Gottessöhne und Menschentöchter

1 Als sich die Menschen auf Erden zu vermehren begannen und ihnen Töchter geboren wurden, 2 sahen die Gottessöhne, wie schön die Menschentöchter waren, und sie nahmen sich von ihnen allen Frauen, die sie auswählten. 3 Da sprach der HERR: Mein Geist soll nicht für immer im Menschen bleiben, weil er eben Fleisch ist; daher soll seine Lebenszeit hundertzwanzig Jahre betragen. 4 In jenen Tagen gab es auf der Erde die Riesen, und auch später noch, nachdem sich die Gottessöhne mit den Menschentöchtern eingelassen und diese ihnen Kinder geboren hatten. Das sind die Helden der Vorzeit, die namhaften Männer. (Genesis 6,1-4)

Diese Verse wurden im Laufe der Geschichte unterschiedlich interpretiert. Es geht vor allem darum, welche Wesen mit den „Gottessöhnen“ gemeint sind.

Bereits in vorchristlicher Zeit, etwa im apokryphen Buch Henoch, sah man in den „Gottessöhnen“ Engelwesen, die mit den „Menschentöchtern“ sexuelle Beziehungen eingingen. Aus diesen Verbindungen entsprangen riesenhafte Menschen. Dieses Verständnis wird auch heute noch vielfach vertreten, etwa von den Zeugen Jehovas, aber auch vom wissenschaftlichen Bibellexikon. Anders als die Zeugen Jehovas denken die Autoren des wissenschaftlichen Bibellexikons natürlich nicht, dass sich das tatsächlich zugetragen hat.

Eine andere von manchen Kirchenvätern vertretene Deutung war, dass es sich bei den „Gottessöhnen“ um die Nachkommen Seths gehandelt habe, die mit weiblichen Nachkommen Kains unerlaubte sexuelle Beziehungen eingegangen seien.

Ein dritter Deutungsvorschlag bezieht die „Gottessöhne“ auf mächtige Menschen, Herrscher, die ihre Macht dazu ausnützten, sich die Frauen zu nehmen, die ihnen gefielen, die die von Lamech begonnene Polygamie noch viel intensiver betrieben.

1 Engelwesen?

Für die Deutung der „Gottessöhne“ auf Engel spricht, dass dieser Begriff auch in anderen Stellen des Alten Testaments Engel meint.

Nun geschah es eines Tages, da kamen die Gottessöhne, um vor den HERRN hinzutreten; unter ihnen kam auch der Satan. (Hiob 1,6 – vergleiche 2,1; 38,6-7)

Auch in Psalm 29,1 und 89,7 sind mit den Göttersöhnen (dort steht im Text Elim und nicht, wie in Genesis 6 Elohim) himmlische Wesen gemeint.

Bei den „Göttern, den Söhnen des Höchsten“ in Psalm 82,6 hingegen sind Menschen angesprochen, Richter, denen Gott das Gericht ankündigt.

Doch ergibt sich bei der Deutung auf Engel das Problem, dass es im Zusammenhang von Genesis 6 sonst nur um Menschen geht.

Bestraft werden sollen nur die Menschen. In Vers 3 soll der (Lebens-)Geist Gottes nicht für immer im Menschen bleiben. Die Verse 1-4 dienen als Einleitung der Erzählung von der Sintflut, die der durch und durch bösen Menschheit ein Ende bereiten soll.

Der HERR sah, dass auf der Erde die Bosheit des Menschen zunahm und dass alles Sinnen und Trachten seines Herzens immer nur böse war. (Genesis 6,5)

Von einer Bestrafung der Gottessöhne ist keine Rede. Dabei waren doch sie diejenigen, die in erster Linie gesündigt haben. Sie waren es, die sich von den Menschentöchtern diejenigen genommen haben, die ihnen gefallen haben.

Innerhalb des Buches Genesis gibt es auch Parallelen zwischen Genesis 3, der Erzählung vom Sündenfall und Genesis 6.

Da sah die Frau, dass es köstlich wäre, von dem Baum zu essen, […] (Genesis 3,6a)
[…] sahen die Gottessöhne, wie schön die Menschentöchter waren […] (Genesis 6,2a)

Sie nahm von seinen Früchten und aß […] (Genesis 3,6b)
[…] und sie nahmen sich von ihnen allen Frauen, die sie auswählten. (Genesis 6,2b)

Hier besteht die Parallele zwischen der Frau, die sah und nahm und den Gottessöhnen, die sahen und nahmen. Die Gottessöhne werden nicht mit der Schlange in Parallele gestellt, sondern mit der Frau. Das spricht auch dafür, dass mit den Gottessöhnen Menschen gemeint sind.

Zu bedenken ist auch ein Wort, das Jesus im Zusammenhang mit der Auferstehung gesagt hat.

Denn nach der Auferstehung heiratet man nicht, noch wird man geheiratet, sondern die Menschen sind wie Engel im Himmel. (Matthäus 22,30)

Die Menschen wurden von Gott als Mann und Frau geschaffen. Sie sollten sich vermehren. Bei den Engeln als reine Geistwesen ist das von ihrem Wesen her anders. Die Engel sind nicht als sexuelle Wesen geschaffen worden, weil sie sich nicht vermehren müssen. Insofern ist eine sexuelle Beziehung auch von gefallenen Engeln mit Menschen nicht möglich. Da kann es auch keine Nachkommenschaft geben.

