Wie wurde Jesus erhört?

Er hat in den Tagen seines irdischen Lebens mit lautem Schreien und unter Tränen Gebete und Bitten vor den gebracht, der ihn aus dem Tod retten konnte, und er ist erhört worden aufgrund seiner Gottesfurcht. (Hebräer 5,7)

Mit diesen Worten bezieht sich der Hebräerbrief auf das Gebet Jesu kurz vor seinem Leiden. Matthäus überliefert dieses Gebet mit diesen Worten:

Und er ging ein Stück weiter, warf sich auf sein Gesicht und betete: Mein Vater, wenn es möglich ist, gehe dieser Kelch an mir vorüber. Aber nicht wie ich will, sondern wie du willst. (Matthäus 26,39)

Mit dem „Kelch“ ist der Kelch des Leidens und des Todes gemeint. Es war für Jesus, da er voll und ganz Mensch war, nicht einfach, diesen Weg zu gehen. Er hat sich aber ganz dem Willen des Vaters untergeordnet.

Diese Worte aus dem Hebräerbrief erinnern an Psalm 22,25:

Denn er hat nicht verachtet, nicht verabscheut des Elenden Elend. Er hat sein Angesicht nicht verborgen vor ihm; er hat gehört, als er zu ihm schrie.

So war sich auch Jesus gewiss, dass der Vater ihn hört. Das Wie der Erhörung hat er ganz seinem Vater anvertraut.

Bestätigt der Vers aus dem Hebräerbrief dann die islamische Lehre, dass Jesus nicht gekreuzigt wurde? Auf den ersten Blick könnte man das so verstehen. Jesus hat dafür gebetet, dass das Leiden an ihm vorübergehe, und der Hebräerbrief erklärt, dass dieses Gebet Jesu erhört wurde.

Abgesehen davon, dass das sowohl dem Zeugnis des restlichen Neuen Testaments ebenso wie außerbiblischen Zeugnissen widersprechen würde, zeigt auch der Zusammenhang des Hebräerbriefs, dass das nicht gemeint sein konnte.

Schon im unmittelbar darauffolgenden Vers heißt es:

Obwohl er der Sohn war, hat er durch das, was er gelitten hat, den Gehorsam gelernt; […] (Hebräer 5,8)

Auch sonst gibt es im Hebräerbrief viele Stellen, die den Tod Jesu bezeugen, z. B. Hebräer 2,9. 14; 9,27-28; 12,2. Die Kapitel 7-10, wo es um die Frage der Opfer geht, setzen den Tod Jesu am Kreuz voraus. Die Erhörung Jesu geschah also nicht dadurch, dass Jesus vor dem Leiden bewahrt worden wäre.

Die nächstliegende Erklärung wäre, dass die Erhörung des Gebets Jesu in seiner Auferstehung bestanden hätte. Immerhin ist durch die Auferstehung erwiesen, dass Jesus tatsächlich der von Gott gesandte Messias, der Sohn Gottes, ist. Die Auferstehung bestätigt den Anspruch, den Jesus in seinen Worten erhoben hat, noch viel mehr als alle seine Wunder, die er in seinem irdischen Wirken vollbracht hatte. Es gibt gute Gründe dafür, dass in Hebräer 5,7 die Auferstehung gemeint ist.

Es gab aber schon im Altertum Einwände gegen dieses Verständnis. So schreibt Chrysostomus in der 8. Homilie über den Hebräerbrief zu dieser Stelle:

Nirgends aber betete er zum Vater in Bezug auf die Auferstehung, sondern gerade das Gegentheil thut er in den Worten: „Löset diesen Tempel, so will ich ihn in drei Tagen wieder aufrichten!“2 Und: „Ich habe Macht, mein Leben hinzugeben, und ich habe Macht, es wieder zu nehmen. Niemand nimmt es von mir, sondern ich gebe es von mir selbst hin.“3 Wie verhält es sich nun? Warum betete er? Und wiederum sagt er: „Siehe, wir ziehen hinauf nach Jerusalem, und des Menschen Sohn wird den Hohenpriestern und Schriftgelehrten überliefert werden, und sie werden ihn zum Tode verdammen; und sie werden ihn den Heiden ausliefern, daß sie ihn verspotten, geißeln und kreuzigen, und am dritten Tage wird er wieder auferstehen.“4 Und er sagte nicht: Der Vater wird mich auferwecken. Wie hätte er nun darum beten können? Aber wofür betete er? Für Diejenigen, die an ihn glaubten. Der Sinn der Worte ist dieser: Er findet leicht Erhörung. Denn da sie in Betreff seiner noch nicht die Meinung hatten, die sie hätten haben sollen, sagt er, Derselbe sei erhört worden, wie er auch selber, seine Jünger tröstend, spricht: „Wenn ihr mich liebtet, so würdet ihr euch ja freuen, daß ich zum Vater gehe; denn der Vater ist größer als ich.“

Chrysostomus argumentierte damit, dass Jesus nie im Gebet um die Auferstehung gebetet habe, aber dass sein Gebet für diejenigen, die an ihn glaubten, war und dass der Sinn der Worte sei, dass Jesus leicht Erhörung findet. Sehr konkret war Chrysostomus in seiner Erklärung aber nicht.

