[…] 6 damit man vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Untergang erkennt, dass es außer mir keinen Gott gibt. Ich bin der HERR und sonst niemand. 7 Der das Licht formt und das Dunkel erschafft, der das Heil macht und das Unheil erschafft, ich bin der HERR, der all dies macht. (Jesaja 45,6-7)
Dieser prophetische Text aus der Endphase des babylonischen Exils betont in klarer Weise, dass es nur einen einzigen Gott gibt. Es gibt keinen anderen Gott als JHWH, den Gott Israels. Diese Worte sollten den nach Babylonien verbrachten Juden Stärkung und Trost schenken. Die anscheinend so mächtigen Götter ihrer Herren sind keine Götter. Es gibt sie nicht. Der Gott dieses kleinen verschleppten Volkes ist der einzig wahre Gott, der Ewige, der Schöpfer der ganzen Welt, der einzige Schöpfer.
Formal richten sich diese Worte an den Perserkönig Kyros (Vers 1), der mit dem Ehrentitel „Gesalbter“ (Messias, Christos) angesprochen wird. Er sollte das babylonische Reich erobern und die jüdischen Exilierten die Freiheit und die Rückkehr in das ihnen von Gott verheißene Land ermöglichen. Auch das zeigt, dass Gott viel mehr ist als nur der Nationalgott Israels. Er ist der Herrscher über die ganze Welt und kann auch die Könige anderer Völker zur Ausführung seines Plans verwenden. Durch dieses Wirken Gottes sollte auch andere Völkern „vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Untergang“ erkennen, dass Israels Gott der einzige und wahre Gott ist.
Doch wie sollen wir die Aussage, dass Gott die Finsternis und das Unheil schafft, verstehen? Gott ist gut, absolut gut.
Das ist die Botschaft, die wir von ihm gehört haben und euch verkünden: Gott ist Licht und keine Finsternis ist in ihm. (1 Johannes 1,5)
Jede gute Gabe und jedes vollkommene Geschenk kommt von oben herab, vom Vater der Gestirne, bei dem es keine Veränderung oder Verfinsterung gibt. (Jakobus 1,17)
Gibt es bei Gott dann doch eine dunkle Seite, und ist er, so wie Allah ein Ränkeschmied?
Das von der Einheitsübersetzung verwendete Wort „Unheil“ in Jesaja 45,7 ist nicht die Hauptbedeutung dieses Wortes. Die Übersetzer haben es vermutlich in Gegenüberstellung zum Wort „Heil“ (שָׁלוֹם / šālôm) gewählt. Das Wort רַע / ra′ hat die Grundbedeutung „böse, schlecht“. Es hat ein sehr großes Bedeutungsspektrum. Es kann für das moralisch Böse stehen, aber auch für vieles, was dem Menschen unangenehm oder widerwärtig ist. So werden wir in Psalm 97,10 aufgefordert, das Böse zu hassen. Hier geht es offenkundig um das moralisch Böse. Auch wenn Jesaja seinen Zeitgenossen vorwirft, die Maßstäbe über Gut und Böse zu verdrehen, war das moralisch Böse gemeint.
Wehe denen, die das Böse gut und das Gute böse nennen, die die Finsternis zum Licht und das Licht zur Finsternis machen, die das Bittere süß und das Süße bitter machen. (Jesaja 5,20)
Eine andere Bedeutung finden wir in den Worten Ijobs zu seiner Frau:
Er aber sprach zu ihr: Wie eine Törin redet, so redest du. Nehmen wir das Gute an von Gott, sollen wir dann nicht auch das Böse annehmen? Bei alldem sündigte Ijob nicht mit seinen Lippen. (Ijob 2,10)
Ijob wollte gewiss nicht sagen, dass die vielen Unglücksfälle, die ihm zugestoßen sind, ein moralisch böses Handeln Gottes zeigen. Aber es war schlecht in dem Sinn, dass es Leid und Schmerz verursacht hat. Im Rahmen dieser Erzählung war Ijob nichts über das Wirken Satans bekannt. Aber für ihn war klar, dass nichts ohne Gott geschieht. Gott steht über allem, weiß um alles und könnte das Schlechte auch verhindern. Insofern kam das Böse, das Ijob widerfahren ist, aus der Hand Gottes.
