Die Frage nach den authentischen Quellen des christlichen Glaubens wird von Katholiken und Protestanten unterschiedlich beantwortet. Während Protestanten den Grundsatz Sola Scriptura (Allein die Schrift) betonen, sehen Katholiken auch in der ungeschriebenen Tradition der Kirche eine weitere Glaubensquelle.
So lehrt das Konzil von Trient im Dekret über die Heilige Schrift und die Überlieferungen:
[…] dass diese Wahrheit und Lehre enthalten ist in den geschriebenen Büchern, und in den ungeschriebenen Überlieferungen, welche von den Aposteln aus dem Munde Christi selbst empfangen, oder (2 Thess 2,14) von diesen Aposteln, unter Eingebung des Heiligen Geistes, gleichsam von Hand zu Hand überliefert worden, und bis zu uns gekommen sind; […]
Mit der zitierten Bibelstelle scheint 2 Thessalonicher 2,15 gemeint zu sein. Die heute übliche Verseinteilung wurde erst nach der Erstellung dieses Dekrets eingeführt.
In 2 Thessalonicher 2,15 schreibt Paulus:
Seid also standhaft, Brüder, und haltet an den Überlieferungen fest, in denen wir euch unterwiesen haben, sei es mündlich, sei es durch einen Brief!
Da dieser Vers der einzige im Konzilsdekret zur Frage Schrift und Überlieferung genannte ist, möchte ich mich nun vor allem mit diesem Text beschäftigen.
Paulus hat den 2. Brief an die Thessalonicher nicht allzu lange Zeit nach der Gründung dieser Gemeinde geschrieben – möglicherweise im Jahre 51. Die Gemeinde ist durch die Verkündigung von Paulus im Jahre 50 entstanden. Paulus konnte aber wegen bald einsetzender Verfolgung nur wenige Wochen in Thessalonich – dem heutigen Saloniki – bleiben. Die Apostelgeschichte berichtet darüber in Kapitel 17,1-10. Noch im selben Jahr schrieb er seinen ersten Brief an die junge Gemeinde. Einige Zeit später folgte sein zweites Schreiben.
In 2 Thessalonicher 2,15 ermuntert Paulus die jungen Christen, an allem festzuhalten, was Paulus und sein Mitarbeiter Silas sie gelehrt hatten. Paulus machte da keinen Unterschied zwischen dem, was er ihnen mündlich weitergegeben hat und seinem Brief. In seinem ersten Brief erinnerte Paulus sie an die Zeit seiner Verkündigung:
Darum danken wir Gott unablässig dafür, dass ihr das Wort Gottes, das ihr durch unsere Verkündigung empfangen habt, nicht als Menschenwort, sondern – was es in Wahrheit ist – als Gottes Wort angenommen habt; und jetzt ist es in euch, den Glaubenden, wirksam. (1 Thessalonicher 2,13)
Paulus war sich bewusst, dass das, was er verkündigt, Gottes Wort ist, und die Thessalonicher haben das akzeptiert und seine Botschaft entsprechend angenommen.
Für Paulus war der Inhalt der Botschaft wichtig, nicht die Art der Weitergabe. Die gesprochene Botschaft hatte dieselbe Autorität wie die geschriebene Botschaft. Paulus machte in 2 Thessalonicher 2,15 keine Aussage darüber, was Jahrhunderte später die Glaubensquelle sein sollte. Dieser Vers hat eine ganz konkrete Bedeutung für die direkten Empfänger.
Natürlich hat Paulus auch späteren Christen dadurch etwas zu sagen. Wir sollen an allem festhalten, was wir als authentische apostolische Lehre empfangen haben. Aber dieser Vers hilft uns nicht, festzustellen, was diese authentische Lehre ist.
Die Kirche und jeder einzelne Christ ist gebunden, an der apostolischen Lehre festzuhalten. Die Lehre der Apostel finden wir ohne Zweifel in den Schriften des Neuen Testaments. Dadurch ist klar, dass diese Bücher mit göttlicher Autorität zu uns sprechen.
