Ich werde dir die Schlüssel des Himmelreichs geben; was du auf Erden binden wirst, das wird im Himmel gebunden sein, und was du auf Erden lösen wirst, das wird im Himmel gelöst sein.
(Matthäus 16,19)
Nach einem Beitrag über Matthäus 16,18, wo es um Petrus und den Fels geht, auf dem Jesus die Kirche gebaut hat, soll es hier um den Folgevers gehen, um die Frage, was mit den Schlüsseln des Himmelreichs gemeint ist. Diese Schlüssel sind zum Symbol des Papsttums geworden und finden sich daher sowohl auf der Flagge, als auch auf dem Wappen des Vatikans.
In offiziellen katholischen Dokumenten wird zwar verschiedentlich auf die dem Petrus und dadurch nach katholischem Verständnis auch dem Papst gegebenen Schlüssel hingewiesen. Eine genaue Erklärung habe ich jedoch nicht gefunden.
So heißt es im Katechismus der Katholischen Kirche in Punkt 881:
Der Herr hat einzig Simon, dem er den Namen Petrus gab, zum Felsen seiner Kirche gemacht. Er hat Petrus die Schlüssel der Kirche übergeben‘ und ihn zum Hirten der ganzen Herde bestellt [Vgl. Joh 21,15-17]. „Es steht aber fest, daß jenes Amt des Bindens und Lösens, das Petrus gegeben wurde, auch dem mit seinem Haupt verbundenen Apostelkollegium zugeteilt worden ist“ (LG 22). Dieses Hirtenamt des Petrus und der anderen Apostel gehört zu den Grundlagen der Kirche. Es wird unter dem Primat des Papstes von den Bischöfen weitergeführt.
Das im Katechismus angeführte Vatikanische Dokument Lumen Gentium 22 sagt auch nicht viel mehr:
Der Herr hat allein Simon zum Fels und Schlüsselträger der Kirche bestellt (vgl. Mt 16,18-19) und ihn als Hirten seiner ganzen Herde eingesetzt (vgl. Joh 21,15 ff). Es steht aber fest, dass jenes Binde- und Löseamt, welches dem Petrus verliehen wurde (Mt 16,19), auch dem mit seinem Haupt verbundenen Apostelkollegium zugeteilt worden ist (Mt 18,18; 28,16-20). Insofern dieses Kollegium aus vielen zusammengesetzt ist, stellt es die Vielfalt und Universalität des Gottesvolkes, insofern es unter einem Haupt versammelt ist, die Einheit der Herde Christi dar. In diesem Kollegium wirken die Bischöfe, unter treuer Wahrung des primatialen Vorrangs ihres Hauptes, in eigener Vollmacht zum Besten ihrer Gläubigen, ja der ganzen Kirche, deren organische Struktur und Eintracht der Heilige Geist immerfort stärkt.
Beachtenswert ist hier vor allem der Hinweis auf Matthäus 18,18, wo der ganzen Gemeinde (nicht dem Apostelkollegium) ebenfalls das Binde- und Löseamt übertragen wurde. Zu Johannes 21,15ff gibt es einen eigenen Beitrag. Auf jeden Fall werden die Stellen in Matthäus 16 und 18 dazu verwendet, um die Autorität des Papstes und der sich fälschlicherweise auf die Apostel zurückführenden Bischöfe zu untermauern.
Sollten wir nicht zuerst im Zusammenhang mit der Person des Simon Petrus überlegen, was mit den Schlüsseln des Himmelreichs gemeint sein kann?
Heilsgeschichtlich betrachtet, kam mit Jesus die Öffnung des Gottesvolkes für alle Völker. Während seines irdischen Lebens war Jesus zu den verlorenen Schafen Israels gesandt. Doch durch seinen Erlösungstod und seine Auferstehung hat er den Weg zu Gott für Menschen aller Völker bereitet. Darum hat Jesus nach seiner Auferstehung die Jünger auch zu allen Völkern ausgesandt (Matthäus 28,19-20).
In der Geschichte der jungen Gemeinde ging das allerdings nicht auf einmal. Nur schrittweise wurde aus dem Jüngerkreis eine Gemeinde für alle Völker. Bei allen Schritten war Petrus entscheidend beteiligt.
Der erste Schritt war beim Pfingstfest zehn Tage nach der Himmelfahrt Jesu. Gott hat auf die in Jerusalem versammelten Jünger den Heiligen Geist ausgegossen. Daraufhin sprach Petrus zu den Juden und verkündete ihnen Jesus als Herrn und Messias, worauf sich dreitausend Menschen den Jüngern anschlossen. Dadurch war die Urgemeinde entstanden (Apostelgeschichte 2). Hier hat Petrus das Reich Gottes für die Juden aufgeschlossen. Gewiss hat er das nicht allein gemacht. Doch er war der Wortführer. Von ihm kamen die entscheidenden Worte.
Über einen zweiten Schritt lesen wir in Apostelgeschichte 8,4-24. Dort geht es um die Verkündigung des Wortes in Samarien. Die Samaritaner waren Monotheisten und akzeptierten die Thora, die fünf Bücher Mose, als Heilige Schrift, lehnten aber Jerusalem als Ort der Anbetung ab. Sie betrachteten den Berg Garizim als den von Gott auserwählten heiligen Ort. Zwischen Juden und Samaritanern gab es eine ausgeprägte Feindschaft. Die Einstellung Jesu den Samaritanern gegenüber war viel freundlicher als die seiner jüdischen Volksgenossen. Jesus war am Anfang seines Wirkens für kurze Zeit bei den Samaritanern (Johannes 4,1-42). Doch es gab keine umfangreiche Verkündigung.
