Ist Jesus der Erzengel Michael?

In ihrer Publikation „Was lehrt die Bibel wirklich?“ veröffentlichen Jehovas Zeugen auf Seite 218-219 einen Artikel mit dem Titel „Wer ist der Erzengel Michael?“ Darin wird die Behauptung erhoben:

Wie sich aus der Bibel schlussfolgern lässt, ist Michael ein anderer Name für Jesus Christus, und zwar vor seiner Geburt auf der Erde und nach seiner Rückkehr in den Himmel.

Die Argumentation der Zeugen Jehovas

Erzengel. Michael wird in der Bibel als „der Erzengel“ bezeichnet (Judas 9). „Erzengel“ bedeutet „oberster Engel“. Interessant ist,  dass Michael der Erzengel genannt wird. Daraus lässt sich schließen, dass es nur einen solchen Engel gibt. Tatsächlich kommt das Wort „Erzengel“ in der Bibel immer nur in der Einzahl, nie in der Mehrzahl vor. Überdies wird Jesus mit dem Amt des Erzengels in Verbindung gebracht. In 1. Thessalonicher 4:16 heißt es nämlich über den auferstandenen Herrn Jesus Christus: „Der Herr selbst wird vom Himmel herabkommen mit gebietendem Zuruf, mit der Stimme eines Erzengels.“ Wie hier beschrieben wird, ruft Jesus mit der Stimme eines Erzengels. Das lässt darauf schließen, dass Jesus selbst der Erzengel Michael ist.

Heerführer. In der Bibel heißt es: „Michael und seine Engel kämpften mit dem Drachen, und der Drache und seine Engel kämpften“ (Offenbarung 12:7). Michael ist also der Führer eines Heeres treuer Engel. Auch Jesus wird in der Offenbarung als Führer eines Heeres treuer Engel beschrieben (Offenbarung 19:14-16). Und der Apostel Paulus spricht ausdrücklich von dem „Herrn Jesus“ und „seinen mächtigen Engeln“ (2. Thessalonicher 1:7). Die Bibel erwähnt also sowohl Michael und „seine Engel“ als auch Jesus und „seine Engel“ (Matthäus 13:41; 16:27; 24:31; 1. Petrus 3:22). Da es im Wort Gottes keinerlei Hinweise auf zwei himmlische Heere treuer Engel gibt — eines angeführt von Michael und eines von Jesus —, darf man schlussfolgern, dass Michael kein anderer ist als Jesus Christus in seiner himmlischen Stellung.

In einer Fußnote wird auf weitere Einzelheiten im Nachschlagewerk Einsichten über die Heilige Schrift, Band 2, Seite 351, 352 hingewiesen.

Der Erzengel

Es ist korrekt, dass das griechische Wort ἀρχάγγελος / archángelos nur an den beiden genannten Stellen vorkommt. Im Judasbrief wird Michael der Erzengel genannt, im 1. Thessalonicherbrief kommt Jesus mit der Stimme eines Erzengels wieder. Doch kann man daraus den Schluss ziehen, dass Jesus und Michael dieselbe Person sind? Woher können wir wissen, dass es nur einen „Erzengel“ gibt? Die Bibel hat nicht das Ziel, uns umfassend über die Engelswelt zu informieren, weil das für uns nicht wichtig ist. Unsere Aufmerksamkeit soll auf Gott ausgerichtet sein, nicht auf seine himmlischen Diener, die Gott zum Dienst an den Gläubigen verwenden kann und auch verwendet, wie es in Hebräer 1,14 heißt:

Sind sie nicht alle nur dienende Geister, ausgesandt, um denen zu helfen, die das Heil erben sollen?

Wenn jemand Gottes Hilfe erfährt, weiß er im Normalfall nicht, was sich da in der geistlichen Welt abspielt, ob da Engel involviert waren oder nicht. Es hat uns nicht zu interessieren. Der Dank und der Lobpreis gebühren einzig Gott. Ob es nun nur einen oder drei oder vier oder sieben oder noch mehr Erzengel gibt, können und müssen wir nicht wissen.

In 1 Thessalonicher 4,16 ist nicht so klar, ob mit der Stimme des Erzengels überhaupt die Stimme Jesu gemeint ist.

