Das „Vater Unser“ – ein Formelgebet?

Das „Vater Unser“ ist fixer Bestandteil der gottesdienstlichen Veranstaltungen so gut wie aller Konfessionen. Es hat seinen festen Platz in der katholischen Messe, genauso auch bei den Protestanten und Orthodoxen. Bereits in der Didache, einer frühchristlichen Schrift aus dem 2., möglicherweise bereits dem 1. Jahrhundert wird in Kapitel 8 empfohlen, es dreimal am Tag zu beten. Doch zeigt gerade dieses 8. Kapitel in Bezug auf das Fasten ein eigenartiges Verständnis der Worte Jesu:

„Bei eurem Fasten haltet es aber nicht mit den Heuchlern“; diese fasten nämlich am zweiten und fünften Tage nach dem Sabbat (d. h. am Montag und Donnerstag); ihr aber sollt fasten am vierten Tage und am Rüsttage (d. h. am Mittwoch und Freitag). (Didache 8,1)

Jesus hat das aber anders gemeint:

16 Wenn ihr fastet, macht kein finsteres Gesicht wie die Heuchler! Sie geben sich ein trübseliges Aussehen, damit die Leute merken, dass sie fasten. Amen, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn bereits erhalten. 17 Du aber, wenn du fastest, salbe dein Haupt und wasche dein Gesicht, 18 damit die Leute nicht merken, dass du fastest, sondern nur dein Vater, der im Verborgenen ist; und dein Vater, der das Verborgene sieht, wird es dir vergelten. (Matthäus 6,16-18)

Insofern kann die Didache trotz ihres hohen Alters nur bedingt etwas zum Verständnis der Worte Jesu beitragen.

Wir finden den Text dieses Gebets zweimal im Neuen Testament in unterschiedlichen Zusammenhängen.

Im Matthäusevangelium ist es ein Teil der Bergpredigt, wo Jesus in Bezug auf das Almosen, das Beten und das Fasten darauf hinweist, es nicht so zu machen wie die Heuchler.

5 Wenn ihr betet, macht es nicht wie die Heuchler! Sie stellen sich beim Gebet gern in die Synagogen und an die Straßenecken, damit sie von den Leuten gesehen werden. Amen, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn bereits erhalten. 6 Du aber, wenn du betest, geh in deine Kammer, schließ die Tür zu; dann bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist! Dein Vater, der auch das Verborgene sieht, wird es dir vergelten. 7 Wenn ihr betet, sollt ihr nicht plappern wie die Heiden, die meinen, sie werden nur erhört, wenn sie viele Worte machen. 8 Macht es nicht wie sie; denn euer Vater weiß, was ihr braucht, noch ehe ihr ihn bittet. 9 So sollt ihr beten:
Unser Vater im Himmel,
geheiligt werde dein Name,
10 dein Reich komme,
dein Wille geschehe wie im Himmel, so auf der Erde.

11 Gib uns heute das Brot, das wir brauchen!
12 Und erlass uns unsere Schulden, wie auch wir sie unseren Schuldnern erlassen haben!
13 Und führe uns nicht in Versuchung,
sondern rette uns vor dem Bösen!

14 Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, dann wird euer himmlischer Vater auch euch vergeben. 15 Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, dann wird euch euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben. (Matthäus 6,5-15)

Im Lukasevangelium bittet ein Jünger Jesus darum, sie beten zu lehren.

1 Und es geschah: Jesus betete einmal an einem Ort; als er das Gebet beendet hatte, sagte einer seiner Jünger zu ihm: Herr, lehre uns beten, wie auch Johannes seine Jünger beten gelehrt hat! 2 Da sagte er zu ihnen: Wenn ihr betet, so sprecht:
Vater,
geheiligt werde dein Name.
Dein Reich komme.
3 Gib uns täglich das Brot, das wir brauchen!
4 Und erlass uns unsere Sünden; denn auch wir erlassen jedem, was er uns schuldig ist.
Und führe uns nicht in Versuchung! (Lukas 11,1-4)

Die von Lukas überlieferte Version ist kürzer als die der Bergpredigt bei Matthäus.

