Jesus und die Vögel aus Lehm

In den beiden Versen, in denen der Koran über die Wunder Jesu spricht, wird auch ein Wunder erwähnt, das wir in der Bibel nicht finden.

Und (Er wird ihn schicken) als einen Gesandten zu den Kindern Isra’ils (, zu denen er sagen wird): ,Gewiß, ich bin ja mit einem Zeichen von eurem Herrn zu euch gekommen: daß ich euch aus Lehm (etwas) schaffe, (was so aussieht) wie die Gestalt eines Vogels, und dann werde ich ihm einhauchen, und da wird es ein (wirklicher) Vogel sein. Und ich werde mit Allahs Erlaubnis den Blindgeborenen und den Weißgefleckten heilen und werde Tote mit Allahs Erlaubnis wieder lebendig machen. Und ich werde euch kundtun, was ihr eßt und was ihr in euren Häusern aufspeichert. Darin ist wahrlich ein Zeichen für euch, wenn ihr gläubig seid. (Sure 3,49)

Wenn Allah sagt: „O ‚Isa, Sohn Maryams, gedenke Meiner Gunst an dir und an deiner Mutter, als Ich dich mit dem Heiligen Geist stärkte, so daß du in der Wiege zu den Menschen sprachst und im Mannesalter; und als Ich dich die Schrift, die Weisheit, die Tora und das Evangelium lehrte; und als du aus Lehm mit Meiner Erlaubnis (etwas) schufst, (was so aussah) wie die Gestalt eines Vogels, und ihr dann einhauchtest, und sie da ein (wirklicher) Vogel wurde mit Meiner Erlaubnis; und (als) du den Blindgeborenen und den Weißgefleckten mit Meiner Erlaubnis heiltest und Tote mit Meiner Erlaubnis (aus den Gräbern) herauskommen ließest; und als Ich die Kinder Isra’ils von dir zurückhielt, als du mit den klaren Beweisen zu ihnen kamst, worauf diejenigen von ihnen, die ungläubig waren, sagten: ,Das ist nichts als deutliche Zauberei‘.“ (Sure 5,110)

Im sogenannten Kindheitsevangelium des Thomas, das aus dem 2. oder 3. Jahrhundert stammt, finden wir in Kapitel 2 folgenden Text:

1 Als dieser Knabe Jesus fünf Jahre alt geworden war, spielte er an einer Furt eines Baches; das vorbeifließende Wasser leitete er in Gruben zusammen und machte es sofort rein; mit dem bloßen Worte gebot er ihm. 2 Er bereitete sich weichen Lehm und bildete daraus zwölf Sperlinge. Es war Sabbat, als er dies tat. Auch viele andere Kinder spielten mit ihm. 3 Als nun ein Jude sah, was Jesus am Sabbat beim Spielen tat, ging er sogleich weg und meldete dessen Vater Joseph: „Sieh, dein Knabe ist am Bach, er hat Lehm genommen und zwölf Vögel gebildet und hat den Sabbat entweiht.“ 4 Als nun Joseph an den Ort gekommen war und (es) gesehen hatte, da herrschte er ihn an: „Weshalb tust du am Sabbat, was man nicht tun darf?“ Jesus aber klatschte in die Hände und schrie den Sperlingen zu: „Fort mit euch!“ Die Sperlinge öffneten ihre Flügel und flogen mit Geschrei davon. 5 Als die Juden das sahen, staunten sie, gingen weg und erzählten ihren Ältesten, was sie Jesus hatten tun sehen. (Kindheitsevangelium des Thomas 2,1-5, zitiert nach Wilhelm Schneemelcher (Hg.), Neutestamentliche Apokryphen, Bd. 1: Evangelien, Tübingen 1990, S. 353. Quelle: Corpus Coranicum)

Eine ähnliche Version dieser Geschichte gibt es auch im Arabischen Kindheitsevangelium 46. Dieses wurde vermutlich im 6. Jahrhundert verfasst und baut auf der durch das Kindheitsevangelium des Thomas begründeten Tradition auf.

Beide „Evangelien“ gehören nicht zur Bibel, sondern sind Teil einer umfangreichen apokryphen Literatur, die deutlich später als die biblischen Schriften abgefasst wurden. Es handelt sich um fantasievolle Geschichten, die zwar einen gewissen Unterhaltungswert hatten und deswegen auch beliebt waren, aber als Geschichtsquelle nicht verwendet werden können. Das Kindheitsevangelium des Thomas hat mit dem Apostel Thomas nichts zu tun. Apokryphe Evangelien haben sich oft als Schriften eines Apostels ausgegeben, um dadurch eine Autorität zu beanspruchen, die sie nicht hatten. Diese Werke wurden niemals als Heilige Schrift anerkannt.

