Worum geht es im Hohelied?

Das „Lied der Lieder“ – so die wörtliche Übersetzung des hebräischen Titel dieses Buches – hat im Lauf der Geschichte völlig konträre Erklärungen gefunden, die sich in zwei Hauptrichtungen einteilen lassen.

In der jüdischen und christlichen Tradition wurde dieses Buch als eine Allegorie verstanden, die über die Beziehung zwischen Gott und seinem Volk spricht. Der Geliebte im Buch repräsentiert Gott, die Geliebte symbolisiert sein Volk Israel. In der christlichen Tradition wurde diese Allegorie dann weitergeführt und auf Christus und die Gemeinde bezogen. Noch später wurde dann im Rahmen des Marienkults auch noch Maria, die Mutter Jesu, in diesen Text hineininterpretiert.

Die andere Richtung sieht im Hohelied eine Sammlung von Liebesliedern, die die Schönheit der ehelichen Liebe zwischen Mann und Frau besingen will.

Ich möchte hier einige Gedanken darlegen, die dafür sprechen, dass das Hohelied nicht nur seit der Antike allegorisch verstanden wurde, sondern von Anfang an als Allegorie konzipiert war. Es soll hier nicht darum gehen, die eheliche Liebe als etwas Negatives darzustellen, sondern darum, dass im Hohelied so wie in der Bibel Gott und seine Liebe das Zentrum bildet.

Ich habe dazu auch einen längeren Text geschrieben, der hier heruntergeladen werden kann: Das Hohelied

Das Lied der Lieder

Die hebräische Überschrift des Buches in 1,1 lautet übersetzt: „Das Lied der Lieder“, d. h. das schönste oder beste Lied. Bereits die Überschrift weist darauf hin, dass es in diesem Text um ein zentrales Thema geht, um das wichtigste Thema der Bibel: Die Liebe Gottes zu seinem Volk. Bei aller Wertschätzung der geschlechtlichen Liebe, die ein Teil der guten Schöpfung Gottes ist, ist diese doch keinesfalls das Hauptthema der Offenbarung. Der Autor des Hohelieds verwendet die Sprache, die aus der menschlichen Liebe kommt, um über die Liebe Gottes zu seinem Volk zu schreiben.

Warum wird Gott nicht erwähnt?

Es ist erstaunlich für ein Buch der Heiligen Schrift, dass in ihm das Wort „Gott“ oder der Gottesname JHWH nicht vorkommt. Das ist sonst nur beim Buch Ester der Fall.

Nur in 8,6 finden wir die Kurzform des Gottesnamens „Jah“. Dort sind die Gluten der Liebe „Feuergluten, eine Flamme Jahs“ (so die Elberfelder Übersetzung). Die Einheitsübersetzung spricht von „Feuergluten, gewaltigen Flammen“. Hier wird „Jah“ nicht als Gottesname aufgefasst, sondern als eine Beschreibung der Größe und Intensität dieser Flamme. Man kann diesen Vers aber auch so verstehen, dass die Liebe ihren Ursprung in Gott hat. Dann wäre dieser Vers der einzige direkte Hinweis auf Gott im Hohelied.

Ein Buch der Heiligen Schrift sollte doch eine Botschaft Gottes vermitteln. Wenn nun Gott im Hohelied (fast) nicht erwähnt wird, soll uns das nicht darauf hinweisen, dass Gott in ganz anderer Weise in diesem Text präsent ist, dass wir ihn in der Person des Geliebten finden?

Interessant ist auch, dass das hebräische Wort דֹּודִ֔י (dōdi – „mein Geliebter“) 26-mal im Hohelied vorkommt. Die Zahl 26 ist der Zahlenwert des Gottesnamens JHWH.1 Das könnte ein weiterer Hinweis darauf sein, dass mit dem Geliebten Gott gemeint ist.

Wer ist im Mittelpunkt einer Ehe?

Bezöge sich das Hohelied auf eine sexuelle Beziehung zwischen Mann und Frau, würden wir in einer jüdischen Heiligen Schrift erwarten, dass das Zentrum dieser Beziehung Gott ist, dass die Liebe zwischen Mann und Frau die gemeinsame Quelle in der Liebe Gottes findet. Genau dieser Aspekt fehlt aber im Hohelied. Der Frau geht es nur um den Mann, und dem Mann geht es nur um die Frau. Das entspricht nicht der jüdischen Lehre über die Ehe (vergleiche Sprüche 18,22; 19,14 oder das apokryphe Buch Tobit 8,5-8), und auch nicht dem christlichen Verständnis (vergleiche Epheser 5,21-33). Wollte Gott uns durch diesen Text wirklich zeigen, dass er in der Ehe keinen Platz hat?

