18 Was die einzelnen Menschen angeht, dachte ich mir, dass Gott sie herausgegriffen hat und dass sie selbst erkennen müssen, dass sie eigentlich Tiere sind. 19 Denn jeder Mensch unterliegt dem Geschick und auch die Tiere unterliegen dem Geschick. Sie haben ein und dasselbe Geschick. Wie diese sterben, so sterben jene. Beide haben ein und denselben Atem. Einen Vorteil des Menschen gegenüber dem Tier gibt es da nicht. Denn beide sind Windhauch. 20 Beide gehen an ein und denselben Ort. Beide sind aus Staub entstanden, beide kehren zum Staub zurück. 21 Wer weiß, ob der Atem der einzelnen Menschen wirklich nach oben steigt, während der Atem der Tiere ins Erdreich hinabsinkt? (Kohelet 3,18-21)
Solche Worte würde man eher bei einem neueren Philosophen erwarten als in einem Bibeltext, der vor mehr als 2000 Jahren geschrieben wurde. Dieser Text steht auch in einer großen Spannung nicht nur zur Lehre des Neuen Testaments, sondern auch zu Worten des Alten Testaments, wobei klar ist, dass die Lehre über die Auferstehung und die Lehre nach dem Tod im Alten Testament weniger betont ist als im Neuen. Durch die Auferstehung Jesu ist die Hoffnung auf die Auferstehung und das ewige Leben noch tiefer begründet worden. Aber auch im Alten Testament hatten Gläubige diese Erwartung, wie folgende Beispiele zeigen:
Doch Gott wird mich auslösen aus der Gewalt der Unterwelt, ja, er nimmt mich auf. (Psalm 49,16)
Du leitest mich nach deinem Ratschluss, danach nimmst du mich auf in Herrlichkeit. (Psalm 73,24)
2 Von denen, die im Land des Staubes schlafen, werden viele erwachen, die einen zum ewigen Leben, die anderen zur Schmach, zu ewigem Abscheu. 3 Die Verständigen werden glänzen wie der Glanz der Himmelsfeste und die Männer, die viele zum rechten Tun geführt haben, wie die Sterne für immer und ewig. (Daniel 12,2-3)
Die Stelle aus Daniel wurde erst später als Kohelet geschrieben, die beiden Stellen aus den Psalmen sind nicht so einfach zu datieren. Falls Kohelet, wie viele Theologen annehmen, erst in hellenistischer Zeit geschrieben wurde, sind die Psalmen älter. In diesem Fall musste der Autor des Kohelet-Buches diese Stellen kennen.
Interessant ist, dass es auch in den beiden zitierten Psalmen Menschen mit Tieren verglichen werden.
12 Sie meinen, ihre Häuser bestehen auf ewig, ihre Wohnungen von Geschlecht zu Geschlecht, nannten sie auch Länder nach ihrem Namen. 13 Doch der Mensch bleibt nicht in seiner Pracht; er gleicht dem Vieh, das verstummt. 14 So geht es denen, die auf sich selbst vertrauen, und nach ihnen denen, die sich in großen Worten gefallen. [Sela] 15 Sie sind in die Unterwelt gesetzt wie Schafe. Es weidet sie der Tod. Es herrschten über sie Redliche am Morgen. Und ihr Fels ist da, um die Unterwelt schwinden zu lassen von seiner Wohnung. 16 Doch Gott wird mich auslösen aus der Gewalt der Unterwelt, ja, er nimmt mich auf. (Psalm 49,12-16)
Die reichen Menschen, die sich auf ihre Güter verlassen haben, werden mit dem Vieh verglichen. Sie können dem Tod nicht entrinnen. Doch für die Redlichen gibt es Hoffnung. Der Psalmist erwartet, dass Gott ihn aus der Gewalt der Unterwelt befreien wird.
22 Ich war ein Tor ohne Einsicht, wie Vieh bin ich gewesen bei dir; 23 aber ich bin doch beständig bei dir, du hast meine Rechte ergriffen. 24 Du leitest mich nach deinem Ratschluss, danach nimmst du mich auf in Herrlichkeit. 25 Wen habe ich im Himmel außer dir? Neben dir erfreut mich nichts auf Erden. 26 Mag mein Fleisch und mein Herz vergehen, Fels meines Herzens und mein Anteil ist Gott auf ewig. (Psalm 73,22-26)
Hier vergleicht sich der Psalmist selber mit Vieh. Im Zusammenhang des Psalms geht es um das Glück der Frevler, mit dem er sein eigenes Unglück verglich. Doch er verstand, dass er sich durch diesen Vergleich selber zu einem Toren ohne Einsicht gemacht hat, dass er wie ein Stück Vieh vor Gott war. Er hat nur auf die Situation geschaut, hatte aber nicht den Überblick, den Gott hat. Er wollte durch den Vergleich mit Vieh seinen eigenen Unverstand ausdrücken.
In diesen beiden Psalmen ist der Vergleich mit Tieren auf einer anderen Ebene als bei Kohelet. In den Psalmen geht es entweder um die Frevler, die sich das Leben auf der Erde einrichten, als hätte es kein Ende oder um den Unverstand des Psalmisten. Bei Kohelet handelt es sich aber um eine sehr allgemeine Aussage über den Menschen. Tiere sterben und Menschen sterben. Da gibt es keinen Unterschied. Kohelet scheint dasselbe zu sagen, wie es Freidenker im 19. Jahrhundert formulierten:
Schafft hier das Leben gut und schön, kein Jenseits ist, kein Aufersteh’n!