In Jesaja 45,7 wird das Problem noch dadurch verschärft, dass gerade im Zusammenhang mit den negativen Worten „Finsternis“ und „Unheil / Böses“ das Verb בָּרָא / bārā′ verwendet wird. Dieses Wort bedeutet „schaffen“ und wird im Alten Testament nur von Gott ausgesagt.1 Es kommt nie im Zusammenhang mit Menschen oder den Göttern anderer Völker vor. Auf diese Weise betont der Prophet in starker Weise, dass Gott der Urheber der Finsternis und des Unheils ist. Im Zusammenhang mit dem Licht und dem Heil stehen keine ausschließlich für Gott verwendete Verben. Es sieht fast so aus, als ob hier Gottes Urheberschaft an der Finsternis und am Unheil betont werden sollte.
Im Zusammenhang mit der Finsternis könnte man meinen, dass es um eine Anspielung auf die Schöpfungserzählung geht, wo es heißt:
3 Gott sprach: Es werde Licht. Und es wurde Licht. 4 Gott sah, dass das Licht gut war. Und Gott schied das Licht von der Finsternis. 5 Und Gott nannte das Licht Tag und die Finsternis nannte er Nacht. Es wurde Abend und es wurde Morgen: erster Tag. (Genesis 1,3-5)
Dann wäre mit der Finsternis die natürliche nächtliche Dunkelheit gemeint. Doch weist die Parallele zwischen „Finsternis“ und „Unheil / Böses“ eher nicht in diese Richtung.
Ich denke, dass der Prophet tatsächlich die Allmacht des einzigen Gottes darlegen wollte. Er wollte aber nicht sagen, dass das moralisch Böse von Gott kommt. Dadurch, dass Gott den Menschen mit Freiheit ausgestattet hat, weil es ohne Freiheit keine Liebe geben kann, war auch die Möglichkeit zum Bösen gegeben, das in der Ablehnung des Guten besteht. Freiheit und Liebe sind aber Dinge, die gut sind. Kein Mensch oder sonstiges von Gott geschaffenes Geistwesen ist gezwungen, sich der Liebe Gottes zu verweigern und Böses zu tun.
Der Prophet aus der Schule Jesajas wollte seinen Zeitgenossen sagen, dass es nicht die anderen Götter, insbesondere die babylonischen, waren, die die Finsternis und das Unheil des Exils über Israel gebracht haben. Es war kein Sieg der babylonischen Götter, dass Jerusalem und Gottes Tempel zerstört wurden, wo Israels Gott nur hilflos zuschauen konnte. Es war Gott, der das bewirkt hat, um sein Volk, das sich in seinen Sünden zugrunde richtete, zu züchtigen und zur Umkehr zu führen. Gott, der durch die Babylonier das Unheil gebracht hatte, wird nun durch den Sieg des Kyros wieder Licht und Heil über sein Volk bringen. Die Geschichte ist nicht das Ergebnis des Kampfes verschiedener Götter gegeneinander. Es ist Gott, der in ihr und durch sie wirkt. Das schließt allerdings nicht den hier nicht thematisierten Einfluss der in freier Entscheidung handelnden Menschen aus.
Gottes Ziel ist nicht Finsternis und Unheil, sondern Licht und Heil. Deswegen heißt es später im selben Kapitel:
Es gibt keinen Gott außer mir; außer mir gibt es keinen gerechten und rettenden Gott. 22 Wendet euch mir zu und lasst euch erretten, alle Enden der Erde, denn ich bin Gott und sonst niemand!
(Jesaja 45,21c-22)