Du bist doch unser Vater! Abraham weiß nichts von uns, Israel kennt uns nicht. Du, HERR, bist unser Vater, Unser Erlöser von jeher ist dein Name. (Jesaja 63,16)
Dieser Vers ist Teil eines Gebets, das fast zwei Kapitel des Jesajabuches umfasst (Jesaja 63,7-64,11). Ein Prophet aus der Tradition Jesajas sprach diese Worte wahrscheinlich entweder gegen Ende des babylonischen Exils oder kurz nach der Rückkehr daraus. Es geht um die Not des Volkes, die ihre Ursache in den Sünden hat. Der Prophet „erinnert“ Gott an die Hilfe, die er vorzeiten durch Mose geschenkt hat, und bittet ihn, auch jetzt wieder zu helfen.
In Vers 16 bekennt er, dass nur Gott der Vater und Erlöser seines Volkes ist. Er ist der Einzige, von dem Hilfe erwartet werden kann. Nicht einmal die Stammväter Abraham und Israel (= Jakob) können helfen. Sie wissen nicht einmal etwas über die Nöte der Menschen.
Dieser Text stammt aus einer Zeit mehr als tausend Jahre nach dem Tod der Patriarchen. Ihre Erwähnung setzt voraus, dass der Beter glaubte, dass ihr Tod nicht ihre Auslöschung bedeutete. Er sagt nicht, dass es sie nicht gibt. Aber sie wissen nichts über das Schicksal Israels. Es ist nicht so einfach festzustellen, wie viel der Prophet zu seiner Zeit über das Los der Verstorbenen wusste. Doch legt sich nahe, dass er zumindest eine theoretische Möglichkeit, dass sie helfen könnten, nicht von vornherein ausgeschlossen hat.
Aber im Gebet ist ihm klar, dass er Hilfe nur vom Vater und Erlöser Israels erwarten kann. Nur er kann helfen. Keiner sonst. Da ist es nicht nötig, vermittelnde Persönlichkeiten dazwischenzuschalten. Gott kennt das Herz der Menschen, die er liebt.
Gewiss hat die Fürbitte füreinander eine große Bedeutung in der Bibel. Auch Abraham ist während seines Lebens auf der Erde im Gebet für andere Menschen eingetreten, wie etwa für die Bewohner Sodoms (Genesis 18,23-32) oder für Abimelech (Genesis 20,17). Doch da ging es um konkrete Menschen seiner Zeit. Im Fall Sodoms war die Bosheit der Menschen so groß, dass auch das Gebet Abrahams das Gericht nicht abwenden konnte.
Nach dem Tod gibt es den Kontakt zu dieser Welt nicht mehr. Zumindest gibt es keine Aussage der Bibel in diese Richtung. Schon gar nicht gibt es eine Stelle, die dazu auffordern würde, verstorbene Gläubige um Fürbitte anzurufen.
Nun aber ist diese Fürbitte unter Katholiken und Orthodoxen gängige Praxis. Man bittet die „Heiligen“ und insbesondere Maria darum. Gewiss ist, dass die Mutter des Herrn Jesus ebenso wie alle wirklich Heiligen, die Gott bis zu ihrem Tod die Treue bewahrt haben, jetzt in der Gegenwart Gottes leben. Auch Abraham und Jakob haben ihr Ziel bei Gott erreicht.
Doch auch in der Ewigkeit sind diese verherrlichten Gläubigen nur Menschen. Auch wenn wir im Detail nur sehr wenig über den Zustand des Menschen in der Ewigkeit wissen, ist doch klar, dass ein Mensch, weil er Geschöpf ist, nur ein begrenztes Wesen ist. Insofern können sie, falls überhaupt, nur ein sehr begrenztes Wissen über die Zustände in dieser Welt haben. Hinzu kommt, dass sie in der Ewigkeit leben, wir in der Zeit, dass eine wesentliche gemeinsame Ebene fehlt.
Darum gilt, was der Prophet in Jesaja 63,16 vor dem noch begrenzten alttestamentlichen Horizont gesagt hat, nicht nur für Abraham und Jakob, sondern für alle verstorbenen Gläubigen, auch für Maria und alle Heiligen, die nun in der Anschauung Gottes leben. Sie wissen nichts von uns und können uns daher nicht helfen. Das ist auch nicht ihre Aufgabe.
Die Hilfe kommt alleine von Gott. Ihn alleine sollen und dürfen wir anrufen.
25 Wen habe ich im Himmel außer dir? Neben dir erfreut mich nichts auf Erden. 26 Mag mein Fleisch und mein Herz vergehen, Fels meines Herzens und mein Anteil ist Gott auf ewig. (Psalm 73,25-26)