… kein Makel haftet dir an.

Alles an dir ist schön, meine Freundin, kein Makel haftet dir an. (Hohelied 4,7)

Ich habe in einem Text über das Hohelied Argumente gesammelt, die dafür sprechen, dass es sich beim alttestamentlichen Buch Hohelied nicht um eine Sammlung profaner Liebeslieder handelt, die später allegorisch auf die Beziehung zwischen Gott und dem Volk Israel umgedeutet wurden, sondern dass dieses Buch von Anfang an als dichterische Beschreibung der Liebe zwischen Gott und seinem Volk geschrieben wurde.

Wie passt nun Hohelied 4,6 dazu? Ein verliebter Mann mag über die von ihm geliebte Frau sagen, dass alles an ihr schön ist, dass ihr kein Makel anhaftet, obwohl ihm bei objektiver Sicht klar sein mag, dass diese von Emotionen geprägte Aussage doch nicht ganz korrekt ist.

Aber ist das die Sicht Jahwes auf sein Volk Israel? Es gibt doch zahlreiche Stellen, wo Gott durch seine Propheten die Sünden des Volkes aufgedeckt und mit scharfen Worten kritisiert hat. Es war eine Konsequenz der Sünden, dass das Volk von Feinden besiegt und ins Exil verschleppt wurde. Würde dann Gott so über Israel sprechen?

Vielleicht können uns einige Verse des Propheten Hosea helfen:

2 Kehr um, Israel, zum HERRN, deinem Gott! Denn du bist zu Fall gekommen durch deine Schuld. […] 5 Ich will ihre Untreue heilen und sie aus freiem Willen wieder lieben. Denn mein Zorn hat sich von Israel abgewandt. 6 Ich werde für Israel da sein wie der Tau, damit es sprosst wie die Lotusblüte und seine Wurzeln schlägt wie der Libanon. (Hosea 14,5-6)

Das sündige Volk wird zur Umkehr aufgerufen. Aber es gibt die Verheißung der Heilung. Durch die Liebe Gottes wird das Volk sprossen wie eine Blume in ihrer Schönheit.

Oder denken wir an Worte des Propheten Jeremia:

2 So spricht der HERR: Gnade fand in der Wüste das Volk, das dem Schwert entronnen ist; ich gehe mit, um Israel zur Ruhe zu führen. 3 Aus der Ferne ist mir der HERR erschienen: Mit ewiger Liebe habe ich dich geliebt, darum habe ich dir die Treue bewahrt. 4 Ich baue dich wieder auf, du wirst aufgebaut sein, Jungfrau Israel. Du wirst dich wieder schmücken mit deinen Pauken, wirst ausziehen im Reigen der Fröhlichen. (Jeremia 31,2-4)

31 Siehe, Tage kommen – Spruch des HERRN -, da schließe ich mit dem Haus Israel und dem Haus Juda einen neuen Bund. 32 Er ist nicht wie der Bund, den ich mit ihren Vätern geschlossen habe an dem Tag, als ich sie bei der Hand nahm, um sie aus dem Land Ägypten herauszuführen. Diesen meinen Bund haben sie gebrochen, obwohl ich ihr Gebieter war – Spruch des HERRN. 33 Sondern so wird der Bund sein, den ich nach diesen Tagen mit dem Haus Israel schließe – Spruch des HERRN: Ich habe meine Weisung in ihre Mitte gegeben und werde sie auf ihr Herz schreiben. Ich werde ihnen Gott sein und sie werden mir Volk sein. 34 Keiner wird mehr den andern belehren, man wird nicht zueinander sagen: Erkennt den HERRN!, denn sie alle, vom Kleinsten bis zum Größten, werden mich erkennen – Spruch des HERRN. Denn ich vergebe ihre Schuld, an ihre Sünde denke ich nicht mehr. (Jeremia 31,31-34)

Oder an Worte Ezechiels:

25 Ich gieße reines Wasser über euch aus, dann werdet ihr rein. Ich reinige euch von aller Unreinheit und von allen euren Götzen. 26 Ich gebe euch ein neues Herz und einen neuen Geist gebe ich in euer Inneres. Ich beseitige das Herz von Stein aus eurem Fleisch und gebe euch ein Herz von Fleisch. 27 Ich gebe meinen Geist in euer Inneres und bewirke, dass ihr meinen Gesetzen folgt und auf meine Rechtsentscheide achtet und sie erfüllt. (Ezechiel 36,25-27)

Durch Vergebung und Heiligung reinigt Gott sein Volk, sodass es die Schönheit erlangt, die ein Bräutigam an seiner Braut schätzt.

In Hohelied 4,6 gibt es klare Anspielungen auf den Tempel:

Wenn der Tag verweht und die Schatten fliehen, will ich zum Myrrhenberg gehen, zum Weihrauchhügel.

Der Myrrhenberg heißt auf Hebräisch הַ֣ר הַמֹּ֔ור / har hammôr, was lautlich an den Berg Morija anklingt, auf dem nach 2 Chronik 3,1 der Tempel gebaut wurde. Und Weihrauch war nach Exodus 30,34-38 allein zur Verwendung im Heiligtum erlaubt.

