Jakobus, Knecht Gottes und des Herrn Jesus Christus, grüßt die zwölf Stämme in der Diaspora. (Jakobus 1,1)
Gemäß seinem Selbstzeugnis wurde der Jakobusbrief von einem Christen namens Jakobus verfasst. Von den im Neuen Testament erwähnten Personen dieses Namens sind nur Jakobus, der Sohn des Zebedäus und Bruder des Johannes, und Jakobus, der Bruder des Herrn, von größerer Bedeutung. Da der Bruder des Johannes schon in den frühen Vierzigerjahren des 1. Jahrhunderts von Agrippa I. hingerichtet wurde (Apostelgeschichte 12,2), bleibt als Verfasser nur der „Bruder“ des Herrn. „Bruder“ bedeutet in seinem Falle wahrscheinlich Cousin. So gut wie alle Theologen, die an der Echtheit des Jakobusbriefs festhalten, sehen daher im Herrenbruder den Verfasser dieses Schreibens.
1 Argumente gegen die Autorschaft des Jakobus
Zahlreiche Theologen sehen dies jedoch anders. Ich zitiere dazu Udo Schnelle: Einleitung in das Neue Testament, 9., durchgesehene Auflage, Göttingen 2017, S. 463-465:
[…] Für den Herrenbruder Jakobus als Verfasser sprechen neben dem Selbstanspruch in Jak 1,1 die zahlreichen judenchristlichen Traditionen, die eine auffällige Nähe zur Jesusüberlieferung erkennen lassen. Auch die hinter Jak 2,14-26 stehende Auseinandersetzung mit Paulus ist für den Herrenbruder Jakobus gut denkbar. Schließlich weisen die starke Betonung der Einheit von Glaube und Werken auf den strengen Judenchristen Jakobus hin. Das gute Griechisch des Jakobusbriefes und die rhetorische Schulung seines Autors können nicht mehr als Argumente gegen den Herrenbruder verwendet werden, weil von einer überwiegenden Zweisprachigkeit Jerusalems und ganz Palästinas im 1. Jh. n. Chr. auszugehen ist.
Dennoch sprechen sehr gewichtige Gründe gegen den Herrenbruder als Verfasser des Jakobusbriefes. Zentrale Themen einer strengen judenchristlichen Theologie wie Beschneidung, Sabbat, Israel, Reinheitsgebote und der Tempel spielen im Brief keine Rolle. Der Jak zählt zu den wenigen Schriften im Neuen Testament, in denen weder Israel noch die Juden namentlich erwähnt werden. Die Rezeption atl. Gestalten (vgl. Jak 2,21-25; 5,10f.17f) und auch die Erwähnungen des Gesetzes in einem ausschließlich ethischen Kontext sind sehr allgemein gehalten und innerhalb des Urchristentums überall möglich. Im Gegensatz zum antiochenischen Zwischenfall erscheint das Problem Heiden-/Judenchristen im Jak nicht. Die tiefgreifenden Unterschiede in der Soteriologie weisen darauf hin, dass der Verfasser des Jak nicht identisch sein kann mit dem Herrenbruder Jakobus, der nach Gal 2,9 Paulus die Hand reichte, und dessen Evangeliumsverkündigung unter den Heiden ausdrücklich anerkannte. Der Verfasser des Jak nennt sich in Jak 1,1 doulos theou kai kyriou Iesou Christou (Knecht Gottes und des Herrn Jesus Christus), in Jak 3,1 gibt er sich als ein urchristlicher Lehrer zu erkennen. Zwar ist mit dem Begriff doulos (Knecht) in Jak 1,1 eine besondere Würde und Stellung verbunden, es bleibt aber auffällig, dass der Verfasser sich nicht als Herrenbruder einführt und die Würdebezeichnung stylos (Säule) (vgl. Gal 2,9) nicht in Anspruch nimmt. Indem er sich in Jak 3,1.2 in die große Gruppe der urchristlichen Lehrer (vgl. Apg 13,1; 1 Kor 12,28f) einordnet, verzichtet er auf die besondere Autorität, die ihm als Herrenbruder und eine der drei „Säulen“ der Urgemeinde zukam und die er im antiochenischen Konflikt einbrachte. Zudem setzt Jak 3,1ff einen Ansturm auf das Lehramt und eine damit verbundene Krise voraus, was wiederum der exklusiven Stellung des Herrenbruders Jakobus in der Geschichte des Urchristentums nicht entspricht.
