Das Buch Baruch – antichristliche Propaganda in der katholischen Bibel?

1 Allgemeines zum Kanon

Das Buch Baruch ist eines jener Bücher, die von den Katholiken, nicht aber von den Juden und den Protestanten zum Kanon des Alten Testaments gerechnet werden. In manchen protestantischen Bibeln ist es unter der Abteilung „Apokryphe Schriften“ enthalten. Katholiken nennen diese Bücher „deuterokanonisch“ (zweitkanonisch), was voraussetzt, dass es unter den Juden zwei unterschiedliche Verzeichnisse der Heiligen Schriften gegeben habe. Der hebräische Kanon unter den Hebräisch oder Aramäisch sprechenden Juden Palästinas habe diese Bücher nicht enthalten, wohl aber ein zweiter, umfangreicherer Kanon unter den griechischsprachigen Juden Alexandriens in Ägypten.

Endgültig fixiert wurde der katholische Kanon erst am Konzil von Trient, am 8. April 1546 im Dekret Sacrosancta Oecumenica.

Selbst falls die Juden Alexandriens tatsächlich einen umfangreicheren Kanon gehabt hätten, was bisher nicht bewiesen wurde, so zählt für Christen, welche Bücher Jesus als Heilige Schrift betrachtet hat. Jesus lebte in Israel, nicht in Ägypten. Somit kann vorausgesetzt werden, dass Jesus so wie die anderen Juden seines Bereichs dem hebräischen Kanon gefolgt ist. Es sind auch keine Zitate Jesu aus den von den „Deuterokanonischen“ Schriften bekannt. Auch die älteste christliche Liste der Bücher des Alten Testaments kennt diese Schriften nicht. Die frühen Christen sind dem Beispiel ihres Herrn gefolgt und hatten diese Bücher nicht in ihrem Kanon.

2 Zum Buch Baruch

In modernen Bibeln umfasst das Buch Baruch sechs Kapitel. Davon gehören nur die ersten fünf Kapitel zum eigentlichen Buch Baruch, um das es hier geht. Kapitel 6 ist der sogenannte Brief des Jeremia, eine eigenständige Schrift, die ursprünglich mit dem Buch Baruch nicht verbunden war. Auch in den modernen Ausgaben der Septuaginta, der alten griechischen Übersetzung des Alten Testaments, sind Baruch und der Brief des Jeremia zwei voneinander getrennte Schriften. In diesem Beitrag beschäftige ich mich nur mit dem eigentlichen Buch Baruch.

2.1 Verfasser und Abfassungszeit

In Baruch 1 heißt es:

1 Das ist der Wortlaut des Buches, den Baruch, der Sohn Nerijas, des Sohnes Machsejas, des Sohnes Zidkijas, des Sohnes Hasadjas, des Sohnes Hilkijas, in Babel aufgeschrieben hat. 2 Es war im fünften Jahr, am siebten Tag des Monats, zur selben Zeit, als die Chaldäer Jerusalem eingenommen und in Brand gesteckt hatten. 3 Baruch verlas den Wortlaut dieses Buches in die Ohren König Jojachins von Juda, des Sohnes Jojakims, und in die Ohren des ganzen Volkes, das zusammengekommen war, um die Schrift zu hören. 4 Er las in die Ohren der königlichen Beamten und Prinzen, in die Ohren der Ältesten und des ganzen Volkes, vom Kleinsten bis zum Größten, aller, die in Babel am Fluss Sud angesiedelt waren. (Baruch 1,1-4)

Baruch war ein Schreiber, ein Mitarbeiter des Propheten Jeremia. Er hat auf Anweisung des Propheten den Grundstock des Buches Jeremia niedergeschrieben (Jeremia 36). Als nach der Zerstörung Jerusalems eine Gruppe von Juden sich aus Angst vor den Babyloniern auf den Weg nach Ägypten machte, nahmen sie Jeremia und auch Baruch mit sich dorthin (Jeremia 43,1-7). Über die Zeit danach ist nichts weiter bekannt.

Laut Baruch 1,1 sollte Baruch das Buch aber in Babylon verfasst haben und bereits im fünften Jahr nach der Zerstörung des Tempels (d. h. ca. 582 v. Chr.) dem König Jojachin und anderen Juden in Babylonien vorgelesen haben. Man kann natürlich nicht absolut ausschließen, dass Baruch den nach Ägypten verschleppten Propheten Jeremia verlassen hat und sich dann auf den Weg nach Babel gemacht hat. Sehr wahrscheinlich ist es nicht. Überdies wurde nach 2 Könige 25,27 Jojachin, der bereits bei der ersten Verschleppung im Jahr 597 v. Chr. nach Babylon gebracht wurde, erst im 37. Jahr nach seiner Wegführung (ca. 562/1 v. Chr.) aus dem Kerker entlassen. Die Notiz von Baruch 1,2-3 ist daher als unhistorisch zu betrachten. Auch die Rücksendung von Tempelgeräten, von denen in Baruch 1,8-9 die Rede ist, ist anderweitig nicht bezeugt.