Der Tempel war der Ort der Begegnung zwischen Gott und seinem Volk. Wenn Gott in seinem Heiligtum gegenwärtig ist, weist das darauf hin, dass die Beziehung zu seinem Volk (wieder) in Ordnung ist. Er kann sein Volk heiligen. Seine Braut wird dadurch schön und makellos.

Aus der Geschichte wissen wir aber, dass dieser Zustand im vollen Sinn nie erreicht wurde. Nach der Rückkehr aus dem Exil gab es zwar eine Wendung zum Positiven, aber die verheißene Vollkommenheit blieb aus. Letztlich wurde durch die Ablehnung des Messias ein Höhepunkt der Rebellion gegen Gott gesetzt.

Gott hat aus denen, die im Volk Israel dem Messias gefolgt sind, ein neues Volk geformt, das durch Gläubige aus allen Völkern zu einer universellen Größe wurde. Für das alte Volk Israel besteht nach wie vor die Verheißung der Umkehr (Römer 11,25-32). Doch die Erfüllung dieser Verheißung ist noch ausständig.

Wenn Paulus im Epheserbrief über die Vollkommenheit der Gemeinde spricht, mag er die Worte aus dem Hohelied im Hinterkopf gehabt haben.

25 Ihr Männer, liebt eure Frauen, wie auch Christus die Kirche geliebt und sich für sie hingegeben hat, 26 um sie zu heiligen, da er sie gereinigt hat durch das Wasserbad im Wort! 27 So will er die Kirche herrlich vor sich hinstellen, ohne Flecken oder Falten oder andere Fehler; heilig soll sie sein und makellos. (Epheser 5,25-27)

Wer bei der „Kirche“ an die heutigen offiziellen Kirchen denkt, wird allerdings schnell feststellen, dass diese Organisationen sehr weit weg von diesem Ideal sind. Die Kirche Jesu gibt es nicht in diesen Kreisen, sondern dort, wo Menschen tatsächlich Jesus nachfolgen. Dort wird das Werk Gottes sichtbar, auch wenn die Vollkommenheit erst in der Ewigkeit erreicht werden wird. Doch das Werk der Heiligung muss in dieser Welt stattfinden. So schreibt auch Paulus:

Denn ich werbe eifrig um euch mit dem Eifer Gottes; ich habe euch einem einzigen Mann verlobt, um euch als reine Jungfrau zu Christus zu führen. (2 Korinther 11,2)

Auch von den 144.000 auf dem Berg Zion wird gesagt, dass sie makellos sind:

4 Sie sind es, die sich nicht mit Frauen befleckt haben; denn sie sind jungfräulich. Sie folgen dem Lamm, wohin es geht. Sie allein unter allen Menschen sind freigekauft als Erstlingsgabe für Gott und das Lamm. 5 Denn in ihrem Mund fand sich keinerlei Lüge. Sie sind ohne Makel. (Offenbarung 14,4-5)

Hohelied 4,7 passt also durchaus in die Allegorie. Gott sieht seine Braut vom Ende her, von der Vollkommenheit, die sie durch ihre Begegnung mit ihm erhält.

In der katholischen und ostkirchlichen Tradition wird die Braut des Hohelieds auch auf Maria, die Mutter Jesu bezogen.

Ephräm der Syrer wandte Hohelied 4,7 auf Jesus und Maria gemeinsam an:

Du allein und deine Mutter, ihr seid viel schöner als alles, keine Makel ist an dir, Herr, und kein Fehl an deiner Mutter. (Carmina nisibena 27,44f)

Später wurde Hohelied 4,7 auf die Erbsündelosigkeit Marias hin verstanden. In dem Gebet „Tota pulchra es Maria“ heißt es in der seit dem 14. Jahrhundert verbreiteten Fassung:

Tota pulchra es, Maria et macula originalis non est in te.
Ganz schön bist du, Maria, und ein Flecken der Erbschuld ist nicht an dir.

Bei einem dichterischen Text wie dem Hohelied könnte man meinen, dass es eine gewisse Freiheit in der Auslegung gibt. Immerhin wurde dieser Vers nicht als Begründung herangezogen, als Pius IX. 1854 in der Bulle Ineffabilis Deus die Erbsündelosigkeit Marias als Dogma formulierte. Doch wenn das Hohelied mit der Intention geschrieben wurde, etwas über die Beziehung zwischen Gott und seinem Volk auszudrücken, ist es ein Missbrauch, diesen Text auf Maria zu beziehen, indem man nicht fragt, was der Text wirklich sagt, sondern eine Formulierung, die der eigenen Lehre zu entsprechen scheint, unabhängig vom Kontext auf das gewünschte Ziel hin verwendet. Das geschah im katholischen Rahmen auch mit anderen Bibelstellen. Die von Gott offenbarten Lehren sind in der Bibel ausreichend bezeugt. Sie benötigen keine künstliche Umdeutung von biblischen Texten.

Wir wollen uns freuen und jubeln und ihm die Ehre erweisen. Denn gekommen ist die Hochzeit des Lammes und seine Frau hat sich bereit gemacht. (Offenbarung 19,7)

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