ὅτι αὐτὸς ὁ κύριος ἐν κελεύσματι, ἐν φωνῇ ἀρχαγγέλου καὶ ἐν σάλπιγγι θεοῦ, καταβήσεται ἀπ’ οὐρανοῦ καὶ οἱ νεκροὶ ἐν Χριστῷ ἀναστήσονται πρῶτον,

Im Griechischen steht dreimal das Wort ἐν / én, dessen Grundbedeutung „in“ ist. Es hat aber eine große Bedeutungsbreite, die sich in den verschiedenen Übersetzungen findet.

Die Neue-Welt-Übersetzung lautet: Denn der Herr selbst wird mit einem lauten Befehl, mit der Stimme eines Erzengels und mit der Trompete Gottes vom Himmel herabkommen, […].

Die Elberfelder Bibel übersetzt: Denn der Herr selbst wird beim Befehlsruf, bei der Stimme eines Erzengels und bei ⟨dem Schall⟩ der Posaune Gottes herabkommen vom Himmel […]. In der Fußnote wird die Übersetzungsmöglichkeit „mit“ angemerkt.

Die Einheitsübersetzung löst die Pronomina in einem Nebensatz auf: Denn der Herr selbst wird vom Himmel herabkommen, wenn der Befehl ergeht, der Erzengel ruft und die Posaune Gottes erschallt.

Vom Text her ist nicht endgültig zu klären, ob die Stimme des Erzengels die Stimme des wiederkommenden Herrn Jesus ist oder ob es um eine Darstellung der „Begleitumstände“ der Wiederkunft geht.

Die im Zusammenhang mit der Wiederkunft genannte Posaune finden wir allerdings auch an anderen Stellen:

Er wird seine Engel unter lautem Posaunenschall aussenden und sie werden die von ihm Auserwählten aus allen vier Windrichtungen zusammenführen, von einem Ende des Himmels bis zum andern. (Matthäus 24,31)

[…] plötzlich, in einem Augenblick, beim letzten Posaunenschall. Die Posaune wird erschallen, die Toten werden als Unverwesliche auferweckt, wir aber werden verwandelt werden. (1 Korinther 15,52)

In Matthäus 24 sind es die vom Herrn ausgesandten Engel, die die Posaunen blasen. Im 1. Korintherbrief steht nicht, wer die Posaune erschallen lässt. In den Kapiteln 8, 9 und 11 der Offenbarung sind es verschiedene Engel, die die Posaune blasen. Das spricht dafür, dass zumindest die in 1 Thessalonicher 4,16 genannte Posaune nicht vom wiederkommenden Jesus geblasen wird. Das heißt aber auch, dass die Stimme des Erzengels nicht die Stimme Jesu sein muss.

In Judas 9 ist offensichtlich, dass der Erzengel Michael nicht der Herr ist, weil er zum Satan sagt: Der Herr weise dich in die Schranken. In 1 Thessalonicher 4,16 ist es aber der Herr, der mit oder bei der Stimme eines Erzengels kommt. Der Judasbrief bezeugt überdies klar die Gottheit Jesu. Es kann daher ausgeschlossen werden, dass Judas in seinem Brief den Erzengel Michael mit Jesus gleichgesetzt hat. Der Vergleich dieser beiden Stellen beweist also nicht, dass Jesus der Erzengel Michael ist. Der Zusammenhang des Judasbriefes spricht klar dagegen.

Der Heerführer

Die Argumentation mit Offenbarung 12 ist durchaus bedenkenswert.