Der Inhalt des ersten Teils dieses Satzes findet sich zwar nicht im einleitend zitierten Text aus Kohelet 3, aber anderswo im Buch:
Da pries ich die Freude; denn es gibt für den Menschen kein Glück unter der Sonne, es sei denn, er isst und trinkt und freut sich. Das soll ihn begleiten bei seiner Arbeit während der Lebenstage, die Gott ihm unter der Sonne geschenkt hat. (Kohelet 8,15)
Der Unterschied zu den Freidenkern besteht vor allem darin, dass Kohelet die Existenz Gottes nicht angezweifelt hat.
Wenn Kohelet in 3,20 von der Rückkehr zum Staub spricht, ist das eine Anspielung auf Genesis 3,19, wo Gott nach dem Sündenfall zum Menschen sprach:
Im Schweiße deines Angesichts wirst du dein Brot essen, bis du zum Erdboden zurückkehrst; denn von ihm bist du genommen, Staub bist du und zum Staub kehrst du zurück.
Hier wird der irdische Tod als eine Konsequenz der Sünde dargestellt. Durch die Sünde verlor der Mensch den besonderen Schutz Gottes, der ihn vor dem Tod bewahrt hätte, der seiner materiellen Natur genauso innewohnte wie den Tieren. Insofern kann man sagen, dass der Mensch infolge seines Sündigens den Tieren wieder ähnlicher geworden ist.
Wenn Kohelet Genesis 3,19 kannte, dürfen wir voraussetzen, dass ihm auch Genesis 1,27 bekannt war, wo es heißt:
Gott erschuf den Menschen als sein Bild, als Bild Gottes erschuf er ihn. Männlich und weiblich erschuf er sie.
Gerade die Gottebenbildlichkeit des Menschen unterscheidet ihn von den Tieren. Warum hat dann Kohelet das nicht erwähnt? Er hat nur in Vers 21 die skeptische Frage gestellt:
Wer weiß, ob der Atem der einzelnen Menschen wirklich nach oben steigt, während der Atem der Tiere ins Erdreich hinabsinkt?
Für „Atem“ steht im Hebräischen רוּחַ / rûach, was auch Geist heißen kann. Nur bei Tieren kann nicht von einem „Geist“ die Rede sein. Kohelet musste auch Genesis 2,7 kennen:
Da formte Gott, der HERR, den Menschen, Staub vom Erdboden, und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen.
Wenn es heißt, dass Gott den Lebensatem in den Menschen geblasen hat, weist das auf die Einzigartigkeit des Menschen im Gegensatz zum Tier hin. Nur beim Menschen hat Gott das gemacht, nicht bei den Tieren. Nur der Mensch ist für die Gemeinschaft mit Gott bestimmt.
Interessant ist, dass Kohelet etwas früher in Kapitel 3 durchaus auf eine Besonderheit des Menschen hinwies:
Das alles hat er (= Gott) schön gemacht zu seiner Zeit. Überdies hat er die Ewigkeit in ihr (= der Menschen) Herz hineingelegt, doch ohne dass der Mensch das Tun, das Gott getan hat, von seinem Anfang bis zu seinem Ende wiederfinden könnte. (Kohelet 3,11)
Gott hat die Ewigkeit ins Herz der Menschen hineingelegt. Das ist der wesentliche Unterschied zum Tier. Das zeigt, dass Gott für den Menschen mehr will als nur das vergängliche Leben auf dieser Erde. Sogar der Atheist Nietzsche erkannte:
Doch alle Lust will Ewigkeit -,
– will tiefe, tiefe Ewigkeit! (Also sprach Zarathustra)
Gott hat dem Menschen die Sehnsucht nach der Ewigkeit ins Herz gelegt, weil der Mensch für die ewige Gemeinschaft mit Gott bestimmt ist. Das ist Gottes Wille auch für den gefallenen Menschen, der Gottes Werk nur mehr bruchstückhaft erkennen kann. Deswegen hat Gott uns seinen Sohn gesandt, damit er uns von der Sünde und all ihren Konsequenzen frei machen kann, damit die von Gott gewollte ewige Gemeinschaft mit den nach seinem Bild geschaffenen Menschen Wirklichkeit werden kann.
Doch wie sollen wir über Kohelet denken, der einerseits sieht, dass Gott dem Menschen die Ewigkeit ins Herz gelegt hat, andererseits aber den Menschen mit dem Tier auf eine Stufe stellt?
Ich denke, dass auch hier die in früheren Beiträgen vorgeschlagene Erklärung passt, dass der inspirierte Autor dieses Buches am Beispiel des von Gott abgefallenen Salomo die Gedanken eines Menschen ohne Gott zeigen wollte. Mit einem Menschen „ohne Gott“ meine ich nicht einen Atheisten. Gott wird immer wieder im Buch erwähnt. Doch Gott ist nicht mehr die alles bestimmende Wirklichkeit im Leben. Das hat zu einem Erkenntnisverlust geführt. Er ist immer noch ein weiser Mann mit tief philosophischen Gedanken, der vieles richtig erkennt. Aber es fehlt ihm die Beziehung zu Gott, er stößt an die Grenzen menschlicher Erkenntnis.
Diese Grenzen werden überschritten in Jesus Christus. In ihm hat sich Gott uns zugewandt und seine Weisheit offenbart.
In ihm sind alle Schätze der Weisheit und Erkenntnis verborgen. (Kolosser 2,3)