Bei allem, was unter dem Begriff „Überlieferung“ zusammengefasst wird, stellt sich die Frage, ob diese Überlieferung wirklich auf die Apostel zurückgeht. Das mag oft nicht so einfach festzustellen sein, da diese Überlieferung ja nicht aufgeschrieben wurde. Es ist aber zu erwarten, dass man in früher christlicher außerbiblischer Literatur Spuren dieser Überlieferung finden müsste. Ganz klar ist die Sache dann, wenn eine Tradition eindeutig dem Neuen Testament widerspricht. In diesem Fall kann diese Überlieferung nicht auf die Apostel zurückgehen.
So widerspricht die katholische Praxis, den Papst mit „Heiliger Vater“ anzusprechen, klar den Worten Jesu:
Auch sollt ihr niemanden auf Erden euren Vater nennen; denn nur einer ist euer Vater, der im Himmel. (Matthäus 23,9)
Aus dem Zusammenhang geht hervor, dass es um religiöse Titel geht, nicht um den biologischen Vater. Der Papst (auch dieses Wort heißt, abgeleitet vom griechischen πάππα / páppa, „Vater“) steht schon alleine kraft seines Titels im Widerspruch zu Jesus. Wie kann dieser Mensch dann der Führer der Christenheit sein?
Auch der Marienkult war im ersten und zweiten Jahrhundert noch unbekannt. Diese Überlieferung kann nur bis zum dritten Jahrhundert zurückgeführt werden.
Ebenso waren religiös verehrte Bilder oder Statuen den ersten Christen nicht bekannt.
Im um 200 geschriebenen Dialog Octavius wirft der Heide Caecilius dem Christen Octavius vor:
Weshalb sonst hätten sie keine Altäre, keine Tempel, keine bekannten Götterbilder; […] (Octavius X, 2)
Octavius entgegnet darauf:
1. Glaubt ihr aber, wir halten den Gegenstand unserer Verehrung geheim, wenn wir keine Tempel und Altäre haben? Welches Bild soll ich für Gott ersinnen, da doch im Grunde genommen der Mensch selbst Gottes Ebenbild ist? Welchen Tempel soll ich ihm bauen, da diese ganze Welt, das Werk seiner Hände, ihn nicht zu fassen vermag? Und während ich als Mensch geräumiger wohne, soll ich die Größe solcher Majestät in eine einzige Zelle einschließen? 2. Müssen wir nicht besser in unserer Seele ihm ein Heiligtum errichten, nicht lieber in unserer Brust eine Stätte weihen? Kleine und große Tiere soll ich Gott opfern, welche er doch zu meinem Nutzen erschaffen, so daß ich ihm eigentlich seine Gabe zurückgebe? Das wäre undankbar, wenn doch ein gutes Herz, ein reiner Sinn und ein unbeflecktes Gewissen ein angenehmes Opfer ist. (Octavius XXXII, 1-2)
Das setzt voraus, dass es um 200 keine christlichen Tempel, Altäre oder Bilder gab. Die spätere Lehre und Praxis widerspricht in diesem Fall eindeutig der frühen Praxis und Überlieferung.
Die Aussage Sola Scriptura ist theoretisch nicht korrekt, da Christen die Lehre der Apostel als Grundlage haben. Praktisch ist aber keine außerbiblische Überlieferung bekannt, die tatsächlich auf die Apostel zurückgeführt werden kann. Insofern ist Sola Scriptura dann doch wieder richtig. Gott hat dafür Sorge getragen, dass das Wort Jesu und seiner vom Heiligen Geist inspirierten Apostel für uns in den Büchern des Neuen Testaments erhalten geblieben ist und somit alle, die die Wahrheit suchen, diese auch finden können.
Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen. (Markus 13,31)