Als nach der ersten Verfolgung in Jerusalem Philippus das Evangelium in Samarien verkündete, glaubten viele an ihn. Doch die volle Gemeinschaft mit den jüdischen Gläubigen war noch nicht gegeben. Erst nachdem Petrus und Johannes den samaritanischen Gläubigen die Hände aufgelegt hatten, wodurch die volle Einheit ausgedrückt wurde, konnte der Heilige Geist auch unter den Jüngern aus Samarien voll wirken. Hier hat Petrus gemeinsam mit Johannes das Reich Gottes für die Samaritaner aufgeschlossen.
Der dritte Schritt war die Öffnung des Reiches Gottes für Menschen, die ganz außerhalb der alttestamentlichen Tradition standen, für Menschen aller Völker. Auch hier war Petrus wesentlich beteiligt. Er hat dem römischen Hauptmann Kornelius und seinem Haus das Evangelium verkündet (Apostelgeschichte 10). Dieser Schritt war für die Urgemeinde sehr ungewöhnlich. Deswegen musste sich Petrus dafür rechtfertigen (Apostelgeschichte 11,1-18).
Als sich immer mehr Nichtjuden der Gemeinde anschlossen, wurde die Frage, inwieweit auch diese Heidenchristen das jüdische Gesetz halten sollten, immer dringlicher. Als diese Frage auf einer Versammlung der Apostel und Ältesten besprochen wurde, war es wieder Petrus, der entscheidende Worte sprach (Apostelgeschichte 15,7-11). Die jüdischen Reinheits- und Speisegebote waren für die Heidenchristen nicht verpflichtend.
Hier hat Petrus (wieder in Übereinstimmung mit seinen Glaubensbrüdern) das Reich Gottes für die Heidenvölker geöffnet.
In diesen Situationen, wo zuerst Juden, dann Samaritaner und dann Menschen aller Völker zum Reich Gottes eingeladen wurden, war Petrus wesentlich beteiligt. Dort hat er die ihm von Jesus überreichten symbolischen Schlüssel zum Öffnen verwendet. Bei dieser Erklärung braucht man nicht an Ereignisse und Entwicklungen denken, die sich Jahrhunderte später abgespielt haben.
Was das Binden und Lösen betrifft, gibt es einen weiteren Aspekt, der nicht so direkt mit der Person des Petrus verbunden ist. Das ist der Aspekt der Gemeindedisziplin, den auch schon die jüdische Gemeinde kannte. „Binden“ bedeutet, dass über jemanden der Bann verhängt wird, er also ausgeschlossen wird. Das „Lösen“ ist das Lösen dieses Bannes. Er wird wieder aufgenommen.
Ein Beispiel im Leben des Petrus dafür war sein Verhalten Simon gegenüber, der sich nach der Predigt des Philippus der Gemeinde von Samarien angeschlossen hatte. Als durch die Handauflegung von Petrus und Johannes das Wirken des Heiligen Geistes geschenkt wurde, wollte er sich diese Gabe um Geld erkaufen. Deswegen wurde er von Petrus scharf ermahnt und hatte auch keinen Platz mehr unter den Jüngern. Im Grunde war Simon wohl nie Christ geworden.
Dieser Aspekt betrifft nicht nur Petrus, sondern die ganze Gemeinde. Die Gemeinde kann nur Gemeinde bleiben, wenn sie um Heiligkeit kämpft. Darum hat sie die Aufgabe, sündige Brüder zu ermahnen, und wenn die wiederholte Ermahnung nicht fruchtet, sich von diesen Brüdern zu trennen.
15 Wenn dein Bruder gegen dich sündigt, dann geh und weise ihn unter vier Augen zurecht! Hört er auf dich, so hast du deinen Bruder zurückgewonnen. 16 Hört er aber nicht auf dich, dann nimm einen oder zwei mit dir, damit die ganze Sache durch die Aussage von zwei oder drei Zeugen entschieden werde. 17 Hört er auch auf sie nicht, dann sag es der Gemeinde! Hört er aber auch auf die Gemeinde nicht, dann sei er für dich wie ein Heide oder ein Zöllner. 18 Amen, ich sage euch: Alles, was ihr auf Erden binden werdet, das wird auch im Himmel gebunden sein, und alles, was ihr auf Erden lösen werdet, das wird auch im Himmel gelöst sein. (Matthäus 18,15-18)
Es geht hier nicht um ein Apostelkollegium, auch nicht um Bischöfe oder sonstige Hierarchen. Es ist die Gemeinde angesprochen. Das setzt natürlich voraus, dass es eine Gemeinde gibt, wo man übereinander weiß, einander kennt, einander ermahnt und auch ermuntert. Dieser Gemeinde hat Jesus die Autorität zugesagt, zu binden und zu lösen, auszuschließen und wieder aufzunehmen.
Dass es nicht um Amtsträger geht, zeigen auch die Folgeverse:
19 Weiter sage ich euch: Was auch immer zwei von euch auf Erden einmütig erbitten, werden sie von meinem himmlischen Vater erhalten. 20 Denn wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen. (Matthäus 18,19-20)
Die Aufgabe des Bindens und Lösens hat Jesus nicht nur Petrus, sondern auch der Gemeinde aller Zeiten anvertraut. Das, was Jesus Petrus in besonderer Weise aufgetragen hat, hat dieser während seines irdischen Dienstes erfüllt. Das konnte auch auf keinen eventuellen Nachfolger übertragen werden.