Eines der am häufigsten rezitierten Gebete der Katholiken ist das „Ave Maria“ – in der deutschsprachigen Version „Gegrüßet seist du, Maria!“ In diesem Gebet wird Maria, die Mutter Jesu als „voll der Gnade“ angesprochen. Es soll hier nicht darum gehen, ob man überhaupt zu Maria beten kann, sondern um den Ausdruck „voll der Gnade“. Dieser Ausdruck wird in der katholischen Frömmigkeit des Öfteren so verstanden, dass Maria so mit Gnade erfüllt ist, dass sie dadurch auch zur Mittlerin aller Gnaden wird.
Der im Ave Maria verwendete Ausdruck stammt aus dem Gruß, mit dem der Engel Gabriel Maria begrüßt hat.
Der Engel trat bei ihr ein und sagte: Sei gegrüßt, du Begnadete, der Herr ist mit dir. (Lukas 1,28)
Es fällt auf, dass die katholische Einheitsübersetzung hier nicht „voll der Gnade“, sondern „Begnadete“ schreibt. Das ist die korrekte Wiedergabe des griechischen κεχαριτωμένη / kecharitoméne. Es handelt sich um die weibliche Form des passiven Perfektpartizips von χαριτόω / charitóo „Gnade erweisen“. Auch wenn Papst Franziskus meinte, es handle sich „um ein nicht leicht zu übersetzendes Wort“, scheinen die neueren Bibelübersetzer kein Problem mit diesem Wort zu haben. Sie übersetzen es alle gleich. Die Worte „voll der Gnade“ kommen aus der lateinischen Übersetzung der Vulgata gratia plena, die aber nicht dem griechischen Text entspricht.
Maria war ein Mensch, der wie jeder andere Mensch Gottes Gnade brauchte. Deswegen nannte sie auch Gott ihren Retter (Lukas 1,47). Gott hat ihr seine Gnade geschenkt und hat sie zu einer besonderen Aufgabe in seinem Heilsplan berufen. Das ist, was der Engel mit seinem Gruß ausdrücken wollte. Er hat sie nicht zu einer Mittlerin gemacht, nicht zu einem Objekt der kultischen Verehrung.
Interessanterweise gibt es eine Persönlichkeit, die in der Bibel wirklich „voll Gnade“ genannt wird. Es handelt sich um Stephanus.
Stephanus aber, voll Gnade und Kraft, tat Wunder und große Zeichen unter dem Volk. (Apostelgeschichte 6,8)
Über ihn steht im Griechischen wirklich, dass er voll Gnade (πλήρης χάριτος / pléres cháritos) war. Trotzdem hat sich im Katholizismus, abgesehen vom „normalen“ Heiligenkult, kein besonderer Stephanus-Kult entwickelt, durch den Stephanus uns mit der Fülle der ihm anvertrauten Gnaden reich beschenken würde. Das ist mit den Worten „voll der Gnade“ auch nicht gemeint. Durch seinen Gehorsam und seine Liebe hat Stephanus in besonderer Weise Gott in sich wirken lassen. So konnte Gott durch ihn Wunder vollbringen. Er konnte seinen Gegnern voll Weisheit widerstehen.
Wenn wir uns dem Alten Testament zuwenden, so finden wir in den Psalmen folgende Worte:
Er liebt Gerechtigkeit und Recht; die Erde ist voll der Gnade des HERRN. (Psalm 33,5; Elberfelder)
Von deiner Gnade, HERR, ist die Erde erfüllt. Lehre mich deine Ordnungen! (Psalm 119,64; Elberfelder)
An beiden Stellen steht das hebräische Wort חֶ֥סֶד / chäsäd, dessen Grundbedeutungen „Güte, Gnade, Treue“ sind. Hier kann keinesfalls gemeint sein, dass die Erde (oder das Land) von uns um die Vermittlung der Gnade Gottes angerufen werden soll. Die Erde ist von Gott gut geschaffen. Gott liebt seine Schöpfung und wendet sich ihr voller Gnade und Güte zu. Darum sollen auch wir uns zu ihm wenden, ihn wie der Psalmist darum bitten, uns seine Ordnungen zu lehren.
Die Fülle seiner Gnade hat uns Gott in seinem Sohn geschenkt. Das Verb χαριτόω / charitóo kommt neben Lukas 1,28 im Neuen Testament nur mehr in Epheser 1,6 vor.
[…] zum Lob seiner herrlichen Gnade. Er hat sie uns geschenkt in seinem geliebten Sohn.
Wörtlicher als die Einheitsübersetzung übersetzt die Elberfelder Bibel:
[…] zum Preise der Herrlichkeit seiner Gnade, mit der er uns begnadigt hat in dem Geliebten.
In Jesus finden wir wirklich die Gnade Gottes. Deswegen führt der Weg zu Gott über ihn.
Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt und wir haben seine Herrlichkeit geschaut, die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit. (Johannes 1,14)
Aus seiner Fülle haben wir alle empfangen, Gnade über Gnade. (Johannes 1,16)