Der norwegische Theologe Thorleif Boman war mit der Erklärung, dass mit der Erhörung die Auferstehung gemeint sei, auch nicht einverstanden.

[…] aber daß Jesus sich so entsetzlich vor dem Grab fürchten sollte, ist unglaublich, denn im Grab war er ja in den Händen seines Vaters und hatte nichts mehr zu fürchten (Lk. 12,4); eine entsetzliche Furcht vor dem, was nach dem Tode folgte, könnte nur Angst vor dem Gericht Gottes bezeichnen, was selbstverständlich nicht in Betracht kommt, besonders nicht für den Hebräerbrief.1

Auch wenn Boman als Theologe meiner Ansicht nach mit den neutestamentlichen Texten zu frei umgeht, ist sein Lösungsansatz bedenkenswert. Er ist konkreter als die Lösung von Chrysostomus, geht aber auch in dieselbe Richtung. Es würde aber zu weit führen, hier auf alle Details seiner Argumentation einzugehen.

Er zieht zur Erklärung auch Lukas 22,31-32 heran:

31 Simon, Simon, siehe, der Satan hat verlangt, dass er euch wie Weizen sieben darf. 32 Ich aber habe für dich gebetet, dass dein Glaube nicht erlischt. Und wenn du wieder umgekehrt bist, dann stärke deine Brüder!

Boman schlägt vor, dass das Gebet, auf das sich Hebräer 5,7 bezieht, nicht erst direkt vor der Verhaftung Jesu war, sondern schon früher, und dass es um die Bewahrung der Jünger ging, was auch das Thema von Lukas 22,31-32 ist.

Nach seinen eigenen Worten ist Jesus dann für Petrus und die anderen Apostel gegen Satan vor Gott fürbittend eingetreten […]; denn Jesus wußte, daß der Glaube der Jünger zu der Zeit einer solchen Probe nicht standhalten, sondern zusammenbrechen würde. Das wäre eine Katastrophe zuerst für die Jünger; denn einen Märtyrertod an Kreuzen neben Jesus hätten sie damals nicht leisten können; und wenn sie durch eine öffentliche Verleugnung vor dem Hohen Rat vielleicht in der Gegenwart Jesu ihr Leben gerettet hätten, wären sie nach einem solchen moralischen Zusammenbruch für immer als Apostel unbrauchbar geworden, das heißt, daß die von Satan verlangte Probe für Jesu eigene Sache in der Welt den Tod bedeuten würde.2

Nach Boman hat Jesus für die Bewahrung seiner Jünger gebetet. Er wurde erhört und dadurch war die Grundlage für die Verkündigung des Evangeliums nach seiner Auferstehung gelegt.

Ich weiß nicht, ob Bomans Erklärung zutrifft. Sie weist aber in die Richtung, dass es für Jesus auch angesichs seiner Leiden und seines schrecklichen Todes wichtig war, dass die Jünger bewahrt werden. Auch in Johannes 17 (am selben Abend wie seine Gefangennahme) hat Jesus um die Bewahrung seiner Jünger gebetet:

Heiliger Vater, bewahre sie in deinem Namen, den du mir gegeben hast, damit sie eins sind wie wir! (Johannes 17,11b)
Ich bitte nicht, dass du sie aus der Welt nimmst, sondern dass du sie vor dem Bösen bewahrst. (Johannes 17,15)

Das ist die wahre Liebe, die sich ganz für die anderen hingibt.

Da er die Seinen liebte, die in der Welt waren, liebte er sie bis zur Vollendung. (Johannes 13,1b)

Auf jeden Fall dürfen wir für die große Liebe Jesu sehr dankbar sein. In seiner Liebe liegt die Basis für die Liebe, die er als Antwort von uns erwartet.

Lasst uns also voll Zuversicht hinzutreten zum Thron der Gnade, damit wir Erbarmen und Gnade finden und so Hilfe erlangen zur rechten Zeit! (Hebräer 4,16)


  1. Thorleif Boman, Die Jesusüberlieferung im Lichte der neueren Volkskunde, Göttingen 1967, S. 214. Die Beschäftigung mit Hebräer 5,7 ist im Rahmen des Exkurses „Der Gebetskampf Jesu“ auf den Seiten 208 bis 221. 
  2. Boman, Jesusüberlieferung, Seite 216. 

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