7 Da entbrannte im Himmel ein Kampf; Michael und seine Engel erhoben sich, um mit dem Drachen zu kämpfen. Der Drache und seine Engel kämpften, 8 aber sie hielten nicht stand und sie verloren ihren Platz im Himmel. 9 Er wurde gestürzt, der große Drache, die alte Schlange, die Teufel oder Satan heißt und die ganze Welt verführt; der Drache wurde auf die Erde gestürzt und mit ihm wurden seine Engel hinabgeworfen. 10 Da hörte ich eine laute Stimme im Himmel rufen: Jetzt ist er da, der rettende Sieg, die Macht und die Königsherrschaft unseres Gottes und die Vollmacht seines Gesalbten; denn gestürzt wurde der Ankläger unserer Brüder, der sie bei Tag und bei Nacht vor unserem Gott verklagte. 11 Sie haben ihn besiegt durch das Blut des Lammes und durch ihr Wort und ihr Zeugnis. Sie hielten ihr Leben nicht fest, bis hinein in den Tod. (Offenbarung 12,7-11)

Die Argumentation mit dem Heerführer scheint auf den ersten Blick zu beeindrucken, da nur im Zusammenhang mit Michael und mit Jesus von „seinen“ Engeln die Rede ist. Da alle Engel Engel Gottes sind, ist die Redeweise von den Engeln Jesu sogar ein Indiz für die Gottheit Jesu. Im Zusammenhang von Offenbarung 12 geht es aber um einen Gegensatz. Einerseits der Drache und seine Engel, andererseits Michael und seine Engel. Es gibt die gegen Gott rebellierenden Engel mit Satan als ihrem Führer, und es gibt die treuen Engel mit Michael als ihrem Führer. Das ist eine gewisse Parallelität in der Erzählung.

Der eigentliche Sieger über Satan ist Jesus. Das ist auch aus dem Zusammenhang von Offenbarung 12 ersichtlich, wenn es in Vers 11a heißt: Sie haben ihn besiegt durch das Blut des Lammes […]. Das Lamm hat den Ankläger der Brüder durch seine Hingabe bis in den Tod besiegt.

Auch aus anderen Stellen der Bibel ist ersichtlich, dass Jesus der Sieger über den Teufel ist.

18 Da sagte er zu ihnen: Ich sah den Satan wie einen Blitz aus dem Himmel fallen. 19 Siehe, ich habe euch die Vollmacht gegeben, auf Schlangen und Skorpione zu treten und über die ganze Macht des Feindes. Nichts wird euch schaden können. (Lukas 10,18-19)

20 Wenn ich aber die Dämonen durch den Finger Gottes austreibe, dann ist das Reich Gottes schon zu euch gekommen. 21 Solange ein bewaffneter starker Mann seinen Hof bewacht, ist sein Besitz sicher; 22 wenn ihn aber ein Stärkerer angreift und besiegt, dann nimmt ihm der Stärkere seine ganze Rüstung, auf die er sich verlassen hat, und verteilt seine Beute. (Lukas 11,20-22)

Die Fürsten und Gewalten hat er entwaffnet und öffentlich zur Schau gestellt; durch Christus hat Gott über sie triumphiert. (Kolosser 2,15)

Wenn nun in Offenbarung 12 Michael derjenige ist, der Satan besiegt, besteht in der Tat eine Parallele zwischen Michael und Jesus. Was wäre, wenn man Offenbarung 12,7ff nicht als ein reales Geschehen im Himmel versteht, sondern als eine symbolische Darstellung der Folgen des Sieges Jesu über Satan? Der Satan, der bereits im Alten Testament als Ankläger der Gerechten auftritt (Ijob 1,9-11; 2,4-5; Sacharja 3,1), ist durch das Erlösungswerk Jesu als Ankläger der Brüder gestürzt. Die Sünden sind vergeben. Gott heiligt seine Kinder. Dieser Sieg über Satan, der durch das Wirken Jesu und durch seinen Tod geschehen ist – nicht erst, wie Zeugen Jehovas behaupten, im Jahre 1914 –, wird durch das Bild des Sturzes Satans und seiner Engel aus dem Himmel ausgedrückt. Wenn der Himmel die Gemeinschaft mit Gott meint, waren Satan und seine Engel auch vorher nicht dort. Es geht um ein Bild. In diesem Bild wird Michael, der schon im Buch Daniel als „einer der ersten unter den Fürsten“ (Daniel 10,13) auftritt, symbolisch als ausführendes Organ des Sieges Christi dargestellt. Es gibt also in Offenbarung 12 tatsächlich eine Parallelität zwischen Michael und Jesus, die aber nicht dazu zwingt, die beiden gleichzusetzen.