Unter Theologen wird das meist so erklärt, dass Matthäus die ursprünglichere Version des Lukas erweitert hat. So schreibt Rainer Riesner, der dem konservativen Lager zuzurechnen ist:

Die drei über die lukanische Fassung hinausgehenden Teile lassen sich als überlegte Hinzufügungen erklären. Die einfache Gottesanrede „Vater“ (Lk 11,2) wurde zu einer vermutlich in den matthäischen Gemeinden gebräuchlichen, umfassender klingenden Anrufung „Unser Vater in den Himmeln“ erweitert, wie sie Jesus ähnlich gebraucht hat (Mt 11,25 / Lk 10,21). Die dritte Bitte um die Durchsetzung des Gotteswillens nimmt das Gebet von Jesus in Gethsemane auf (Mt 26,42; Mk 14,36/Mt 26,39/Lk 22,42). Die siebte Bitte um die Bewahrung vor dem Bösen, womit nach matthäischem Sprachgebrauch der Satan gemeint ist (Mt 13,39), besitzt eine Parallele in der johanneischen Tradition (Joh 17,15). Die beiden größeren Ergänzungen geschahen also mit dem bewussten Rückgriff auf Jesus-Überlieferungen.1

Doch ist es wirklich notwendig, den Unterschied so zu erklären? Wenn es Jesus nicht auf den genauen Wortlaut des Gebets ankam, konnte er in unterschiedlichen Situationen den Jüngern nahebringen, worum es im Gebet gehen soll. Das konnte er einmal mit einer längeren Version tun, einmal in einer kürzeren. Es ist durchaus möglich bis wahrscheinlich, dass Jesus während der Jahre seines Wirkens nicht nur zweimal darüber gesprochen hat. Ist nicht gerade die Tatsache, dass es zwei unterschiedliche Überlieferungen dieses Gebets gibt, ein Hinweis darauf, dass es nicht der Wille Jesu war, dass diese Worte exakt wiederholt werden sollen?

Im Laufe der Geschichte geschah ausgerechnet mit diesem Gebetstext das, wovor Jesus gewarnt hat. Es wurde zu einem Plappern wie die Heiden. Wenn etwa im Rosenkranz nicht nur die in einer konkreten Situation zu Maria gesprochenen Worte (ergänzt mit einer unbiblischen Bitte an Maria), sondern auch das „Vater Unser“ ständig wiederholt werden, so wurde bereits das Niveau buddhistischer Gebetsketten erreicht, wo es nicht um die Beziehung zu einem persönlichen Gott geht, ein Plappern wie die Heiden.

Das Ziel Jesu war doch nicht, einen neuen Gebetstext zu schaffen, der immer wieder wiederholt werden soll. Er wollte vielmehr darauf hinweisen, welche neue Beziehung seinen Jüngern zu Gott geschenkt ist.

Wer durch Jesus Kind Gottes geworden ist (Johannes 1,12), darf zu Gott wie zu seinem Vater sprechen. Einem Kind Gottes geht es in erster Linie um Gott, um seine Heiligkeit, um sein Reich, seinen Willen. Deswegen steht das im Gebet vorne. Auch die Bitte um das Brot, um alles Materielle, das wir zum Leben brauchen, hat seinen Platz. Jesus sagt uns auch, wie notwendig für uns die Vergebung unserer Schuld ist, die wir aber nur empfangen können, wenn wir selber auch vergeben. So kann uns Gott so führen, dass er uns vor Versuchungen bewahrt oder auch in den Versuchungen die Kraft zum Überwinden schenkt. Wir sollen uns im Gebet auch immer bewusst sein, dass der Sieg über das Böse und den Bösen nur durch Gottes Hilfe kommt. Jesus lehrt seine Jünger, alles im Gebet vor ihren himmlischen Vater zu bringen.

Das dürfen und sollen sie auch mit ihren eigenen Worten ausdrücken. Es geht nicht um die Wiederholung von Formeln, es geht um die Liebe zu Gott, der uns zuerst geliebt hat.


  1. Rainer Riesner, Messias Jesus, Gießen 2019, S.222. 

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