Sollte der Herrenbruder Jakobus der Verfasser des Schreibens sein, so ist es zudem verwunderlich, dass in Jak 5,10f Hiob und nicht Jesus als Beispiel der Leidensbereitschaft angeführt wird. Auch die vorausgesetzte Gemeindesituation und Polemik in Jak 2,14-26 weisen in eine spätere Zeit. Die im Jak sichtbar werdenden sozialen Konflikte innerhalb der Gemeinde haben vor allem Parallelen im lk. Schrifttum, in den Past und in der Offb. Sie sind Zeugnis eines tiefgreifenden sozialen Wandels innerhalb der urchristlichen Gemeinden am Ende des 1. Jhs. Immer mehr Reiche treten in die Gemeinde ein, und es verschärft sich die Kluft und die Auseinandersetzung zwischen armen und reichen Gemeindegliedern. Der Konflikt um die Einheit von Glaube und Werken deutet ebenfalls auf die nachpaulinische Zeit hin, als in Gemeinden des ehemaligen paulinischen Missionsgebietes die für Paulus selbstverständliche Einheit von neuem Sein und neuem Handeln auseinanderbrach. Paulus trifft die Polemik des Jak nicht, so dass man entweder eine völlige Unkenntnis der paulinischen Theologie durch den Herrenbruder Jakobus oder aber eine Auseinandersetzung in nachpaulinischer Zeit annehmen muss. Die Deuteropaulinen und 2 Petr 3,15.16 bezeugen, dass diese Auseinandersetzung auf sehr verschiedenen Ebenen und mit unterschiedlichen Akzenten tatsächlich auch stattfand. Sollte der Jak vom Herrenbruder verfasst sein, so bleibt das Fehlen eines Reflexes auf die scharfe Kritik des Jakobus an Paulus im deuteropaulinischen Schrifttum auffällig. Schließlich spricht auch die Kanonsgeschichte gegen den Herrenbruder als Verfasser des Jak. Vor 200 n. Chr. lässt sich eine literarische Benutzung des Jak nicht nachweisen. Im Kanon Muratori (um 200) fehlt der Jak ebenso wie bei Tertullian, und Euseb (HE II 23,24b.25) berichtet über den Jak: „Dies ist die Geschichte des Jakobus. Von Jakobus soll der erste der sogenannten katholischen Briefe verfasst sein, doch ist zu bemerken, dass er für unecht gehalten wird. Denn nicht viele von den Alten haben ihn und den sogenannten Judasbrief erwähnt, der ebenfalls zu den katholischen Briefen gehört. Doch ist uns bekannt, dass auch diese beiden Briefe wie die übrigen in den meisten Kirchen öffentlich verlesen worden sind.“ Erst ab 200 beginnt sich der Jak durchzusetzen, erstmals zitiert Origenes (Select Ps 30,6 [PG 12,1300]) den Jak als Schrift. Der Jak bleibt aber weiterhin umstritten und erlangt erst sehr spät kanonisches Ansehen. Ein sehr ungewöhnlicher Vorgang, wäre der Jak vom Herrenbruder Jakobus geschrieben worden und dies auch innerhalb des Urchristentums bekannt gewesen.
2 Versuch einer Antwort
Es ist zu begrüßen, dass Schnelle eingangs auch einige Gründe anführt, die für Jakobus als Autor sprechen. Er erwähnt auch, dass Gründe, die früher gegen seine Autorschaft angeführt wurden (gutes Griechisch, rhetorische Schulung), nicht aufrecht erhalten werden können.