Beziehen wir das Hohelied aber auf die Beziehung zwischen Gott und seinem Volk, passt diese ausschließliche Ausrichtung auf den Partner hervorragend. Gott gibt sich ganz für sein Volk und erwartet von seiner Braut auch die volle und ausschließliche Hingabe an ihn.

Fruchtbarkeit und Kinder

Eine eheliche Beziehung wurde im Judentum immer auch im Hinblick auf die Fruchtbarkeit gesehen. Das wird bereits im Schöpfungsbericht grundgelegt.

27 Gott erschuf den Menschen als sein Bild, als Bild Gottes erschuf er ihn. Männlich und weiblich erschuf er sie. 28 Gott segnete sie und Gott sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehrt euch, füllt die Erde. (Genesis 1,27-28a)

Auch aus anderen Stellen des Alten Testaments wie Genesis 24,60, Rut 4,11-12 oder Psalm 128 wird das deutlich. Im Hohelied aber fehlt dieses Thema völlig. Zeigt das nicht auch, dass es in diesem Buch nicht um eine eheliche Beziehung geht?

Warum ist das Hohelied im Kanon?

Von Anfang an wurde dieses Lied sowohl von den Juden als auch später von den Christen geistlich-allegorisch verstanden. In der Antike war nur Theodor von Mopsuestia (gestorben 428) eine Ausnahme, der im Hohelied ein Liebeslied sah, das Salomo verfasst habe, um seine Heirat mit der Tochter Pharaos zu rechtfertigen. Erst in der Neuzeit, ab Johann Gottfried Herder (1744-1803), wurde das Hohelied als eine Sammlung weltlicher Liebeslieder gesehen. Diese Deutung setzte sich im 19. Jahrhundert allgemein durch und die geistlich-allegorische Deutung wurde als Fehlinterpretation gesehen. Ohne das geistlich-allegorische Verständnis wäre das Hohelied keinesfalls als Heilige Schrift akzeptiert worden. Das ist zwar kein zwingender Grund, dass es von Anfang an allegorisch gemeint war. Aber es weist in diese Richtung.

Ausdrücke und Formulierungen im Gesamtkontext des Alten Testaments

Es gibt im Hohelied Ausdrücke und Formulierungen, die, wenn man sie im Kontext anderer Stellen des Alten Testaments liest, für das allegorische Verständnis sprechen. Einige Beispiele seien hier genannt:

  • Duft (רֵ֫יחַ /rêach): Achtmal findet sich dieses Wort im Hohelied, im Alten Testament 58-mal, davon 43-mal in einem kultischen Kontext, niemals jedoch in einem erotischen Zusammenhang. So wie die Opfer mit ihrem „beruhigenden Duft“ in der Beziehung eines Gläubigen zu Gott wichtig waren, so kann auch im Hohelied der Duft auf die Beziehung zu Gott hinweisen.
  • „Zieh mich her hinter dir!“ (1,4): Das würde einerseits auch in einem erotischen Text passen. Doch findet sich das Verb „ziehen“ (מָשַׁךְ/māšak) im Zusammenhang mit dem Wort „Liebe“ nur noch zweimal im Alten Testament: einmal in Hosea 11,4: „Mit menschlichen Fesseln zog ich sie, mit Banden der Liebe.“ und dann noch in Jeremia 31,3: Von ferne her ist mir der Herr erschienen: Mit ewiger Liebe habe ich dich geliebt; darum habe ich dich zu mir gezogen aus lauter Gnade.“ (Schlachter 2000) In beiden Fällen zieht Gott sein Volk aus Liebe.
  • Weinberg (כֶ֔רֶם / käräm): In Hohelied 1,6 und 8,12, wo es um „meinen Weinberg“ geht, passt ein Bezug auf Israel gut. Bei der erotischen Deutung ist zumindest in 1,6 nicht so klar, was mit dem Weinberg gemeint ist. Den Weinberg als Bild für Israel finden wir in Jesaja 1,8; 3,14; 5,1-7; 27,2 und Jeremia 12,10. Auch der Weinstock (גֶ֖פֶן / gäfän) dient in Psalm 80,9 und Ezechiel 19,10-14 als Bild für Israel.
  • mein Geliebter (דֹּודִ֔י / dōdi): Außerhalb des Hohelieds steht das Wort דּוֹד (dōd) für einen Onkel, nur an einer einzigen Stelle (Jesaja 5,1) geht es um einen „Geliebten“, „Freund“. An dieser Stelle ist eindeutig JHWH gemeint. Auf das 26-fache Vorkommen dieses Wortes im Hohelied wurde bereits hingewiesen.
  • Lilie und Lotus in 2,1: Die in den meisten Übersetzungen mit „Narzisse“ und „Lilie“ wiedergegebenen Wörter meinen nach dem derzeitigen Verständnis wahrscheinlich Lilie und Lotus. Dass eine Frau mit Blumen verglichen wird, sollte nicht überraschen. In der Bibel findet sich die Lilie (חֲבַצֶּלֶת / chăbazzälät) sonst nur in Jesaja 35,1 im Zusammenhang mit der Rückkehr aus dem Exil und die Lotusblume (שׁוּשַׁן šûšan / שׁוֹשַׁנַּה šȏšannāh) in Hosea 14,6 ebenfalls im Zusammenhang mit einer Heilszeit, wo Gott für Israel wie der Tau sein wird, und Israel wie eine Lotusblume. Sonst wird der Lotus für die Beschreibung Kapitelle auf den Säulen des Tempels (1 Könige 7,19.22) und des Wasserbeckens im Tempel (1 Könige 7,26) verwendet. Zur Beschreibung der Schönheit einer Frau werden diese Blumen sonst nicht verwendet. Es ist nicht fernliegend, dass der Autor des Hohelieds sich auf die Vorkommen dieser Blumen in den Prophetenbüchern bezieht.
  • Schatten (צֵל / zel) 2,3: Der Schatten steht im Alten Testament für Schutz und Geborgenheit, vor allem, wenn es im Zusammenhang um Gott geht (Psalm 17,8; 36,8; 57,2; 63,8; 91,1; 121,5; Jesaja 25,4; 49,2; 51,16).
  • Weihrauch (לְבוֹנָה / lěbônāh) 3,6; 4,6.14: wird im Alten Testament nur für den Kult verwendet. Exodus 30,37 verbietet den profanen Gebrauch des Räucherwerks. Das ist ein starkes Indiz, dass es im Hohelied um die Beziehung zwischen Gott und dem Volk Israel geht, die ihren Ausdruck im Kult fand, und nicht um die eheliche Beziehung zwischen Mann und Frau.
    4,6 spricht vom Myrrhenberg und vom Weihrauchhügel. Myrrhe (מֹר / mōr) erinnert lautlich an den Berg Morija, auf dem nach 2 Chronik 3,1 der Tempel gebaut wurde. Der Geliebte, Gott, begibt sich an diesen Ort, um seiner Braut, dem Volk Gottes, zu begegnen.
    In 4,12-16 wird die Braut mit einem Garten verglichen, der allerlei Köstlichkeiten hervorbringt, z. B. Weihrauch. Andere (Balsam, Myrrhe, Zimt, Würzrohr) wurden für die Herstellung des heiligen Öls in Exodus 30,23-25 verwendet.
  • Tirza und Jerusalem 6,4: Tirza war von Jerobeam bis Omri, der die Stadt Samaria als neue Hauptstadt des Nordreichs gründete, die Hauptstadt Israels. Der Vergleich der Geliebten mit Tirza und Jerusalem weist darauf hin, dass die wahre Braut des Geliebten das Volk Israel in seiner Gesamtheit ist. Bei einem profanen Liebespaar ist es wohl nicht üblich, die Frau mit Städten zu vergleichen.

Manches passt nicht gut in ein Liebeslied.

