Unter deinen Schutz und Schirm fliehen wir,
o heilige Gottesgebärerin.
Verschmähe nicht unser Gebet in unsern Nöten,
sondern erlöse uns jederzeit aus allen Gefahren,
o du glorreiche und gebenedeite Jungfrau.
Unsere Frau, unsere Mittlerin, unsere Fürsprecherin.
Versöhne uns mit deinem Sohne,
empfiehl uns deinem Sohne,
stelle uns vor deinem Sohne. Amen.
(Quelle)
Vorbemerkungen
Dieses unter Katholiken weitverbreitete Gebet ist vielleicht das älteste erhaltene Mariengebet. Die ersten fünf Zeilen1 sind auf dem üblicherweise ins 3. Jahrhundert datierten Papyrus Rylands 470 zu finden:
[Υ]ΠΟ [ΤΗΝ CΗΝ] ΕΥCΠΛ[ΑΓΧΝΙΑΝ] ΚΑ[Τ]ΑΦΕ[ΥΓΟΜΕΝ] ΘΕΟΤΟΚΕ Τ[ΑC ΗΜΩΝ] ΙΚΕCΙΑC ΜΗ Π[Α] ΡΙΔΗC ΕM ΠΕΡΙCΤΑCΕΙ ΑΛΛ ΕΚ ΚΙΝΔΥΝΟΥ ΡΥCΑΙ ΗΜΑC Μ[Ο]ΝΗ Α[ΓΝΗ, ΜΟΝ] Η ΕΥΛΟ[ΓΗΜΕΝΗ] (Quelle)
Der heute gebräuchliche deutsche Text weicht in manchen Punkten vom griechischen Original ab. Ich werde im Folgenden, wenn nötig, auf beide Varianten eingehen.
Bevor ich auf die Details dieses Gebettextes eingehe, stellt sich die Frage, inwieweit es überhaupt möglich ist, zu Menschen zu beten. Alle biblischen Gebete richten sich an Gott bzw. seinen wesensgleichen Sohn Jesus Christus. Allein der ewige, allwissende, allgegenwärtige und allmächtige Gott kann die Gebete aller Menschen hören. Ein bloßer Mensch in seiner Begrenztheit kann das nicht. Auch wenn Maria jetzt in der Gegenwart Gottes in ihrem verherrlichten Auferstehungsleib lebt, ist sie immer noch ein Mensch. Sie ist nicht allgegenwärtig und nicht allmächtig. Sie kann unsere Gebete nicht hören und daher auch nicht erhören. Daher kannte die frühe Kirche das Gebet zu Maria oder anderen verstorbenen Heiligen genauso wenig wie das Gebet zu Engeln (vergleiche hier und hier). Sollte Papyrus Rylands 470 tatsächlich aus dem 3. Jahrhundert stammen (manche datieren ihn in das 8. Jahrhundert) und sollte tatsächlich Maria angesprochen sein (da der Name Maria nicht genannt wird, könnte sich das Gebet z. B. auch an Isis richten), muss man annehmen, dass die Kreise, in denen dieses Gebet verbreitet war, sich in diesem Punkt von der urchristlichen Überlieferung abgewandt haben.
Wohin sollen wir fliehen?
HERR, mein Gott, ich flüchte mich zu dir; hilf mir vor allen Verfolgern und rette mich! (Psalm 7,2)
2 HERR, bei dir habe ich mich geborgen. Lass mich nicht zuschanden werden in Ewigkeit; rette mich in deiner Gerechtigkeit! 3 Neige dein Ohr mir zu, erlöse mich eilends! Sei mir ein schützender Fels, ein festes Haus, mich zu retten! 4 Denn du bist mein Fels und meine Festung; um deines Namens willen wirst du mich führen und leiten. 5 Du wirst mich befreien aus dem Netz, das sie mir heimlich legten; denn du bist meine Zuflucht. (Psalm 31,2-5)
4 Denn du bist meine Zuflucht, ein fester Turm gegen die Feinde. 5 In deinem Zelt möchte ich Gast sein auf ewig, mich bergen im Schutz deiner Flügel. (Psalm 61,4-5)
1 Bei dir, o HERR, habe ich mich geborgen, lass mich nicht zuschanden werden in Ewigkeit! 2 Reiß mich heraus und rette mich in deiner Gerechtigkeit! Neige dein Ohr mir zu und hilf mir! 3 Sei mir ein schützender Fels, zu dem ich allzeit kommen darf! Du hast geboten, mich zu retten, denn du bist mein Fels und meine Festung. (Psalm 71,1-3)
Diese Beispiele aus den Psalmen zeigen, dass gläubige Israeliten und damit auch Christen ihre Zuflucht allein bei Gott gefunden haben.
Im griechischen Text des Gebets steht nicht „Schutz und Schirm“, sondern eusplanchnía, was man am ehesten mit Barmherzigkeit wiedergeben könnte. Dieses Wort kommt in dieser Form in der Bibel nicht vor. Wir finden nur das Adjektiv eusplanchnos in Aufforderungen an die Christen, barmherzig zu sein (Epheser 4,32 und 1 Petrus 3,8).