Bevor ich auf die einzelnen Argumente gegen die Autorschaft des Herrenbruders eingehe, möchte ich auf die hier genannten grundsätzlichen Erwägungen zur Pseudepigraphie hinweisen. Diese habe ich vor allem im Hinblick auf die Pastoralbriefe geschrieben, sie gelten aber für alle Schriften des Neuen Testaments, bei denen eine falsche Verfasserangabe angenommen wird.
2.1 Es fehlen zentrale Themen einer strengen judenchristlichen Theologie.
Was in einem Schreiben steht und was nicht, hängt von der Zielsetzung des Autors ab. Wenn der Autor für seine Leserschaft andere Fragen als Beschneidung, Sabbat, Israel, Reinheitsgebote und Tempel als wichtig erachtet, wird er diese Fragen nicht behandeln. Vor allem, wenn wir eine rein judenchristliche Empfängerschaft voraussetzen, dürften diese Fragen für alle klar gewesen sein und mussten nicht thematisiert werden. Dazu passt auch, dass er Israel oder die Juden namentlich nicht erwähnte, nicht erwähnen musste. Wenn ich als Österreicher mit Österreichern spreche, wird die Tatsache, dass wir Österreicher sind, in der Regel auch nicht erwähnt.
Auch wenn Jakobus sich streng an das jüdische Gesetz mit seinen Reinheitsvorschriften hielt, war ihm als Christ doch klar, dass die ethischen Forderungen des Gesetzes die wichtigeren waren. Darüber schreibt er auch, wobei bemerkenswert ist, dass er das Gesetz aus dem Blickwinkel der Bergpredigt betrachtet. Jakobus scheint aber nicht an die schriftliche Form des Matthäus oder Lukas gebunden zu sein, sondern schöpft aus der mündlichen Überlieferung, was umso verständlicher wäre, wenn zur Zeit der Abfassung des Jakobusbriefes diese beiden Evangelien noch nicht geschrieben waren. Wenn Jakobus vom „vollkommenen Gesetz der Freiheit“ (1,25; vgl. 2,12) schreibt, scheint er eher das Gesetz Christi, das wir vor allem in der Bergpredigt finden, als die Thora zu meinen. Das „königliche Gesetz“ der Nächstenliebe (2,8) verbindet die Thora mit der Lehre Jesu. Dass der Autor die alttestamentlichen Gestalten Abraham, Rahab, Hiob und Elia in einem ethischen Kontext erwähnt, passt zur Linie des Briefes, ist aber kein Argument gegen die Autorschaft des Herrenbruders Jakobus.
2.2 Das Problem Heiden-/Judenchristen wird nicht thematisiert.
Mag das vielleicht daran liegen, dass es dieses Problem bei den Empfängern des Briefes nicht gab? Schnelle nimmt als Abfassungszeit das Ende des 1. Jahrhunderts an. Hätte damals diese Frage nicht auch thematisiert werden müssen? Der sogenannte Barnabasbrief, der um diese Zeit oder etwas später geschrieben wurde, befasst sich viel mit dem richtigen Verständnis des mosaischen Gesetzes. Müsste man nicht gerade in der von Schnelle angenommenen Abfassungszeit eine eingehende Behandlung dieses Themas erwarten? Wenn Jakobus als Judenchrist den Brief an andere Judenchristen schreibt, die kaum Berührung zu Heidenchristen haben, ist diese Frage nicht aktuell.
Es ist auch bemerkenswert, dass in Jakobus 2,2 von der Gemeindeversammlung als „Synagoge“ die Rede ist. (Von den bekannteren Übersetzungen findet sich dieses Wort nur in der Elberfelder Übersetzung.) Spricht das nicht auch für eine frühe Abfassung des Briefes im judenchristlichen Bereich?
2.3 Tiefgreifende Unterschiede in der Soteriologie?
Leider führt Schnelle nicht aus, welche tiefgreifenden Unterschiede in der Soteriologie (Erlösungslehre) er zwischen dem Autor des Jakobusbriefes und dem Herrenbruder sieht. Er verweist auf den Abschnitt 7.1.9 seines Werks, der sich mit den theologischen Grundgedanken des Briefes beschäftigt. Ich vermute, dass Schnelle meint, dass der Herrenbruder Jakobus sich mit Paulus in Einheit wusste, während das beim Verfasser des Jakobusbriefes nicht so sei.
