Es gibt ein sehr zentrales biblisches Thema, das meines Wissens im Koran nicht oder bestenfalls am Rande vorkommt. Es ist nicht irgendein theologisches Thema, das vielleicht nicht so wichtig ist. Es ist das Thema, das sich quer durch die Bibel von Genesis bis Offenbarung zieht. Es geht um die Gemeinschaft mit Gott. Weil Gott unser Schöpfer ist, sind wir auf ihn hingeordnet. Er ist unser Ursprung und Ziel. Darum brauchen wir Gemeinschaft mit ihm. Sein Wille ist es, uns diese Gemeinschaft zu schenken und von seiner Seite alles zu tun, um alle Hindernisse aus dem Weg zu räumen. In Jesus hat er schon alles dafür getan. Es liegt nun am Menschen zum Ruf Gottes Ja zu sagen.
Der Garten Eden, in den Gott den Menschen der Paradieseserzählung zufolge gesetzt hat, drückt nicht nur die Harmonie des Menschen mit der Natur aus, sondern ganz wesentlich die ungestörte Beziehung zu Gott. Das ist gemeint, wenn es heißt, dass Gott im Garten wandelte.
Und sie hörten die Stimme des HERRN, Gottes, der im Garten wandelte bei der Kühle des Tages. (Genesis 3,8a)
Gott wollte den Menschen nahe sein. Die Menschen haben sich allerdings durch ihre Sünde der Nähe Gottes unwürdig erwiesen und haben sich versteckt. Der Heilsplan Gottes blieb bestehen.
Im Volk Israel sollte das Heiligtum der Ort sein, an dem Gott seine besondere Nähe schenkte.
Sie sollen mir ein Heiligtum machen! Dann werde ich in ihrer Mitte wohnen. (Exodus 25,8)
11 Ich schlage meine Wohnung in eurer Mitte auf und habe gegen euch keine Abneigung. 12 Ich wandle in eurer Mitte; ich bin euer Gott und ihr seid mein Volk. (Levitikus 26,11-12)
Auch wenn aufgrund der Sünden des Volkes Israel das Heiligtum der Zerstörung anheimfiel, blieb doch die Verheißung der Propheten aufrecht, dass Gott in der Mitte seines Volkes wohnen werde.
15 Der HERR hat das Urteil gegen dich aufgehoben und deine Feinde zur Umkehr gezwungen. Der König Israels, der HERR, ist in deiner Mitte; du hast kein Unheil mehr zu fürchten. 16 An jenem Tag wird man zu Jerusalem sagen: Fürchte dich nicht, Zion! Lass die Hände nicht sinken! 17 Der HERR, dein Gott, ist in deiner Mitte, ein Held, der Rettung bringt. Er freut sich und jubelt über dich, er schweigt in seiner Liebe, er jubelt über dich und frohlockt, wie man frohlockt an einem Festtag. (Zefanja 3,15-17)
Zefanja hatte bereits vor der Tempelzerstörung gewirkt. Weder seine Worte noch die anderer Propheten haben die tiefgreifende Änderung in der Gesinnung des Volkes Israel bewirkt, die die Katastrophe noch verhindert hätte. Aber seine Verheißung blieb.
Nach dem Exil finden wir ähnliche Worte beim Propheten Sacharja.
Ich selbst – Spruch des HERRN – werde für Jerusalem ringsum eine Mauer von Feuer sein und zur Herrlichkeit werden in seiner Mitte. (Sacharja 2,9)
An jenem Tag werden sich viele Völker dem HERRN anschließen und sie werden mein Volk sein und ich werde in deiner Mitte wohnen. Dann wirst du erkennen, dass der HERR der Heerscharen mich zu dir gesandt hat. (Sacharja 2,15)
So spricht der HERR: Ich bin nach Zion zurückgekehrt und werde wieder in der Mitte Jerusalems wohnen. Dann wird Jerusalem Stadt der Treue heißen und der Berg des HERRN der Heerscharen Heiliger Berg. (Sacharja 8,3)
Ein anderer Prophet hat die Gegenwart Gottes weniger mit dem Tempel als mit der Gesinnung der Menschen verbunden.
