Der anglikanische Erzbischof von York hat verschiedenen Pressemeldungen zufolge die Anrede „Vater“ im „Vater Unser“ kritisiert. Manche haben das so interpretiert, dass er dieses Gebet abändern möchte. In Bezug auf die Bitte „Und führe uns nicht in Versuchung“ gab es bei den italienischen und französischen Katholiken ja bereits Änderungen. Warum sollte dann ein anglikanischer Erzbischof nicht auch die Freiheit haben, die Anrede abzuändern?
Diesen Vorschlag hat der Yorker Erzbischof aber nicht gemacht. Das Original seiner Rede kann hier nachgelesen werden. Die mit deepl.com erstellte Übersetzung lautet so:
Denn wenn dieser Gott, zu dem wir beten, „Vater“ ist – und ja, ich weiß, das Wort „Vater“ ist problematisch für diejenigen, deren Erfahrungen mit irdischen Vätern zerstörerisch und missbräuchlich waren, und für alle von uns, die etwas zu sehr unter einem erdrückenden, patriarchalischen Griff auf das Leben gelitten haben -, dann sind diejenigen von uns, die dieses Gebet gemeinsam sprechen, ob wir es wollen oder nicht, ob wir es anerkennen oder nicht, selbst wenn wir uns entschlossen voneinander abwenden und uns nur umdrehen, um demjenigen, der hinter uns steht, ein Messer in den Rücken zu stoßen, sind Schwestern und Brüder, Familienmitglieder, das Haus Gottes.
Grundsätzlich hat er mit den angesprochenen Problemen nichts Neues gesagt. Ich habe derartige Gedanken schon vor Jahren gehört. Ich kann diesem Hinweis auf Probleme allerdings nicht entnehmen, dass er vorgeschlagen hat, den Text zu ändern. Überdies war es nicht die Intention Jesu, ein neues Formelgebet einzuführen, dass immer wortgetreu rezitiert werden muss. Jesus hat seine Jünger gelehrt, wie sie beten sollen, was ihre Prioritäten im Gebet sein sollen und wie sie sich Gott als ihrem Vater vertrauensvoll nähern dürfen. Mehr dazu im Beitrag: Das „Vater Unser“ – ein Formelgebet?
Doch ist die Problematik, auf die der Erzbischof hinweist, tatsächlich gegeben? Gewiss gibt es Menschen, die mit ihren irdischen Vätern Erfahrungen gemacht haben, die zerstörerisch und missbräuchlich waren. Aber haben diese Erfahrungen zur Folge, dass für diese Menschen das Wort „Vater“ nur mehr eine negative Bedeutung hat? Die negativen Erfahrungen können auch die Sehnsucht nach einem echten Vater erwecken, der sich seinen Kindern liebevoll zuwendet. Gerade in der Zuwendung zu Gott können die Wunden, die böse Menschen geschlagen haben, geheilt werden.
Wer sich durch Jesus von seinen Sünden ab- und Gott zuwendet, wer von Gott im Heiligen Geist ein neues Leben aus dem Glauben empfangen hat, kann sehr gut unterscheiden zwischen einem irdischen Vater, der sein Kind misshandelt hat, und Gott, dem liebenden Vater.
Denn ihr habt nicht einen Geist der Knechtschaft empfangen, sodass ihr immer noch Furcht haben müsstet, sondern ihr habt den Geist der Kindschaft empfangen, in dem wir rufen: Abba, Vater! (Römer 8,15)
Einem Erzbischof der englischen Staatskirche, der diese Erfahrung nicht gemacht hat, da er in eine Kirchenstruktur integriert ist, für die seit ihrer Gründung durch einen Ehebrecher und Mörder der jeweilige Zeitgeist wichtiger war als der Geist Gottes, ist fast notwendigerweise geistliches Denken fern. Darum bleibt er bei psychologischen Gedanken hängen.
Auch die zweite Problematik, die er anspricht, ist auf einer ähnlichen Ebene:
[…] für alle von uns, die etwas zu sehr unter einem erdrückenden, patriarchalischen Griff auf das Leben gelitten haben […]
Er hat nicht näher ausgeführt, was er gemeint hat. Hat er an die streng hierarchische Ordnung seiner und anderer „Kirchen“ gedacht? Oder hat er an das biblische Familienbild gedacht, an dessen Zerstörung auch in der von „Queerness“ beeinflussten anglikanischen Kirche gearbeitet wird?