Die Unterschiede zwischen Jak und Paulus sind offenkundig: Während für Paulus die Sünde eine überindividuelle Macht darstellt, die sich des Gesetzes bedient und den Menschen betrügt (vgl. Röm 7,7ff), kann die Sünde bei Jak durch das Halten des Gesetzes überwunden werden (Jak 2,10; 4,17; 5,19.20). Folglich existiert für ihn kein Gegensatz zwischen Glauben und Werken, den er aber bei seinem Gesprächspartner voraussetzt.
Ist dieser Gesprächspartner Paulus? Da sich der Gegensatz ‚Glaube und Werke‘ vor Paulus nirgendwo nachweisen lässt, muss ein Bezug auf Paulus im Jak angenommen werden. […] (Schnelle, S. 473)
Kann man aus einer einzigen, nicht leicht zu verstehenden Stelle wie Römer 7, das Sündenverständnis des Paulus herleiten? Auch Paulus mahnt immer wieder zum Überwinden der Sünde (z. B.: Römer 6,12-14; 12,21; 13,11-14; 1 Korinther 5,8; 6,18-20; 10,1-13; 15,34; …) Ferner spricht keine einzige der drei von Schnelle angeführten Stellen aus dem Jakobusbrief (2,10; 4,17; 5,19-20) davon, dass die Sünde durch das Halten des Gesetzes überwunden werden kann. 2,10 spricht über die Schuld, die durch die Übertretung eines Gebotes entsteht. Die in 2,11 angeführten Beispiele sprechen dafür, dass Jakobus das Gesetz in der Interpretation versteht, die Jesus in der Bergpredigt gemeint hat. Im Zusammenhang mit der Gemeinde konnte nicht der vollendete Ehebruch oder die vollendete Tötung gemeint sein. Hier hatte Jakobus offensichtlich die Worte Jesu vor Augen, wie wir sie in Matthäus 5,21-30 lesen. Jakobus 4,17 hat mit Gesetzesgehorsam gar nicht zu tun, sondern mit der Verpflichtung, das, was wir als gut erkennen, auch zu tun. 5,19-20 ist eine Ermunterung, irrende Geschwister zur Wahrheit zurückzuführen.
Es ist korrekt, dass es weder bei Jakobus noch bei Paulus einen Gegensatz zwischen Glauben und Werken gibt. Aber schreibt Jakobus in 2,14ff wirklich gegen Paulus? Mehr dazu unter 2.7.
2.4 Selbstbezeichnung des Verfassers
Es ist korrekt, dass der Verfasser sich nicht „Bruder des Herrn“ nannte oder die Würdebezeichnung „Säule“ nicht in Anspruch nahm. Das mag für jemanden, der von akademischen Titelträgern umgeben ist, seltsam erscheinen. Für einen Christen, der von Jesus Demut gelernt hat, ist aber gerade das zu erwarten. Die Adressaten des Briefes wussten, wer der Autor ist. Er brauchte sich selber nicht zu rühmen. Überdies hat Schnelle Galater 2,9 fehlinterpretiert, wenn er annimmt, dass „Säule“ eine offizielle Bezeichnung eines Verantwortungsträgers war. Wenn Jakobus sich nicht „Bruder des Herrn“ nannte, dann vielleicht auch deswegen, weil er von Jesus gelernt hat, dass nicht die menschliche Verwandtschaft zählt, sondern die geistliche Beziehung zu ihm.
Wer den Willen Gottes tut, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter. (Markus 3,35)
Darum betonte er, dass er der Knecht Jesu ist. Die familiären Beziehungen sind irrelevant.