Wenn es aber darum geht, dass wir bei jemandes Barmherzigkeit Zuflucht suchen, ist von der Barmherzigkeit oder vom Erbarmen Gottes die Rede.
Lasst uns also voll Zuversicht hinzutreten zum Thron der Gnade, damit wir Erbarmen und Gnade finden und so Hilfe erlangen zur rechten Zeit! (Hebräer 4,16)
Gott, sei mir gnädig nach deiner Huld, tilge meine Frevel nach deinem reichen Erbarmen! (Psalm 51,3)
Menschen, die Gottes Barmherzigkeit erfahren haben, sind auch anderen Menschen gegenüber barmherzig. Doch unsere Zuflucht finden wir nicht bei Menschen, sondern nur beim Erbarmen unseres Gottes.
Gottesgebärerin?
Dieses Gebet richtet sich an die theotókos, die „Gottesgebärerin“. Auf dem Konzil von Ephesus (431) wurde dieser Titel Marias dogmatisch festgelegt. Da Jesus vom ersten Augenblick seines menschlichen Daseins, d. h. ab seiner Empfängnis, göttlichen Wesens war, ist es korrekt, Maria Gottesgebärerin zu nennen, da das von Maria geborene Kind Gott war und ist. Es sollte damit etwas über das göttliche Wesen Jesu gesagt werden. Leider hat dieser Titel stark zu einer Förderung des unbiblischen Marienkults beigetragen. Noch missverständlicher ist der Titel „Gottesmutter“, der leicht zu dem Gedanken führen kann, dass Gott eine Mutter haben könnte. Tatsächlich wird von manchen angeblich traditionellen Katholiken die Häresie vertreten, dass Maria auch die Mutter des Vaters sei (mehr dazu hier). Maria, die Mutter des ewigen Gottessohnes, hat nie verlangt, dass wir zu ihr Zuflucht nehmen sollten. Sie hat die Menschen zu Jesus gewiesen.
Seine Mutter sagte zu den Dienern: Was er euch sagt, das tut! (Johannes 2,5)
„Verschmähe nicht unser Gebet in unsern Nöten“
Das Wort hikesía („Gebet, Bitte, Flehen“) kommt im Neuen Testament nicht vor, wird aber laut dem Wörterbuch von Walter Bauer in 2 Makkabäer 10,25; 12,42 und in 1 Klemens 59,2 verwendet. In all diesen Fällen geht es um Gebete, die an Gott gerichtet werden.
Wenn wir uns Gott mit einem aufrichtigen und reuevollen Herz im Gebet nahen, wird er uns nicht verschmähen.
Schlachtopfer für Gott ist ein zerbrochener Geist, ein zerbrochenes und zerschlagenes Herz wirst du, Gott, nicht verschmähen. (Psalm 51,19)
Wir dürfen ihn in all unseren Nöten anrufen:
Gott ist uns Zuflucht und Stärke, als mächtig erfahren, als Helfer in allen Nöten. (Psalm 46,2)
Ruf mich am Tage der Not; dann rette ich dich und du wirst mich ehren. (Psalm 50,15)
Warum sollten wir zu jemand anderem gehen, wenn Gott uns seine Hilfe zugesagt hat?
„Erlöse uns jederzeit aus allen Gefahren“
Die Bibel kennt nur einen Erlöser:
Unser Erlöser: HERR der Heerscharen ist sein Name, der Heilige Israels. (Jesaja 47,4)
Dieser Erlöser ist in Jesus Christus Mensch geworden.
Sie wird einen Sohn gebären; ihm sollst du den Namen Jesus geben; denn er wird sein Volk von seinen Sünden erlösen. (Matthäus 1,21)
Maria ist die Mutter des Erlösers. Sie selber kann uns aber nicht erlösen.
Das im Gebetstext verwendete Verb rýomai („erlösen, retten“) kommt in der Imperativform rȳsai im Neuen Testament nur in der letzten Bitte des „Vater Unsers“ vor.
Und führe uns nicht in Versuchung, sondern rette uns vor dem Bösen! (Matthäus 6,13)
Auch an allen anderen Stellen, an denen dieses Verb im Neuen Testament vorkommt, geht es um die Rettung, die Gott oder Jesus schenkt.
Wiederum wird der Adressatin dieses Gebets etwas zugeschrieben, was wir einzig von Gott erhoffen dürfen.
„Du glorreiche und gebenedeite Jungfrau“
Im griechischen Text fehlt das Wort „Jungfrau“, möglicherweise aufgrund des beschädigten Papyrusfragments. Statt „glorreiche“ steht im Griechischen monē hagnē („allein heilige, reine“). Das Adjektiv hagnós wird im Neuen Testament auch für Christen verwendet, z. B.: 2 Korinther 11,2; 1 Petrus 3,2. Wenn hier aber die „allein Reine“ angesprochen wird, dann wird sie in eine gottähnliche Stellung erhoben.
