Sollen wir zwiespältige Menschen hassen?

Zwiespältige Menschen hasse ich, doch deine Weisung liebe ich. (Psalm 119,113)

In diesem Vers spricht der Psalmist über sich selbst. Es gibt keine direkte Aufforderung an andere, es ihm gleichzutun. Doch ist der ganze Psalm 119, in dem der Beter seine Liebe und Hochschätzung dem Wort Gottes gegenüber ausdrückt, als Vorbild für alle Gläubigen gedacht.

Wir finden hier eine Gegenüberstellung von dem, was geliebt und dem, was gehasst werden soll. Wenn hier von Liebe und Hass die Rede ist, geht es um Gegensätze. Es geht hier tatsächlich um eine tiefe Ablehnung, nicht um eine Hintanstellung wie in Lukas 14,26.

Geliebt werden soll die Weisung oder das Gesetz (hebräisch: תּוֹרָה / tôrāh). Damit ist häufig das Gesetz des Mose gemeint, ist aber im Psalm offen für die gesamte Offenbarung Gottes.

Gehasst wird, was dem Gesetz widerspricht. Vielleicht hat aus diesem Grund die Septuaginta etwas frei übersetzt:

Die Gesetzesbrecher hasse ich […]

Im Hebräischen steht das Wort סֵעֵף / sē′ēf im Plural. Es kommt nur in Psalm 119,113 vor. Es leitet sich von dem ebenfalls nur einmal vorkommenden Verb סָעַף / sā′af mit der Bedeutung „stutzen, abhauen“ ab. Andere von dieser Wurzel abgeleitete Substantive haben die Bedeutung „Zweig“ oder „Felsspalte“. Das Verb hat etwas mit „teilen, spalten“ zu tun.

Auch in 1 Könige 18,21 wird ein Wort, das sich von dieser Wurzel ableitet, verwendet:

Und Elija trat vor das ganze Volk und rief: Wie lange noch schwankt ihr nach zwei Seiten? Wenn der HERR der wahre Gott ist, dann folgt ihm! Wenn aber Baal es ist, dann folgt diesem! Doch das Volk gab ihm keine Antwort.

Die Einheitsübersetzung gibt es mit dem Wort „Seiten“ wieder. Andere nehmen an, dass hier Krücken gemeint seien.

Aus diesen Wortverwandtschaften legt sich nahe, dass das in Psalm 119,113 Gehasste etwas mit Zwiespalt, Zweigeteiltheit zu tun hat.

Alle deutschsprachigen Übersetzungen, die mir bekannt sind, beziehen das auf Menschen mit einer zwiespältigen oder gemeinen Gesinnung. Einige Beispiele:

Die Gemeinen hasse ich, aber ich liebe dein Gesetz. – Revidierte Elberfelder 2006
Die Doppelherzigen hasse ich, und ich liebe dein Gesetz. – Elberfelder 1905
Ich hasse die Wankelmütigen und liebe dein Gesetz. – Luther 2017
Ich hasse die Flattergeister und liebe dein Gesetz. – Luther 1912
Ich hasse, die geteilten Herzens sind; aber dein Gesetz habe ich lieb. – Schlachter 2000
Wankelmütige hasse ich, deine Weisung aber habe ich lieb. – Zürcher 2007
Ich hasse die Zwiegegabelten, aber ich liebe deine Weisung. – Martin Buber

Unter den mir zugänglichen englischen Übersetzungen geht es bei den meisten auch um Menschen. Es gibt jedoch Ausnahmen:

I hate vain thoughts: but thy law do I love. – King James Version
Double minded thoughts do I hate: but Thy Law do I love. – Restored Holy Bible 14.0

Die eine der beiden Übersetzungen ist ziemlich alt, die andere war mir bis jetzt nicht bekannt, scheint eher das (sehr umfangreiche) Projekt eines Individualisten zu sein. Trotzdem zeigen diese Beispiele, dass es möglich ist, Psalm 119,113 so zu verstehen, dass es um Gedanken und Gesinnungen geht.

Einen sehr ähnlichen Vers finden wir in Psalm 119,163:

Ich hasse die Lüge, sie ist mir ein Gräuel, doch deine Weisung liebe ich.

Der zweite Teil von Vers 163 ist mit dem zweiten Teil von Vers 113 identisch. Nur im ersten Teil ist das Objekt des Hasses ein anderes. Hier geht es um die Lüge, nicht um die Lügner.

Auch aufgrund dieser engen Parallele legt sich für mich auch in Vers 113 nahe, dass es darum geht, eine zwiespältige Gesinnung abzulehnen, zuerst bei sich selbst, aber auch bei anderen Menschen, jedoch ohne die Menschen mit dieser Gesinnung zu hassen.

Dieses Thema wird auch sonst in der Bibel angesprochen:

6 Wer bittet, soll aber im Glauben bitten und nicht zweifeln; denn wer zweifelt, gleicht einer Meereswoge, die vom Wind hin und her getrieben wird. 7 Ein solcher Mensch bilde sich nicht ein, dass er vom Herrn etwas erhalten wird: 8 Er ist ein Mann mit zwei Seelen, unbeständig auf all seinen Wegen. (Jakobus 1,6-8)

Naht euch Gott, dann wird er sich euch nahen! Reinigt die Hände, ihr Sünder, läutert eure Herzen, ihr Menschen mit zwei Seelen! (Jakobus 4,8)

Niemand kann zwei Herren dienen; er wird entweder den einen hassen und den andern lieben oder er wird zu dem einen halten und den andern verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon. (Matthäus 6,24)

Die in Psalm 119,113 angeführte Liebe zum Gesetz, zum Wort Gottes soll uns dazu führen, das Hauptgebot zu erfüllen:

4 Höre, Israel! Der HERR, unser Gott, der HERR ist einzig. 5 Darum sollst du den HERRN, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft. (Deuteronomium 6,4-5)

Weil Gott ein einziger Gott ist, sollen auch wir ihn mit unserer ganzen Person lieben, nicht mit geteiltem Herzen. Die den HERRN lieben, sollen, wie es in Psalm 97,10 heißt, das Böse hassen. So soll auch das zweigeteilte Herz gehasst werden, damit wir Gott wirklich lieben können.

Weise mir, DU, deinen Weg.
Gehen will ich in deiner Treue.
Einige mein Herz,
deinen Namen zu fürchten!
(Psalm 86,11 – Buber)

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