Wenn Jakobus sich in 3,1 „in die große Gruppe der urchristlichen Lehrer einordnet“, dann zeigt das, dass die frühe Kirche nicht hierarchisch organisiert war. Wahre Autorität in der Gemeinde zeigt sich nicht durch besondere Titel oder einen besonders zu betonenden Rang, sondern durch Demut und Liebe.
Es wäre eher bei einem Fälscher aus späterer Zeit anzunehmen, dass dieser, um sein Werk möglichst einflussreich zu machen, besonders die Autorität des angeblichen Verfassers betont hätte. Hätte sich der Schreiber tatsächlich „Säule“ oder „Bruder des Herrn“ genannt, dann würde das vermutlich als Argument angeführt werden, dass der pseudepigraphische Verfasser aus dem Galaterbrief geschöpft hat.
Setzt Jak 3,1f wirklich einen „einen Ansturm auf das Lehramt und eine damit verbundene Krise“ voraus? Für jemanden, der nur in hierarchischen Kategorien zu denken gewöhnt ist, vielleicht. Könnte Jakobus nicht auch einfach übereifrige Brüder auf die hohe Verantwortung, die mit der Unterweisung anderer verbunden ist, aufmerksam machen? Das passt zu jeder Zeit, auch zur Zeit des Jakobus.
2.5 Warum Hiob und nicht Jesus als Beispiel für das Leiden?
Die Frage, warum der Autor des Briefes in 5,10ff die Propheten und Hiob als Beispiele für das Leben anführt und nicht Jesus, stellt sich bei jedem christlichen Autor, auch bei einem Schreiber aus späterer Zeit. Sie kann daher kein Argument gegen die Autorschaft des Jakobus sein. Könnte es nicht sein, dass Jakobus das Leiden Jesu als etwas Einzigartiges sah und deswegen die Beispiele der Propheten und Hiobs als passender für Christen erachtete?
2.6 Die vorausgesetzte Gemeindesituation
Wenn die „im Jak sichtbar werdenden sozialen Konflikte innerhalb der Gemeinde“ „vor allem Parallelen im lk. Schrifttum, in den Past und in der Offb“ haben, so spricht das nicht notwendigerweise für eine Spätdatierung des Jakobusbriefes, insbesondere wenn wir davon ausgehen, dass Lukas die Worte Jesu (die übrigens nicht soziale Konflikte in der Gemeinde betreffen) korrekt wiedergibt und die Pastoralbriefe von Paulus stammen.
Geht es im Jakobusbrief überhaupt um soziale Konflikte innerhalb der Gemeinde?
Ein mögliches Beispiel wäre Jakobus 2,1-9:
1 Meine Brüder, haltet den Glauben an unseren Herrn Jesus Christus, den Herrn der Herrlichkeit, frei von jedem Ansehen der Person! 2 Wenn in eure Versammlung ein Mann mit goldenen Ringen und prächtiger Kleidung kommt und zugleich kommt ein Armer in schmutziger Kleidung 3 und ihr blickt auf den Mann in der prächtigen Kleidung und sagt: Setz du dich hier auf den guten Platz! und zu dem Armen sagt ihr: Du stell dich oder setz dich dort zu meinen Füßen! – 4 macht ihr dann nicht untereinander Unterschiede und seid Richter mit bösen Gedanken? 5 Hört, meine geliebten Brüder! Hat nicht Gott die Armen in der Welt zu Reichen im Glauben und Erben des Reiches erwählt, das er denen verheißen hat, die ihn lieben? 6 Ihr aber habt den Armen entehrt. Sind es nicht die Reichen, die euch unterdrücken und euch vor die Gerichte schleppen? 7 Sind nicht sie es, die den guten Namen lästern, der über euch ausgerufen worden ist? 8 Wenn ihr jedoch das königliche Gesetz gemäß der Schrift erfüllt: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!, dann handelt ihr recht. 9 Wenn ihr aber nach dem Ansehen der Person handelt, begeht ihr eine Sünde und werdet vom Gesetz überführt, dass ihr es übertreten habt.
