen Situation der in Anspruch genommenen Autorität gehören in verschiedener Intensität zu den Mitteln ntl. Pseudepigraphie. […] Dabei bedingen sich die vom jeweiligen Verfasser gewählten Stilmittel und die Situation, in die hinein das pseudepigraphische Schreiben wirken soll. Wenn z. B. in 1 Tim 5,23 Paulus dem Timotheus rät, wegen seiner Gesundheit auch etwas Wein zu trinken, dann richtet sich dieser persönliche Ratschlag auch gegen die rigorosen asketischen Bestrebungen (vgl. auch Kol 2,16!), die der Briefschreiber in 1 Tim 4,3-9 bekämpft. (Schnelle, Seite 359)

Eine theologische Beurteilung darf nicht von den moralischen Kategorien der Fälschung oder des Betrugs ausgehen, sondern sie muss den inneren Zusammenhang zwischen der zeitgeschichtlichen Situation und dem Phänomen der ntl. Pseudepigraphie bedenken. Die literarische Form der Pseudepigraphie war im letzten Drittel des ersten christlichen Jahrhunderts das wirksamste Mittel, um die neu aufgebrochenen Probleme aus der Sicht der Verfasser der Pseudepigraphen im Sinn der von ihnen jeweils in Anspruch genommenen Autoritäten zu lösen. Die moralische Kategorie der Fälschung ist daher ungeeignet, die Zielsetzung der Pseudepigraphie zu erfassen. Sachgemäßer ist von ‚entliehenen Verfasserangaben‘ zu sprechen, bei denen die apostolische Autorität als Bürge für die Gültigkeit des Besagten auftritt. Die ntl. Pseudepigraphie muss als der theologische legitime und ekklesiologisch notwendige Versuch angesehen werden, die apostolische Tradition in einer sich verändernden Situation zu bewahren und zugleich notwendige Antworten auf neue Situationen und Fragen zu geben. Dabei ist die gesamtkirchliche Perspektive für die pseudepigraphischen Schriften charakteristisch, sie entstanden aus ökumenischer Verantwortung. (Schnelle, Seite 360)

Interessant zu lesen ist auch Fußnote 17 auf Seite 360:

Völlig anders mit polemischer Diktion M. Frenschkowski, Pseudepigraphie und Paulusschule, 251: „Es bleibt dabei, dass Pseudepigraphie eine bewusste und planmäßig durchgeführte Täuschung ist, welche – wenn sie erkannt worden wäre – damalige Leser im allgemeinen ebenso vor den Kopf gestoßen hätte wie heutige. Nur die Arglosigkeit und Naivität christlicher Leser hat meist ihre Erkenntnis verhindert.“ Hier wird nicht nur die historische und theologische Legitimität von Pseudepigraphie innerhalb der Selbstformierungsprozesse des frühen Christentums geleugnet, sondern die angebliche Naivität des frühen Christentums gegen die angeblich kritische Intellektualität heutiger Exegeten ausgespielt.