Das wäre zumindest ein Lösungsvorschlag. Bei der Deutung der Bilder der Offenbarung ist immer Vorsicht angebracht. Deswegen sollte sich auch die Wachtturmgesellschaft vor voreiligen Schlüssen aus einem apokalyptischen Text hüten.

Jesus ist kein Engel

Aus dem Gesamtzeugnis der Bibel geht hervor, dass Jesus kein Engel ist. Er kann daher nicht mit dem Erzengel Michael gleichgesetzt werden.

In Markus 1,13 heißt es:

Jesus blieb vierzig Tage in der Wüste und wurde vom Satan in Versuchung geführt. Er lebte bei den wilden Tieren und die Engel dienten ihm.

Jesus steht über den Engeln, da sie ihm dienen.

Die Engel sind von Jesus geschaffen:

16 Denn in ihm wurde alles erschaffen im Himmel und auf Erden, das Sichtbare und das Unsichtbare, Throne und Herrschaften, Mächte und Gewalten; alles ist durch ihn und auf ihn hin erschaffen. 17 Er ist vor aller Schöpfung und in ihm hat alles Bestand. (Kolosser 1,16-17)

Es steht dort nicht „alles andere“, wie es die Neue-Welt-Übersetzung in ihrem manipulierten Text bringt.

Insbesondere betont Hebräer 1 den Unterschied zwischen Jesus und den Engeln, besonders klar in Vers 6:

Wenn er aber den Erstgeborenen wieder in die Welt einführt, sagt er: Alle Engel Gottes sollen sich vor ihm niederwerfen.

Aufgrund von Hebräer 1,6 hat auch Charles Taze Russell, der Gründer der Wachtturmgesellschaft im Watch Tower von November 1879 auf Seite 48 geschrieben:

Hence it is said, “Let all the angels of God worship him“; [that must include Michael, the chief angel, hence Michael is not the Son of God] and the reason is, because he has “by inheritance obtained a more excellent Name than they.“

Die derzeitige Wachtturmgesellschaft positioniert sich mit ihrer Lehre nicht nur gegen die Bibel, sondern auch gegen ihren Gründer.

Vom Engel zum Menschen und wieder zum Engel?

Die Lehre der Zeugen Jehovas besagt, dass Michael, der das erste aller Geschöpfe ist, Mensch geworden ist, dadurch aber aufgehört hat, ein Engel zu sein. Als Jesus starb, hörte Jesus auf, ein Mensch zu sein und wurde wieder zum Erzengel Michael, er trägt aber weiterhin den Namen Jesus, obwohl er kein Mensch mehr ist. Dieser Lehre zufolge hat Michael / Jesus zweimal sein Wesen grundsätzlich geändert. Er wurde von einem Geistwesen zu einem materiellen Wesen, dann hat er die Materie wieder verlassen und wurde wieder zu einem Geistwesen. Sein Menschsein war nur ein kurzes Zwischenspiel seiner Existenz. Kann man da sagen, dass es sich beim Erzengel Michael und beim Menschen Jesus um dasselbe Wesen handelt, da Mensch und Engel doch grundsätzlich unterschiedlich sind?

Nach der christlichen Lehre der Inkarnation hat das ewige Wort Gottes in seiner Menschwerdung nicht aufgehört, Gott zu sein. Es hat die Natur eines Menschen angenommen. Während der Zeit auf der Erde hat Jesus seine göttliche Natur zurückgestellt, aber nicht abgelegt. Er war seit seiner Menschwerdung immer Gott und Mensch in einer Person. Und er bleibt das für alle Ewigkeit. Da gibt es kein Hin- und Herschalten zwischen unterschiedlichen Naturen, wie es die Lehre der Zeugen Jehovas voraussetzt.

Durch ihre Lehre verleugnen Jehovas Zeugen die größte Tat der Liebe Gottes, dass er selber einer von uns wurde, um uns seine Liebe zu schenken.

4 Als aber die Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes, unseres Retters, erschien, 5 hat er uns gerettet – nicht aufgrund von Werken der Gerechtigkeit, die wir vollbracht haben, sondern nach seinem Erbarmen – durch das Bad der Wiedergeburt und die Erneuerung im Heiligen Geist. (Titus 3,4-5)

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