Allerdings dürfte der Ausdruck „gebenedeit“ auf Lukas 1,42 hinweisen, wo Maria als die von Gott Gesegnete eindeutig als Mensch angesprochen wird. Das griechische Wort eulogēménē könnte aber auch „Gepriesene“ meinen und würde so auch zu einem göttlichen Wesen passen.
Der spätere Zusatz
Nicht zum ursprünglichen Text gehören die letzten Zeilen des Gebets, die ebenso in Spannung oder im Gegensatz zur biblischen Lehre stehen.
„Unsere Frau“
„Frau“ ist hier sicher nicht in der Bedeutung „Gattin, Ehefrau“ gemeint, sondern vielleicht im Sinne der althochdeutschen Bedeutung „Herrin“. Doch Maria ist nicht die Herrin der Christen. Sie hat sich selbst „Magd des Herrn“ genannt (Lukas 1,38). Unter den Gläubigen gibt es keine Herren. Unser Herr ist Marias Sohn Jesus Christus. Das macht sie aber nicht zur Herrin.
„Unsere Mittlerin“
Die Bibel kennt nur einen Mittler: Jesus Christus.
Denn: Einer ist Gott, Einer auch Mittler zwischen Gott und Menschen: der Mensch Christus Jesus. (1 Timotheus 2,5)
Daher kann Maria nicht unsere Mittlerin sein. Mehr dazu im Beitrag „Maria, die Mittlerin?“
„Unsere Fürsprecherin“
Christen werden ermuntert, füreinander zu beten.
Hört nicht auf, zu beten und zu flehen! Betet jederzeit im Geist; seid wachsam, harrt aus und bittet für alle Heiligen! (Epheser 6,18)
Insofern wäre es kein Problem, wenn Maria für die anderen Christen im Gebet eintritt. Ich kann aber konkret nur für die beten, die ich kenne. Da sind wir wieder bei der eingangs erwähnten Sache, dass Maria nicht allgegenwärtig und nicht allwissend ist. Sie weiß nicht über uns Bescheid. Für sie gelten die Worte aus Jesaja über Abraham und Jakob (= Israel):
Du bist doch unser Vater! Abraham weiß nichts von uns, Israel kennt uns nicht. Du, HERR, bist unser Vater, Unser Erlöser von jeher ist dein Name. (Jesaja 63,16)
Deshalb kann sie uns nicht mit ihrer Fürbitte helfen.
Unser Fürbitter oder Beistand beim Vater ist Jesus Christus:
Meine Kinder, ich schreibe euch dies, damit ihr nicht sündigt. Wenn aber einer sündigt, haben wir einen Beistand beim Vater: Jesus Christus, den Gerechten. (1 Johannes 2,1)
„Versöhne uns mit deinem Sohne, …“
Jesus ist gekommen, um uns mit Gott zu versöhnen.
Ja, Gott war es, der in Christus die Welt mit sich versöhnt hat, indem er ihnen ihre Verfehlungen nicht anrechnete und unter uns das Wort von der Versöhnung aufgerichtet hat. (2 Korinther 5,19)
Wer Christ ist, hat diese Versöhnung mit Gott angenommen. Er braucht daher nicht vorher durch Maria mit Jesus versöhnt werden. Diese Bitte an Maria stellt die durch Jesus geschehene Erlösung infrage. Es wird sogar der Eindruck erweckt, dass Maria gnädiger als Jesus sei, wie es auch bei der angeblichen Marienerscheinung von La Salette gesagt wurde.
Jesus kennt uns durch und durch und steht auf der Seite der Seinen.
Ich bin der gute Hirt; ich kenne die Meinen und die Meinen kennen mich. (Johannes 10,14)
Darum braucht Maria ihm auch niemanden empfehlen oder vorstellen, wie es in den letzten Sätzen dieses Gebets heißt.
Sowohl der ältere, vielleicht schon aus dem 3. Jahrhundert stammende Teil dieses Gebets als auch der spätere Zusatz stehen in Widerspruch zur biblischen Lehre. Maria ist nicht unsere Zuflucht, sie ist nicht die Hörerin unsere Gebete. Sie ist nicht unsere Erlöserin, unsere Mittlerin, unsere Fürsprecherin. Sie kann und braucht uns nicht mit Jesus versöhnen.
Wir dürfen Gott für ihren Glauben und ihre Liebe danken. Wer Maria die ihr gebührende Ehre erweisen will, tut es dadurch, dass er ihrem Sohn Jesus Christus nachfolgt und sich vom „Marienkult“ fernhält, der die Mutter Jesu gegen ihren eigenen Willen vergötzt.
46 Da sagte Maria: Meine Seele preist die Größe des Herrn 47 und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter. 48 Denn auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut. Siehe, von nun an preisen mich selig alle Geschlechter. (Lukas 1,46-48)
- Die letzten vier Zeilen sind ein späterer Zusatz und finden sich z. B. in der vom Vatikan veröffentlichten Version nicht. ↩