Es ist nicht notwendig, anzunehmen, dass der Autor der 3. und der 5. Sure eines dieser beiden Werke direkt kannte. Aber er war mit dem Stoff vertraut, der nicht nur schriftlich, sondern auch mündlich weitergegeben werden konnte. Der Autor hatte nicht das geistliche Beurteilungsvermögen, diese Legende von den echten Wundern Jesu zu unterscheiden. Deshalb erwähnt er sie in einem Zusammenhang mit den Blindenheilungen und Totenerweckungen Jesu.

Wenn nun der Autor dieser beiden Verse eine Legende für bare Münze genommen hat, also den legendären Charakter dieser Erzählung nicht durchschaut hat, ist offensichtlich, dass der Autor dieser Verse nicht Gott sein kann. Es muss sich zwangsläufig um einen fehlbaren Menschen handeln, der diese Texte formuliert hat.

Es gibt aber zwei Aspekte in diesen Versen, die in den apokryphen Texten nicht vorhanden sind, die es wert sind, darüber nachzudenken.

  • Beide koranischen Texte sprechen darüber, dass Jesus geschaffen hat. Das Verb aus der Wurzel khā lām qāf (خ ل ق) hat an allen anderen Stellen im Koran die Bedeutung „schaffen“ im Sinne eines göttlichen Handelns. Siehe dazu diese Aufstellung im Corpus Quran. Das heißt doch, dass der Koran Jesus ein göttliches Handeln zuschreibt, gewiss mit der Erlaubnis Allahs. Sollte das einen Muslim nicht zum Nachdenken bringen, dass selbst im Koran darüber zu lesen ist, dass Jesus geschaffen hat, also etwas getan hat, was nur Gott tun kann?
    Jesus ist kein zweiter Gott neben seinem Vater. Es ist der eine und einzige Gott, der wirkt. Das Wirken des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes kann nicht voneinander getrennt werden.
    Nach der Bibel hat Jesus keine Vögel aus Lehm geschaffen, sondern viel mehr. Er ist als das göttliche Wort der Schöpfer des Universums.
    Alles ist durch das Wort geworden und ohne es wurde nichts, was geworden ist. (Johannes 1,3)
    16 Denn in ihm wurde alles erschaffen im Himmel und auf Erden, das Sichtbare und das Unsichtbare, Throne und Herrschaften, Mächte und Gewalten; alles ist durch ihn und auf ihn hin erschaffen. 17 Er ist vor aller Schöpfung und in ihm hat alles Bestand. (Kolosser 1,16-17)

    Jesu schöpferisches Wirken erfährt auch jeder, der auf seinen Ruf antwortet und ihm nachfolgt:
    Wenn also jemand in Christus ist, dann ist er eine neue Schöpfung: Das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden. (2 Korinther 5,17)
  • In beiden Versen ist davon die Rede, dass Jesus die Vögel aus Lehm angehaucht hat und dadurch diese Figuren zu wirklichen Vögeln wurden.
    Das erinnert an eine Stelle im Johannesevangelium, wo Jesus nach seiner Auferstehung seinen Jüngern erschien.
    Nachdem er das gesagt hatte, hauchte er sie an und sagte zu ihnen: Empfangt den Heiligen Geist! (Johannes 20,22)
    Jesus hat keine sinnlosen Wunder gemacht, indem er Lehmfiguren in Vögel verwandelt hat, die dann weggeflogen sind. Jesus hat viel mehr gemacht. Er hat seinen Jüngern den Heiligen Geist geschenkt. Er hat ihnen dadurch die Vollmacht gegeben, die sie zur Verkündigung des Evangeliums brauchten. Er hat ihnen ein neues Leben in einer tiefen Beziehung zum himmlischen Vater geschenkt. In dieser Hinsicht hängt das Anhauchen mit dem Schaffen zusammen.

So steckt auch in dieser vom Koran wiedergegebenen Legende ein versteckter Aufruf an Muslime, sich Jesus zuzuwenden, der in ihnen ein neues Leben schaffen kann. Er tut das durch den Heiligen Geist, den er als Frucht der Erlösung all seinen Jüngern schenkt.

Wer den Sohn hat, hat das Leben; wer den Sohn Gottes nicht hat, hat das Leben nicht. (1 Johannes 5,12)

Kommentare sind geschlossen.

Bloggen auf WordPress.com.

Nach oben ↑