Sollte er an die Kirchenstruktur gedacht haben, dann liegt die Schuld nicht an der Anrede Vater, sondern am Ungehorsam seiner Staatskirche:
8 Ihr aber sollt euch nicht Rabbi nennen lassen; denn nur einer ist euer Meister, ihr alle aber seid Brüder. 9 Auch sollt ihr niemanden auf Erden euren Vater nennen; denn nur einer ist euer Vater, der im Himmel. 10 Auch sollt ihr euch nicht Lehrer nennen lassen; denn nur einer ist euer Lehrer, Christus. 11 Der Größte von euch soll euer Diener sein. 12 Denn wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt, und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden. (Matthäus 23,8-12)
Gerade wenn man ernst nimmt, dass Gott der einzige Vater (im geistlichen Sinn) ist, verschwinden die patriarchalischen Strukturen. In der Kirche Jesu Christi sind alle Brüder und Schwestern. Doch an eine Änderung dieser Strukturen hat der Erzbischof wohl nicht gedacht. Sonst müsste er sein „Amt“ aufgeben. So hat er wohl nur ein allgemeines, dem derzeitigen Zeitgeist entsprechendes Statement gegen den Patriarchalismus von sich gegeben.
Das eigentliche Problem, das in der Presse nicht angesprochen wird, kommt erst im nächsten Satz der Rede des Erzbischofs:
[…] dann sind diejenigen von uns, die dieses Gebet gemeinsam sprechen, ob wir es wollen oder nicht, ob wir es anerkennen oder nicht, selbst wenn wir uns entschlossen voneinander abwenden und uns nur umdrehen, um demjenigen, der hinter uns steht, ein Messer in den Rücken zu stoßen, sind Schwestern und Brüder, Familienmitglieder, das Haus Gottes.
Für ihn sind alle, die dieses Gebet gemeinsam sprechen, „Schwestern und Brüder, Familienmitglieder, das Haus Gottes“. Sogar dann, wenn jemand Tötungsabsichten gegen den, der hinter ihm steht, hegt.
Der Erzbischof unterscheidet nicht zwischen Christen und Nichtchristen. Alle Menschen sind Geschöpfe Gottes. An einer einzigen Stelle (Matthäus 25,40) nennt Jesus die Notleidenden, denen die Menschen, die noch wie etwas vom Evangelium gehört haben, helfen, seine Brüder. Die Menschen, die das Evangelium und somit auch Jesus noch nicht kannten, haben durch ihren Dienst an den hilfsbedürftigen Mitmenschen ihre Liebe zu Gott und somit auch zu dem ihnen noch unbekannten Jesus ausgedrückt.
Doch wird an anderen Stellen des Neuen Testaments klar gemacht, dass diejenigen Kinder Gottes sind, die Jesus aufgenommen haben:
Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden, allen, die an seinen Namen glauben. (Johannes 1,12)
Denn die sich vom Geist Gottes leiten lassen, sind Kinder Gottes. (Römer 8,14)
Diese Unterscheidung zwischen Geschöpf Gottes und Kind Gottes wird in den „Großkirchen“ nicht gemacht.1 Jeder zählt als Kind Gottes, unabhängig davon, was er glaubt, wie er denkt und wie er lebt. Die in der apostolischen Zeit selbstverständliche Unterscheidung zwischen Brüdern und Außenstehenden gibt es nicht.
9 Ich habe euch in meinem Brief geschrieben, dass ihr nichts mit Unzüchtigen zu schaffen haben sollt. 10 Gemeint waren damit nicht alle Unzüchtigen dieser Welt oder alle Habgierigen und Räuber und Götzendiener; sonst müsstet ihr ja aus der Welt auswandern. 11 Nun aber habe ich euch geschrieben: Habt nichts zu schaffen mit einem, der sich Bruder nennt und dennoch Unzucht treibt, habgierig ist, Götzen verehrt, lästert, trinkt oder raubt; mit einem solchen Menschen sollt ihr auch keine Tischgemeinschaft haben. (1 Korinther 5,9-11)
Von einem Menschen, der sich „Bruder“ nennt und sich von seinen Sünden nicht trennt, muss sich die Gemeinde trennen. Weil das weder bei den Anglikanern noch bei den Katholiken oder anderen „Großkirchen“ geschieht, wurde der Begriff „Christ“ oder „Bruder“ immer mehr verwässert. Dadurch wird es den Menschen schwer gemacht, sich so Gott zuzuwenden, wie es die Apostel gelehrt haben. Ein Gemeindeleben, wie es bei den ersten Christen war, wird unmöglich.
Wenn man das betrachtet, dann sind die Hinweise auf die Probleme, die manche mit dem Wort „Vater“ haben, noch das geringere Übel. Das eigentliche Übel ist eine ganz grundsätzliche Verwässerung des Evangeliums, die dadurch geschieht, dass man alle Menschen auch ohne Umkehr zu Kindern Gottes erklärt.
- Ebenso Jorge Mario Bergoglio (Papst Franziskus) in seiner Enzyklika Fratelli tutti. ↩