Der Reiche und der Arme, von denen in den Versen 2 und 3 die Rede ist, gehören nicht zur Gemeinde, sondern sind Gäste. Das wird daraus ersichtlich, dass ihnen Plätze zugewiesen werden. Die Gläubigen, die sich täglich mit ihren Geschwistern versammeln, benötigen eine derartige Platzzuweisung nicht. Es bestand die Gefahr, auf das Ansehen der Person zu achten und reiche Besucher bevorzugt zu behandeln. Deswegen weist Jakobus darauf hin, dass der Reichtum vielfach auf Unterdrückung der Armen beruht. In Vers 6 geht es nicht um reiche Christen, die ihre armen Brüder unterdrückt haben, sondern es werden die Reichen im Allgemeinen charakterisiert. Jakobus warnt die Jünger davor, nach irdischen Maßstäben auf die Person zu sehen.
Man könnte 2,4 so interpretieren, dass es um Unterschiede innerhalb der Gemeinde geht. Die griechische Wendung οὐ διεκρίθητε ἐν ἑαυτοῖς / ou diekrithete en heautois erlaubt aber auch eine völlig andere Wiedergabe, wie etwa in der Zürcher Bibel: […] messt ihr dann nicht mit zwei verschiedenen Massstäben? oder in der Übersetzung von Kürzinger: […] urteilt ihr da nicht zwiespältig?
Ebenso geht es in 5,1-6 um Reiche außerhalb der Gemeinde:
1 Ihr aber, ihr Reichen, weint nur und klagt über das Elend, das über euch kommen wird! 2 Euer Reichtum verfault und eure Kleider sind von Motten zerfressen, 3 euer Gold und Silber verrostet. Ihr Rost wird als Zeuge gegen euch auftreten und euer Fleisch fressen wie Feuer. Noch in den letzten Tagen habt ihr Schätze gesammelt. 4 Siehe, der Lohn der Arbeiter, die eure Felder abgemäht haben, der Lohn, den ihr ihnen vorenthalten habt, schreit zum Himmel; die Klagerufe derer, die eure Ernte eingebracht haben, sind bis zu den Ohren des Herrn Zebaoth gedrungen. 5 Ihr habt auf Erden geschwelgt und geprasst und noch am Schlachttag habt ihr eure Herzen gemästet. 6 Verurteilt und umgebracht habt ihr den Gerechten, er aber leistete euch keinen Widerstand.
Jakobus folgt hier dem Beispiel Jesu in Lukas 6,24:
Doch weh euch, ihr Reichen; denn ihr habt euren Trost schon empfangen.
Es war notwendig, dass Jakobus seinen christlichen Lesern wieder bewusst machte, wie ungerechter Reichtum zu beurteilen ist, weil (wie in Kapitel 2 sichtbar) die Gefahr bestand, dass man reichen Menschen mehr Ehre zukommen ließ als Armen.
Dass es in der Gemeinde auch Reiche und Arme gab, ist aus 1,9-11 sichtbar. Dort weist Jakobus auf die Vergänglichkeit des Reichtums hin, was dazu führen soll, dass der Reiche seinen Reichtum Gott gemäß einsetzt. Reiche Christen gab es nicht erst gegen Ende des 1. Jahrhunderts, sondern bereits von Anfang an. Josef von Arimathäa und Nikodemus (Johannes 19,38-40) mögen als Beispiele dienen, oder Lydia, die in Philippi ihr Haus für die Gemeinde öffnete (Apostelgeschichte 16,14-15.40).
2.7 Der Verfasser und die paulinische Theologie (Glaube und Werke)
Schnelle schreibt: Der Konflikt um die Einheit von Glaube und Werken deutet ebenfalls auf die nachpaulinische Zeit hin, als in Gemeinden des ehemaligen paulinischen Missionsgebietes die für Paulus selbstverständliche Einheit von neuem Sein und neuem Handeln auseinanderbrach. Paulus trifft die Polemik des Jak nicht, so dass man entweder eine völlige Unkenntnis der paulinischen Theologie durch den Herrenbruder Jakobus oder aber eine Auseinandersetzung in nachpaulinischer Zeit annehmen muss.