  • 2,15: Die Neue Jerusalemer Bibel erklärt diesen Vers so: Die Reben sind hier ein Bild für die Reife der jungen Mädchen, die von ihren sehnsuchtsvollen Liebhabern, den kleinen Füchsen, aufgestöbert werden möchten.
    Abgesehen davon, dass diese Erklärung in einem Konflikt mit dem sonstigen Umgang der Bibel mit der Sexualität steht, entspricht sie auch nicht wirklich dem Text (Haben die Mädchen Sehnsucht danach, verwüstet zu werden?) und passt auch nicht in den Zusammenhang. Deswegen wird sie in der JB als unabhängiges Dichtungsfragment gesehen. Der „Fuchs“ wird im AT noch an folgenden Stellen erwähnt: Richter 15,4; Nehemia 3,35; Psalm 63,11 (hier bedeutet dieses Wort: Schakal); Klagelieder 5,18; Ezechiel 13,4.
    In Klagelieder 5,18 sind die herumstreifenden Füchse am Zion ein Zeugnis für dessen Zerstörung. Ezechiel 13,4 vergleicht die falschen Propheten mit Füchsen in den Ruinen. In Nehemia 3,35 macht sich Tobija, ein Feind Nehemias, über den Mauerbau lustig: Wenn sie auch noch so bauen, springt ein Fuchs hinauf, dann reißt er ihre Steinmauer nieder.
    Es würde gut passen, wenn mit den Füchsen die Feinde Israels gemeint sind (äußere oder innere, wie die falschen Propheten), die den Weinberg Israels verderben.
    Die alte Jerusalemer Bibel verweist auf Jeremia 12,7ff und Hosea 2,14-20, wo Gott sein Erbe den wilden Tieren überlässt. Sie deutet die jungen Füchse auf die bösen Nachbarn in nachexilischer Zeit.
  • An vier Stellen des Hohelieds (4,9.10.12; 5,1) spricht der Mann die Frau als „Schwester Braut“ an. Eine sexuelle Beziehung zwischen Geschwistern war im Alten Testament absolut verboten (Levitikus 18,9). Da ist es schon eigenartig, dass der Mann seine Geliebte als „Schwester“ anredet. Ähnliches gilt auch für Hohelied 8,1. Wäre der Geliebte der Bruder der Frau, dann könnte sie ihn zwar küssen. Aber eine weitergehende Verbindung wäre nicht möglich. Spricht das nicht dafür, dass es hier um Gott und sein Volk geht?
  • In den Beschreibungen der Braut gibt es Vergleiche, die wenig schmeichelhaft sind. So wird in 4,1 und in 6,5 ihr Haar mit einer Herde von Schafen verglichen, oder in 4,4 ihr Hals mit dem Turm Davids, in 7,5 ihre Nase mit dem Libanonturm, der gegen Damaskus schaut. Auch wenn das Schönheitsideal der damaligen Zeit ein anderes gewesen sein mag als das unsere, scheinen diese Vergleiche nicht gerade die Schönheit einer Frau zu beschreiben. Wenn man aber in Betracht zieht, dass das Volk Israel in starker Verbundenheit mit seinem Land gesehen wurde, macht es durchaus Sinn, manche geografische Gegebenheiten des von Gott verheißenen Landes zu betonen.

Was folgt daraus?

Literatur ist nicht Mathematik. Die hier aufgezählten Gedanken mögen keine absoluten Beweise darstellen. Aber es sind meines Erachtens doch starke Indizien, die dafür sprechen, dass das Hohelied nicht erst im Nachhinein allegorisch verstanden wurde, sondern bereits von Anfang an so gemeint war.

Die Verbindungen mit anderen Texten des Alten Testaments setzen dann aber voraus, dass dieses Buch nicht von Salomo verfasst wurde, sondern erst zu einer relativ späten Zeit nach dem Exil, als ein Großteil der alttestamentlichen Literatur schon vorhanden war. Das ist auch kein Problem. Die Überschrift muss nicht notwendigerweise als Verfasserangabe verstanden werden. Man kann sie genauso mit „dem Salomo (gewidmet)“ verstehen.

Das „Lied der Lieder“ hat dasselbe Thema, das auch im Hintergrund aller Bücher der Heiligen Schrift steht: Die Liebe Gottes zu seinem Volk. Gott hat diese Liebe durch seine Geschichte mit dem Volk Israel gezeigt und dann noch stärker durch die Sendung seines Sohnes, mit dem er alle Menschen zu sich ruft. Er möchte seine Liebe an alle verschenken.

Zieh mich her hinter dir! Lass uns eilen! Der König führt mich in seine Gemächer. Jauchzen lasst uns, deiner uns freuen, deine Liebe höher rühmen als Wein. Dich liebt man zu Recht. (Hohelied 1,4)

Es liegt am Menschen, sich für Gottes Liebe zu öffnen, sich von ihm in seine Gemächer ziehen zu lassen.

Verwendete Literatur

Ludger Schwienhorst-Schönberger, Das Hohelied der Liebe, Freiburg im Breisgau 2015

A. Robert, R. Tournay, A. Feuillet, Le Cantique des Cantiques, Paris 1963


  1. Im Hebräischen hat jeder Buchstabe zugleich einen Zahlwert. J (10) + H (5) + W (6) + H (5) =26. Diesen Gedanken verdanke ich Schwienhorst-Schönberger, Seite 33.

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