Diese Gründe sprechen stark gegen die Autorschaft des historischen Baruch. In der Tat wird auch unter Katholiken allgemein angenommen, dass es sich beim Buch Baruch um ein pseudepigraphisches Werk, ein Werk, das unter einem falschen Namen verfasst wurde, handelt1. Anders als bei den sogenannten pseudepigraphischen Büchern des Neuen Testaments besteht diese Annahme zurecht.

Als Abfassungszeit wird die Zeit zwischen 300 und 100 (Schedl, S.401), 2. bis 1. Jahrhundert v. Chr. (Jerusalemer Bibel), Mitte des 1. Jahrhunderts v. Chr. (Neue Jerusalemer Bibel), wahrscheinlich in den Jahren 164-162 v. Chr. (bibelwissenschaft.de), das ausgehende 2. oder auch frühe 1. Jh. v. Chr. (Einheitsübersetzung 2016) angegeben. Harald Knobloch weist in bibelwissenschaft.de darauf hin, dass, das Baruchbuch das gesamte corpus propheticum des Alten Testaments, wie auch das Sirachbuch und Dan 1-9 voraussetzt und darauf zurückgreift. Das apokryphe Sirachbuch wurde vermutlich um 190 v. Chr. verfasst. Also wurde das Buch Baruch frühestens im 2. Jahrhundert v. Chr. geschrieben.

Es besteht auch eine Ähnlichkeit zwischen Baruch 5 und dem 11. Psalm Salomos. Wenn man annimmt, dass die vermutlich im zweiten Drittel des 1. Jahrhunderts verfassten Psalmen Salomos Baruch 5 verwendet haben, muss auch das Baruchbuch damals schon existiert haben. Rudolf Kittel, der die Psalmen Salomos übersetzt hat, schreibt dazu: Eine sichere Entscheidung hinsichtlich der Priorität giebt die litterarische Vergleichung beider Texte allein schwerlich an die Hand. Er rechnet mit der Möglichkeit, dass Baruch aus den Psalmen Salomos geschöpft hat.2 Die Ähnlichkeiten zwischen Baruch und dem 11. Psalm Salomos sind daher kein Argument zur Datierung. Baruch könnte auch später als die Psalmen Salomos entstanden sein.

Auf eine Entstehung im späten 1. Jahrhundert n. Chr. deutet Baruch 1,10-12 hin:

10 Die Spender sagten: Hier senden wir euch Geld. Kauft dafür Brandopfer, Sündopfer und Weihrauch und bereitet Speiseopfer; bringt sie dar auf dem Altar des Herrn, unseres Gottes, 11 und betet für das Leben des Königs Nebukadnezzar von Babel und für das Leben seines Sohnes Belschazzar, dass ihre Tage so zahlreich seien wie die Tage des Himmels über der Erde! 12 Uns aber verleihe der Herr Kraft und lasse unsere Augen leuchten. So werden wir leben unter dem Schutz des Königs Nebukadnezzar von Babel und unter dem Schutz seines Sohnes Belschazzar, wir werden ihnen lange Zeit dienen und Gunst vor ihnen finden.

Zweimal werden hier Nebukadnezzar und sein Sohn Belschazzar erwähnt. Belschazzar war aber nicht der Sohn Nebukadnezzars, sondern Nabonids. Vor allem hatte er während der Regierungszeit Nebukadnezzars keine besondere Bedeutung. Eine Vater-Sohn-Konstellation gab es hingegen nach der zweiten Zerstörung des Tempels durch Titus im Jahre 70 n. Chr. Nachdem der Feldherr Vespasian im Jahre 69 n. Chr. zum römischen Kaiser erhoben wurde, setzte sein Sohn Titus den jüdischen Krieg bis zur Zerstörung Jerusalems und des Tempels fort. Es würde gut passen, dass in Baruch 1 mit Nebukadnezzar und seinem Sohn Belschazzar Vespasian und Titus gemeint sind. Es ginge demnach in Baruch in Wirklichkeit um die Zeit nach der zweiten Tempelzerstörung. Für J.A.T. Robinson datiert sich dieses Buch im 5. Jahr nach der Zerstörung Jerusalems daher im Jahr 75.3

Eine Datierung nach 70 n. Chr. würde zumindest diese gemeinsame Nennung von Vater und Sohn gut erklären. Sie würde auch eine vielfach als christliche Interpolation in das Buch betrachtete Stelle als antichristliche Propaganda verständlich machen.