Die „selbstverständliche Einheit von neuem Sein und neuem Handeln“ war auch zur Zeit des Paulus immer in Gefahr, auseinanderzubrechen. Die beiden Korintherbriefe oder auch der Galaterbrief bezeugen das in der Behandlung vielfältiger Probleme in den jungen Gemeinden ganz klar.
Der Bezug auf die „Deuteropaulinen“ und 2 Petrus 3,15-16 ist insofern problematisch, weil sich Schnelle hier auf andere angeblich ebenfalls gefälschte Schriften bezieht und deren Datierung dann zur Begründung der Fälschung des Jakobusbriefs herangezogen wird. Was ist, wenn die „Deuteropaulinen“ tatsächlich von Paulus und der 2. Petrusbrief von Petrus stammen?
Überdies ist sehr fraglich, ob wir im Jakobusbrief eine Auseinandersetzung mit Paulus oder einer sich auf Paulus berufenden Position finden. Bedenkenswert sind die Gedanken von Klaus Berger zu dieser Frage:
Jak wie Paulus stehen in der Wirkungsgeschichte von Gen 15,6 (Anrechnung des Glaubens zur Gerechtigkeit). In Jak wird wie im Judentum „Glauben“ im Sinne der sich bewährenden Treue verstanden, die wirkliche Anrechnung zur Gerechtigkeit ist für Jak demgemäß in Gen 15,6 erst eine Verheißung, die nach Bestehen der Versuchung eingelöst wird. Die Position des Jak ist demnach eine unzertrennliche Einheit von Glaube und Werken, und zwar so, daß der Bekenntnisglaube nur der Anfang eines Treue- und Bewährungsprozesses ist, dessen Resultate Geduld, Standhalten und Werke sind und an dessen Ende dann das Prädikat „gerecht“ wirklich zutrifft. Diese Position ist bis auf den letzten Punkt auch die des Paulus. In der Position vertreten Paulus wie Jak eine organische, selbstverständliche Einheit von Glaube und Werken.
Strittig kann nur sein, ob die von Jak bekämpfte Position, nämlich die Isolierung des Glaubens eine mißverstandene paulinische ist. Eine paulinische kann sie doch wohl nicht sein, denn Paulus kennt Glauben nur als Werke hervorbringend. Aus Paulus herleitbar ist sie auch nicht, da Paulus die Rechtfertigung aus Glauben gegenüber ganz anderen Fronten hervorhebt, regelmäßig gegenüber solchen nämlich, die die bedingungslose Zulassung der Heiden zum Heil bestreiten. Im Röm und Gal geht es stets um die Zugehörigkeit zum Gottesvolk überhaupt. Auffällig ist zumindest, daß sich Paulus nirgendwo gegen eine ethische Fehlinterpretation, wie sie Jak bekämpfen könnte, wendet, auch nicht im späten Römerbrief, in dem er sich doch sonst mit Fehldeutungen seiner Botschaft auseinandersetzt. (Klaus Berger, Theologiegeschichte des Urchristentums, 2. Auflage, Tübingen 1995, S. 188)
Berger sieht anschließend das Problem des Glaubens ohne Werke als das „strukturelle“ Problem einer „Bekehrungsreligion“, wo die Gefahr besteht, dass das anfängliche Bekenntnis nicht durchgehalten wird. Deswegen muss die Notwendigkeit der Werke stark betont werden. Berger sieht daher im Jakobusbrief keine Reaktion auf Paulus oder eine nachpaulinische Position und rechnet mit einer Entstehung um 50 n. Chr. (Das Neue Testament und frühchristliche Schriften. Übersetzt und kommentiert von Klaus Berger und Christiane Nord, 2. Auflage, Frankfurt am Main 2005, S. 73)
Wenn nun im Jakobusbrief die von Schnelle festgestellte „scharfe Kritik“ an Paulus gar nicht vorhanden ist, braucht man sich über das „Fehlen eines Reflexes im deuteropaulinischen Schrifttum“ (das in Wahrheit vom echten Paulus verfasst wurde) nicht zu wundern.