Wenn Jesus die Menschen nach der Auferstehung mit den Engeln vergleicht, bedeutet das natürlich nicht, dass die Menschen zu Engeln werden, sondern dass die Menschen, die nach wie vor Mann und Frau sein werden, nach der Auferstehung in ihrem Auferstehungsleib keine sexuellen Beziehungen mehr haben werden.

Sowohl der Zusammenhang in Genesis als auch der Wesensunterschied zwischen Engeln und Menschen widersprechen der Deutung der Gottessöhne auf Engelwesen.

2 Nachkommen Seths?

Bei dieser Deutung wird das Problem der Beziehungen zwischen Engeln und Menschen vermieden. Aber auch diese Lösung ist nicht ohne Probleme.

Das Wort „Mensch“ würde zwischen den Versen 1 und 2 eine Bedeutungsänderung erfahren. In Vers 1 geht es offensichtlich um alle Menschen, in Vers 2 wären aber mit den Töchtern der Menschen nur die weiblichen Nachkommen Kains gemeint. Im Text gibt es keinen Hinweis darauf, dass in Vers 2 das Wort „Mensch“ anders zu verstehen sei als in Vers 1.

Im Neuen Testament werden die an Jesus Glaubenden „Kinder Gottes“ genannt (Johannes 1,12). Doch kann man das schon in die vorsintflutliche Zeit rückprojizieren?

Die Erklärung mit Nachkommen Seths vermeidet aber zumindest das Hauptproblem der Erklärung mit Engeln.

3 Mächtige Menschen?

Es gibt hier zwei verschiedene Ansätze. Einerseits könnten Könige gemeint sein, da sowohl in orientalischen Kulturen als auch im Alten Testament Könige als Söhne Gottes oder der Götter angesehen wurden, wobei es da natürlich große Unterschiede im Verständnis gab. Im Alten Testament betrifft das die Dynastie Davids (z. B. 2 Samuel 7,14).

Der andere Ansatz versteht das Wort „Elohim“ von seiner etymologischen Wurzel her. Wenn man „Elohim“ von „El“ ableitet, kommt man zu einer Grundbedeutung „Stärke“, „Gewalt“. Man könnte dann die „Söhne Elohims“ als „Söhne der Stärke“ verstehen, als starke, gewalttätige Menschen, als Tyrannen.

Das Wort „Elohim“ scheint auch in einigen anderen Stellen dazu verwendet worden sein, um etwas Großes auszudrücken.

Berg Gottes, Berg von Baschan, Berg mit Gipfeln, Berg von Baschan. (Psalm 68,16)

Hier bedeutet „Berg Elohims“ wahrscheinlich nur „gewaltiger Berg“. Der eigentliche Berg Gottes ist der Berg Zion.

9 Einen Weinstock hobst du aus in Ägypten, du hast Völker vertrieben und ihn eingepflanzt. 10 Du schufst ihm weiten Raum, er hat Wurzeln geschlagen und das ganze Land erfüllt. 11 Sein Schatten bedeckte die Berge, seine Zweige die Zedern Gottes. (Psalm 80,9-11)

Der Weinstock Israels hat sich ausgebreitet, sogar bis zu den gewaltigen Zedern des Libanon.

In diesem Sinne könnten die „Söhne Elohims“ einfach gewalttätige Menschen gewesen sein, die sich von den Frauen der Menschen die genommen haben, die ihnen gefallen haben. Sie haben die von Lamech begründete Sünde der Polygamie fortgesetzt, – anders als der gerechte Noah, der monogam lebte.

Vielleicht steckt hinter diesem Text auch eine Erinnerung daran, dass diese starken und gewalttätigen Männer in der Auswahl ihrer Frauen einen besonderen Wert darauf gelegt haben, dass diese auch stark und kräftig waren, sodass aus diesen Verbindungen starke und heldenhafte Männer hervorgingen, die Nephilim („Riesen“), die „Helden der Vorzeit“. Wollten die gottlosen Gewaltherrscher eine besondere Herrenrasse heranzüchten, die größer und kräftiger war als die von ihnen unterdrückten Menschen? Solche Gedanken sind natürlich zu einem gewissen Grad Spekulation.

Die Erklärung mit den „Söhnen der Stärke und Gewalt“ würde zumindest gut zu Genesis 6,11 passen:

Die Erde aber war vor Gott verdorben, die Erde war voller Gewalttat.


Ganz anders als diese „Gottessöhne“ ist der wahre Sohn Gottes, der in Jesus Christus Mensch geworden ist. Er kam nicht als Gewalttäter und hat es nicht auf die Töchter der Menschen abgesehen. Er war gütig und von Herzen demütig (Matthäus 11,29). Er war heilig und rein, ganz ohne Sünde. Er kam nicht, um zu nehmen, sondern um sich selbst ganz hinzugeben und so Menschen zu gewinnen, die durch ihn Kinder Gottes werden und als seine Gemeinde auch zu seiner heiligen von ihm geliebte Braut.

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