2.2 Eine antichristliche Schrift?

In Baruch 3 geht es ab Vers 9 um die göttliche Weisheit. Ab Vers 29 heißt es:

29 Wer stieg zum Himmel hinauf, holte die Weisheit und brachte sie aus den Wolken herab? 30 Wer fuhr über das Meer und entdeckte sie und brachte sie her gegen lauteres Gold? 31 Keiner weiß ihren Weg, niemand kennt ihren Pfad. 32 Doch der Allwissende kennt sie; er hat sie in seiner Einsicht entdeckt. Er hat ja die Erde für immer gegründet, er hat sie mit vierfüßigen Tieren bevölkert. 33 Er entsendet das Licht und es eilt dahin; er ruft es zurück und zitternd gehorcht es ihm. 34 Froh leuchten die Sterne auf ihren Posten. 35 Ruft er sie, so antworten sie: Hier sind wir. Sie leuchten mit Freude für ihren Schöpfer. 36 Das ist unser Gott; kein anderer gilt neben ihm. 37 Er hat den Weg der Erkenntnis ganz erkundet und hat sie Jakob, seinem Diener, verliehen, Israel, seinem Liebling. 38 Dann erschien sie auf der Erde und lebte mit den Menschen. 4,1 Sie ist das Buch der Gebote Gottes, das Gesetz, das ewig besteht. Alle, die an ihr festhalten, finden das Leben; doch alle, die sie verlassen, verfallen dem Tod. 2 Kehr um, Jakob, ergreif sie! Geh in ihrem Glanz den Weg zum Licht! 3 Überlass deinen Ruhm keinem andern und deinen Vorzug keinem fremden Volk! 4 Glücklich sind wir, das Volk Israel; denn wir wissen, was Gott gefällt. (Baruch 3,29-4,4)

Vers 38 wird oft als christliche Interpolation verstanden, als eine Anspielung auf die Menschwerdung der göttlichen Weisheit in Jesus Christus. Lesen wir die Stelle aber im Zusammenhang, dann wird im Folgevers erklärt, dass die Weisheit, die auf der Erde erschienen ist, das Buch der Gebote Gottes, das Gesetz, das ewig besteht, ist. In Vers 38 heißt es wörtlich nicht: „lebte mit den Menschen“, sondern: „verkehrte mit den Menschen“, „hielt sich unter den Menschen auf“.

Im Zusammenhang mit 4,1 könnte Baruch 3,38 eine jüdische Entgegnung auf Johannes 1,14 sein:

Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt und wir haben seine Herrlichkeit geschaut, die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit.

Nicht in Jesus sei demnach das Wort Gottes, seine Weisheit, auf die Erde gekommen, sondern im ewigen Gesetz, in der Thora.

Dazu passt auch Baruch 4,3:

Überlass deinen Ruhm keinem andern und deinen Vorzug keinem fremden Volk!

Das „fremde Volk“ wären die Christen, die sich als das wahre Israel betrachtet haben. Wer sonst könnte mit dem „fremden Volk“ gemeint sein? Bei einer vorchristlichen Datierung des Buches kämen nur heidnische und götzendienerische Völker infrage. Wie sollte Israel seinen Ruhm, das Volk des wahren Gottes zu sein, an Götzendiener abgeben?

Sollten diese Gedanken zutreffen, wäre den Katholiken mit der Aufnahme des Buches Baruch in den Kanon das Kunststück gelungen, einen gegen das Christentum gerichteten Text zur Heiligen Schrift zu erklären.

Wir sind daher gut beraten, an dem festzuhalten, was die ersten Christen geglaubt haben, und uns von späteren Traditionen fernzuhalten.

Geliebte, da es mich sehr drängte, euch über unsere gemeinsame Rettung zu schreiben, hielt ich es für notwendig, euch mit diesem Brief zu ermahnen: Kämpft für den Glauben, der den Heiligen ein für alle Mal übergeben ist! (Judas 3)


  1. Claus Schedl, Geschichte des Alten Testaments, IV. Band, Innsbruck 1962, S.400-402 vermutete einen aus exilischer Zeit stammenden „Brief Baruchs“, der als „Grundschrift“ des späteren Buchs gedient habe. Er erwähnte auch, dass es eine sententia quasi communis sei, dass das Buch Baruch in den zwei Jahrhunderten hellenistischer Ära, zwischen 300 und 100 v. Chr., entstanden ist und demnach tatsächlich als Pseudepigraph betrachtet werden muss. Schedl wollte gegen diese allgemeine Annahme noch irgendwie dagegenhalten. Doch auch er musste eingestehen, dass dieses Werk, wie es heute vorliegt, nicht von Baruch stammt. 
  2. https://de.wikisource.org/wiki/Die_Psalmen_Salomos/Psalm_11, Fußnote 1. 
  3. John A.T. Robinson, Redating the New Testament, 1976, S. 318. 

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