2.8 Zur Kanonsgeschichte
Die Behauptung, dass „sich vor 200 n. Chr. eine literarische Benutzung des Jak nicht nachweisen lässt“, ist zu hinterfragen. Es ist zumindest sehr wahrscheinlich, dass der Autor des 1. Klemensbriefs den Jakobusbrief kannte und darauf anspielte. 1 Clemens 38,2 erinnert stark an Jakobus 3,13, ebenso 1 Clemens 46,5 an Jakobus 4,1. Der 1. Klemensbrief ist ein Schreiben der Gemeinde von Rom an die Gemeinde von Korinth und stammt sicher aus dem 1. Jahrhundert. Es gibt gute Gründe für seine Datierung noch vor 70, vermutlich 69.
Über das 2. Jahrhundert schreibt Gerhard Maier:
Im 2. Jahrhundert werden die Spuren reichlicher. Zwischen dem Hirten des Hermas (ca. 130-150 n. Chr.) und dem Jakobusbrief hat man zahlreiche Berührungen festgestellt. Ob man aber berechtigt ist, daraus eine literarische Abhängigkeit des Hermas von Jakobus abzuleiten, oder ob man mit der Erklärung „aus dem gemeinsamen Formelgut der paränetischen Tradition“ zufrieden sein muss, bleibt offen. Bei Irenaeus scheint die Berufung auf Abraham, „der ein Freund Gottes genannt wurde“ (IV,16,2; vgl. IV,13,4) auf die Benutzung des Jakobusbriefes (2,23) hinzuweisen. (Gerhard Maier, Der Brief des Jakobus, 2014, S. 23)
Im 3. Jahrhundert zitiert Origenes den Jakobusbrief häufig und nennt ihn scriptura divina (Hom in Lev 11,4) und sieht im Herrenbruder Jakobus dessen Autor. Seit dem dritten Jahrhundert wird der Brief im Osten des Römischen Reichs oft zitiert, so von Dionysius von Alexandria (248–265 Bischof), Eusebius (ca. 260/265–340), Athanasius (296–373), Methodius (gest. 311), Ephraem dem Syrer (306–373), Cyrill von Jerusalem (315–386), Gregor von Nazianz (329– 389), Chrysostomus (347–407) und Cyrill von Alexandria (gest. 444) (Maier, S. 23f).
Eusebius zählte in HE III, 25,3 den Jakobusbrief „zu den bestrittenen“ Schriften, „welche indes gleichwohl bei den meisten in Ansehen stehen“. Zu seiner Zeit war der Jakobusbrief wohl mehrheitlich als kanonisch akzeptiert. Die mehrheitliche Akzeptanz geht auch aus dem von Schnelle angeführten Zitat aus HE II, 23,25 hervor. Das Urteil „… dass er für unecht gehalten wird“, war offensichtlich nur eine Minderheitsansicht. Zur Zeit von Eusebius war der Jakobusbrief bereits als „der erste der sogenannten Katholischen Briefe“ etabliert.
Dass der Jakobusbrief höchstwahrscheinlich bereits im 1. Jahrhundert vom 1. Klemensbrief verwendet wird, ist ein starkes Gegengewicht gegen die Diskussion über die Kanonizität des Briefes im 4. Jahrhundert. Zumindest stellt diese Diskussion kein entscheidendes Argument gegen die Autorschaft des Herrenbruders Jakobus dar.
3 Fazit
Unter den von Schnelle angeführten Argumenten ist keines, das wirklich nachweisen könnte, dass der Herrenbruder Jakobus nicht der Autor des kanonischen Jakobusbriefes ist. Es ist daher nach wie vor an der Authentizität dieses Dokuments festzuhalten.
Der Autor, der uns das Wort
Euer Ja soll ein Ja sein und euer Nein ein Nein, damit ihr nicht dem Gericht verfallt. (Jakobus 5,12)
geschrieben hat, war kein Lügner.