Nach dem Tod des alten Patriarchen Jakob hatten dessen Söhne Angst und Sorge, dass ihnen ihr Bruder Josef alles Böse vergelten würde, das sie ihm angetan hatten. Immerhin hatten sie geplant, ihn aus Eifersucht zu töten. Sie änderten aber ihren Plan und verkauften ihn, sodass Josef als Sklave nach Ägypten kam. Weil er der Verführung der Frau seines Herrn widerstand, musste er wegen ihrer Bosheit ins Gefängnis, woraus er durch Gottes wunderbare Fügung befreit wurde. All dieses Leid hätte es ohne die Bosheit der Brüder Josefs nicht gegeben. Darum gab es nach menschlichem Ermessen genug Grund, sich vor der Vergeltung Josefs zu fürchten.
Im Buch Genesis heißt es dazu:
15 Als Josefs Brüder sahen, dass ihr Vater tot war, sagten sie: Wenn sich Josef nun feindselig gegen uns stellt und uns tatsächlich alles Böse vergilt, das wir ihm getan haben. 16 Deshalb ließen sie Josef wissen: Dein Vater hat uns, bevor er starb, aufgetragen: 17 So sagt zu Josef: Ach, vergib doch deinen Brüdern ihre Untat und Sünde, denn Schlimmes haben sie dir angetan. Nun also vergib doch die Untat der Knechte des Gottes deines Vaters! Als man ihm diese Worte überbrachte, weinte Josef. 18 Seine Brüder gingen dann auch selbst hin, fielen vor ihm nieder und sagten: Hier sind wir als deine Knechte. 19 Josef aber antwortete ihnen: Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Gottes Stelle? 20 Ihr habt Böses gegen mich im Sinne gehabt, Gott aber hatte dabei Gutes im Sinn, um zu erreichen, was heute geschieht: viel Volk am Leben zu erhalten. (Genesis 50,15-20)
Auffallend ist die Vergebungsbereitschaft Josefs, der keinerlei Gram gegen seine Brüder hegte. Diese Vergebungsbereitschaft hatte ihren Grund in der tiefen Verbundenheit Josefs mit Gott. In der biblischen Josefserzählung fällt auf, dass wiederholt ausgedrückt wird, dass Gott gerade dann mit Josef war, als es ihm am schlimmsten ging (Genesis 39,2.21.23). Interessanterweise fehlen diese Hinweise in der koranischen Josefserzählung.
Josef sah hinter allem, was geschehen war, auch den Plan und das Wirken Gottes. Seine Brüder haben Böses getan. Gott hat Gutes daraus gemacht.
Man könnte die Frage stellen, ob es ohne die Bosheit der Brüder Josefs das Gute, das Gott daraus gemacht hat, nicht gegeben hätte.
Hätten sie ihn nicht verkauft, wäre Josef nicht nach Ägypten gekommen. Er wäre nicht an den Hof des Pharao gekommen. Ägypten wäre nicht auf die kommende Hungersnot vorbereitet gewesen. Eine Katastrophe für Ägypten und auch das benachbarte Kanaan wäre die Folge gewesen. Also war es doch gut, dass die Brüder Josef in die Sklaverei verkauft haben?
Dieses Denken greift zu kurz. Wir wissen nicht, was geschehen wäre und wie Gott gehandelt hätte, wären die Brüder mit Josef liebevoll umgegangen. Wir kennen nicht die Wege und Gedanken Gottes, um die Rettung dennoch in die Wege zu lenken. Gott steht über allem und braucht die Bosheit nicht, um Gutes zu tun. Wenn Gott die Folgen einer bösen Tat zum Guten verwenden kann, heißt das nicht, dass diese Tat in sich dadurch besser wird.
Gewiss wollte Josef mit seinen Worten in Vers 20 seine Brüder aufmuntern und trösten. Doch die Bosheit bleibt trotzdem Bosheit und hat nichts Gutes in sich.
Das Wirken Gottes an Josef war in gewisser Weise ein Vorbild für das Wirken Gottes an Jesus. Auch Jesus musste die Bosheit seiner Brüder, seiner Volksgenossen erfahren. Sein Leiden und sein Tod am Kreuz war die Folge der Ablehnung oder Gleichgültigkeit vieler aus seinem Volk, vor allem aber des Hasses der religiösen Führer. Dazu kam, dass ihn einer seiner Jünger verraten hat, und dass der römische Statthalter, der die Unschuld Jesu erkannt hatte, aufgrund seiner Feigheit dem Druck der Oberpriester nachgegeben hat. Das hing wohl auch mit seiner eigenen moralischen Verkommenheit zusammen. Das Leiden und der Tod Jesu war das Ergebnis eines Zusammenwirkens verschiedenster böser Entscheidungen.
Trotzdem sehen die Schreiber des Neuen Testaments im Tod (und der Auferstehung) Jesu die zentrale Erlösungstat Gottes. Diese Deutung seines Todes geht auf Jesus selbst zurück, der gesagt hat, dass er gekommen ist, um zu dienen und sein Leben als Lösegeld für viele hinzugeben (Markus 10,45), oder dass sein Blut für viele zur Vergebung der Sünden vergossen wird (Matthäus 26,28). Diese Deutung ist also keinesfalls eine Erfindung des Apostels Paulus.
Heißt das nun, dass Gott zur Erlösung die Bosheit der Menschen brauchte? Hätte es ohne die Bosheit von Kajaphas, Judas und Pilatus keine Erlösung gegeben? Diesen Schluss darf man keinesfalls ziehen.
Und gilt am Ende das, womit man uns verleumdet und was einige uns in den Mund legen: Lasst uns Böses tun, damit Gutes entsteht? Diese Leute werden mit Recht verurteilt. (Römer 3,8)
Jesus ist gekommen, um die Menschen zur Umkehr zu rufen.
Von da an begann Jesus zu verkünden: Kehrt um! Denn das Himmelreich ist nahe. (Matthäus 4,17)
Jerusalem, Jerusalem, du tötest die Propheten und steinigst die Boten, die zu dir gesandt sind. Wie oft wollte ich deine Kinder sammeln, so wie eine Henne ihre Küken unter ihre Flügel nimmt; aber ihr habt nicht gewollt. (Matthäus 23,37)
Wären die Menschen dem Ruf zur Umkehr gefolgt, hätten sie sich von Jesus sammeln lassen, dann hätten die Bosheit keinen Raum in ihnen gefunden. Sie hätten Jesus nicht getötet.
Doch der Erlösungsplan Gottes wäre dadurch nicht gescheitert. Wir wissen nicht, können bestenfalls nur vermuten, wie Gott auf eine andere Weise die Erlösung gewirkt hätte.
Wir dürfen Gott dankbar sein, dass er trotz der Bosheit der Menschen – trotz unserer Bosheit – immer wieder liebevoll in die Welt hineingewirkt hat. Gott hat aus Bösem Gutes gemacht. Aber Gott ist in seiner Weisheit und Liebe und absoluten Güte in keiner Weise vom Bösen abhängig. Er braucht das Böse nicht, um Gutes tun zu können.
Er brauchte es nicht im Falle von Josef, und er brauchte das Böse auch nicht zur Erlösung, die er durch Jesus geschenkt hat.
Das ist die Botschaft, die wir von ihm gehört haben und euch verkünden: Gott ist Licht und keine Finsternis ist in ihm.
(1 Johannes 1,5)Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis umhergehen, sondern wird das Licht des Lebens haben.
(Johannes 8,12)