2 Kritische Gedanken dazu

  • Der Autor geht davon aus, dass die neutestamentliche Pseudepigraphie ein Faktum ist, und sucht eine möglichst „schöne“ theologische Erklärung dafür. Am Beispiel der Pastoralbriefe habe ich versucht zu zeigen, dass die von ihm genannten Argumente nicht stichhaltig sind. Der Inhalt der Pastoralbriefe gibt keinen wirklichen Grund zur Annahme, sie seien nicht von Paulus geschrieben worden. Darum erübrigt sich die Suche nach „schönen“ theologischen Rechtfertigungen für Lüge.
  • Warum sollte es nach dem Tod der Apostel keine Persönlichkeiten mehr gegeben haben, die eine allgemein anerkannte Autorität besaßen? Aus den „echten“ Paulusbriefen wissen wir, dass Paulus eine Reihe verlässlicher Mitarbeiter hatte, die wohl zu einem großen Teil jünger als Paulus waren. Zumindest Timotheus, den Paulus sein Kind nannte, dürfte um einiges jünger als der Apostel gewesen sein und hat Paulus vermutlich um Jahrzehnte überlebt. Timotheus oder Titus hätten die Autorität besessen, Briefe im eigenen Namen zu schreiben. Sie hätten damit zwar nicht Heilige Schrift geschrieben, hätten aber für die konkrete Situation zumindest die notwendige Autorität gehabt, die z. B. der 1. Klemensbrief für die Gemeinde in Korinth hatte. Menschen, die auf Paulus gehört haben, haben auch auf Timotheus oder andere seiner Mitarbeiter gehört. Überdies ging es in den Pastoralbriefen ohnehin nicht um „gesamtkirchliche“ Probleme, sondern wie in den meisten anderen Paulusbriefen um spezifische Probleme in konkreten Gemeinden, wie in Ephesus oder auf der Insel Kreta.
  • Wenn ein Autor sich die Mühe macht, historische Situationen zu konstruieren, Grußlisten zu erfinden, dann muss davon ausgegangen werden, dass er nicht wollte, dass die Leser bemerken, dass hier jemand eine ‚entliehene Verfasserangabe‘ verwendet. Die Kritik von Frenschkowski ist berechtigt, wenngleich er mit der Annahme unrecht hat, dass es neutestamentliche Pseudepigraphien gibt.
  • Es gibt keinen einzigen Beleg dafür, dass in der frühen Kirche Lüge in irgendeiner Situation als gerechtfertigt gesehen wurde.
  • In den Pastoralbriefen wird wiederholt die Lüge verurteilt bzw. der Wert der Wahrheit betont.
    […] Unzüchtige, Knabenschänder, Menschenhändler, für Leute, die lügen und Meineide schwören und all das tun, was gegen die gesunde Lehre verstößt, […] (1 Timotheus 1,10)
    […] als dessen Verkünder und Apostel ich eingesetzt wurde – ich sage die Wahrheit und lüge nicht – , als Lehrer der Völker im Glauben und in der Wahrheit.  (1 Timotheus 2,7)
    Falls ich aber länger ausbleibe, sollst du wissen, wie man sich im Haus Gottes verhalten muss, welches die Kirche des lebendigen Gottes ist, Säule und Fundament der Wahrheit. (1 Timotheus 3,15)
    […] getäuscht von heuchlerischen Lügnern, deren Gewissen gebrandmarkt ist. (1 Timotheus 4,2)
    Bemühe dich darum, dich vor Gott zu bewähren als ein Arbeiter, der sich nicht zu schämen braucht, der das Wort der Wahrheit geradeheraus verkündet! (2 Timotheus 2,15)
    […] in der Hoffnung auf das ewige Leben, das Gott, der nicht lügt, schon vor ewigen Zeiten verheißen hat. (Titus 1,2)
    Wenn der Autor dieser Briefe selbst ein Lügner wäre, würde er sich moralisch disqualifizieren.
  • In 2 Thessalonicher 2,2 wird ausdrücklich vor gefälschten Briefen gewarnt. Das zeigt einerseits, dass ‚entliehene Verfasserangaben‘ nicht gutgeheißen wurden, andererseits, dass der Autor dieses Briefes, wäre er pseudepigraphisch, ein besonders frecher Mensch gewesen sein musste. Dieser Brief könnte unmöglich Heilige Schrift sein, wäre er nicht von Paulus.
  • Tertullian weist um 200 n. Chr. in Über die Taufe (De baptismo) 17 darauf hin, dass der Presbyter, der die Paulusakten „aus Liebe zu Paulus“ geschrieben hat, seines Amts enthoben wurde. Pseudepigraphie wurde also nicht gutgeheißen.
  • Ungefähr zur selben Zeit schrieb Serapion von Antiochia im Hinblick auf das Petrusevangelium:
    Meine Brüder, wir halten an Petrus und den übrigen Aposteln ebenso fest wie an Christus. Wenn aber Schriften fälschlich unter ihrem Namen gehen, so sind wir erfahren genug, sie zurückzuweisen; denn wir wissen, daß uns solche Schriften nicht überliefert worden sind. (Eusebius, Kirchengeschichte 6,12,3)
    Serapion verwendete für diese Schriften das Wort ψευδεπίγραφα / pseudepígrapha. Schriften mit falschen Autorangaben wären nicht akzeptiert worden.

Als Abschluss passt gut ein Wort aus dem 1. Johannesbrief:

Ich schreibe euch nicht, weil ihr die Wahrheit nicht kennt, sondern weil ihr sie kennt und weil keine Lüge von der Wahrheit stammt.
(1 Johannes 2,21)

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