Denn so spricht der Hohe und Erhabene, er wohnt in Ewigkeit, sein Name ist Der Heilige: Als Heiliger wohne ich in der Höhe, aber ich bin auch bei dem Zerschlagenen und dem im Geist Niedrigen, um den Geist der Niedrigen wieder aufleben zu lassen und das Herz der Zerschlagenen neu zu beleben. (Jesaja 57,15)
Gott ist dort, wo die Menschen demütig sind, wie es auch in Psalm 51 heißt:
Schlachtopfer für Gott ist ein zerbrochener Geist, ein zerbrochenes und zerschlagenes Herz wirst du, Gott, nicht verschmähen. (Psalm 51,19)
Der Tempel wurde wieder errichtet, doch die tiefgehende Änderung im Volk Gottes blieb aus.
In völlig neuer Weise hat Gott durch das Kommen Jesu unter seinem Volk gewohnt:
Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt und wir haben seine Herrlichkeit geschaut, die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit. (Johannes 1,14)
Ein großer Teil des Volkes Israel hat diese Herrlichkeit verworfen. Der Wille Gottes zur Gemeinschaft mit seinem Volk besteht weiter.
Jesus hat seinen Jüngern verheißen:
Denn wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen. (Matthäus 18,20)
19 Darum geht und macht alle Völker zu meinen Jüngern; tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes 20 und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe. Und siehe, ich bin mit euch alle Tage bis zum Ende der Welt. (Matthäus 28,19-20)
Die Gemeinde der Gläubigen ist der neue geistliche Tempel Gottes:
Wie verträgt sich der Tempel Gottes mit Götzenbildern? Wir sind doch der Tempel des lebendigen Gottes; denn Gott hat gesprochen: Ich will unter ihnen wohnen und mit ihnen gehen. Ich werde ihr Gott sein und sie werden mein Volk sein. (2 Korinther 6,16)
Christus aber ist treu als Sohn, der über das Haus Gottes gesetzt ist. Sein Haus sind wir, wenn wir an der Zuversicht und an der Hoffnung festhalten, derer wir uns rühmen. (Hebräer 3,6)
Vollendet und offenbar wird die Gegenwart Gottes unter den Menschen in der Ewigkeit sein.
1 Dann sah ich einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, auch das Meer ist nicht mehr. 2 Ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott her aus dem Himmel herabkommen; sie war bereit wie eine Braut, die sich für ihren Mann geschmückt hat. 3 Da hörte ich eine laute Stimme vom Thron her rufen: Seht, die Wohnung Gottes unter den Menschen! Er wird in ihrer Mitte wohnen und sie werden sein Volk sein; und er, Gott, wird bei ihnen sein. (Offenbarung 21,1-3)
22 Einen Tempel sah ich nicht in der Stadt. Denn der Herr, ihr Gott, der Herrscher über die ganze Schöpfung, ist ihr Tempel, er und das Lamm. 23 Die Stadt braucht weder Sonne noch Mond, die ihr leuchten. Denn die Herrlichkeit Gottes erleuchtet sie und ihre Leuchte ist das Lamm. (Offenbarung 21,22-23)
Das Wesentliche des Himmels oder des ewigen Paradieses ist nicht die Erfüllung aller möglichen irdischen Wünsche, wie es die koranischen Paradiesesbeschreibungen vermitteln, sondern die ewige und unzerstörbare Beziehung zu Gott. Das ist Gottes Plan für die Menschen, dass wir bei ihm sind und er bei uns, und wir so unser ewiges Glück und unsere tiefste Erfüllung erfahren, die alle unsere Vorstellungen übersteigen.
Wenn gerade dieser Punkt im Koran fehlt oder zumindest sehr stark unterrepräsentiert ist, lässt das erkennen, wie sehr die Autoren der koranischen Texte dem Irdischen verhaftet waren und sie so ihre irdischen Erwartungen in ein Jenseits, das ihren Wünschen entsprach, hineinprojiziert haben.
Für wahre Gläubige gelten die Worte aus Psalm 73:
25 Wen habe ich im Himmel außer dir? Neben dir erfreut mich nichts auf Erden. 26 Mag mein Fleisch und mein Herz vergehen, Fels meines Herzens und mein Anteil ist Gott auf ewig. (Psalm 73,25-26)