Als Jesus der Gotteslästerung beschuldigt wurde, hat er sich mit einem Wort aus Psalm 82,6 verteidigt:
Ich habe gesagt: Ihr seid Götter.
Was wollte Jesus damit sagen?
Ich werde mich zuerst mit dem Psalm beschäftigen und anschließend darüber nachdenken, was dieses Zitat im Munde Jesu bedeutet. Was sagt das über seinen Anspruch?
Psalm 82
1 Ein Psalm Asafs.
Gott steht auf in der Gottesversammlung, inmitten der Götter hält er Gericht.
2 Wie lange noch wollt ihr ungerecht richten und die Frevler begünstigen? [Sela]
3 Verhelft zum Recht den Geringen und Waisen, dem Elenden und dem Bedürftigen schafft Gerechtigkeit!
4 Befreit den Geringen und Armen, entreißt sie der Hand der Frevler!
5 Sie erkennen nicht, verstehen nichts, sie wandeln umher in Finsternis. Alle Grundfesten der Erde wanken.
6 Ich habe gesagt: Ihr seid Götter, ihr alle seid Söhne des Höchsten.
7 Doch nun sollt ihr sterben wie Menschen, sollt stürzen wie einer der Fürsten.
8 Steh auf, Gott, und richte die Erde! Denn alle Nationen werden dein Erbteil sein.
Der Psalm ist kein Gebet im eigentlichen Sinn. Nur der Schlussvers richtet sich an Gott. Es geht um die Gottesversammlung, in der Gott über die „Götter“ richtet. Der größte Teil des Psalms ist Gottes Rede an die „Götter“. Nur in Vers 5 ist eine Aussage in der dritten Person zu lesen, die vermutlich nicht als Teil der Gottesrede zu verstehen ist.
Hinter dem Bild der „Gottesversammlung“, der Versammlung Els, könnte eine Vorstellung aus der kanaanäischen Religion stehen, dass El, der Göttervater, das Pantheon, alle Götter um sich versammelt.
Spätestens in Vers 7 wird aber klar, dass es hier nicht um Götter im eigentlichen Sinn geht. Den Angesprochenen wird der Tod angekündigt.
Im Zusammenhang des Psalms wird sichtbar, dass es sich bei den „Göttern“ um Menschen handelt, um Richter, wahrscheinlich die Richter des Volkes Israel, die wegen ihres ungerechten Gerichts getadelt werden. Sie begünstigen die Frevler, verhelfen aber den Armen und Unterdrückten nicht zum Recht. Sie schaffen keine Gerechtigkeit. Die Richter werden dazu aufgerufen, den Armen zu helfen, sie der Hand der gottlosen Unterdrücker zu entreißen. Vers 5 will wohl sagen, dass die Richter nicht einmal verstehen, was ihre ihnen von Gott gegebene Aufgabe wäre. Sie wandeln in Finsternis umher, wegen ihrer Sünden können sie das Licht nicht sehen. Bildlich gesehen wanken die Grundfesten der Erde. Wo die Gerechtigkeit fehlt, fehlt das Fundament der gottgewollten Ordnung. Darum wird den Richtern das Gericht angekündigt. Sie werden sterben.
Im letzten Vers wird Gott angerufen, die Erde zu richten. Er ist der gerechte Richter. Er wird die Gerechtigkeit bis zu den Nationen bringen, die sein Erbteil sind.
Warum werden die Richter Götter genannt? Die Aufgabe eines Richters ist, für Gerechtigkeit zu sorgen. In dieser Hinsicht vertritt er Gott, der die Quelle aller Gerechtigkeit ist. Zugleich hatten die Richter bei manchen Delikten auch über Leben und Tod zu entscheiden. Sie konnten Menschen zum Tod verurteilen. Diese große Verantwortung setzt sie in eine „göttliche“ Position, da doch Gott der Herr über Leben und Tod ist. Diese Position setzt ein großes Streben nach Gerechtigkeit voraus, das den im Psalm angesprochenen Richtern gefehlt hat.
Darum wird Gott, der höchste Richter angerufen, durch sein Gericht Gerechtigkeit zu schaffen.
Wie hat Jesus dieses Psalmwort verwendet?
24 Da umringten ihn die Juden und fragten ihn: Wie lange hältst du uns noch hin? Wenn du der Christus bist, sag es uns offen! 25 Jesus antwortete ihnen: Ich habe es euch gesagt, aber ihr glaubt nicht. Die Werke, die ich im Namen meines Vaters vollbringe, legen Zeugnis für mich ab; 26 ihr aber glaubt nicht, weil ihr nicht zu meinen Schafen gehört. 27 Meine Schafe hören auf meine Stimme; ich kenne sie und sie folgen mir. 28 Ich gebe ihnen ewiges Leben. Sie werden niemals zugrunde gehen und niemand wird sie meiner Hand entreißen. 29 Mein Vater, der sie mir gab, ist größer als alle und niemand kann sie der Hand meines Vaters entreißen. 30 Ich und der Vater sind eins.
31 Da hoben die Juden wiederum Steine auf, um ihn zu steinigen. 32 Jesus hielt ihnen entgegen: Viele gute Werke habe ich im Auftrag des Vaters vor euren Augen getan. Für welches dieser Werke wollt ihr mich steinigen? 33 Die Juden antworteten ihm: Wir steinigen dich nicht wegen eines guten Werkes, sondern wegen Gotteslästerung; denn du bist nur ein Mensch und machst dich selbst zu Gott. 34 Jesus erwiderte ihnen: Steht nicht geschrieben in eurem Gesetz: Ich habe gesagt: Ihr seid Götter? (Ps 82,6) 35 Wenn er jene Menschen Götter genannt hat, an die das Wort Gottes ergangen ist, und wenn die Schrift nicht aufgehoben werden kann, 36 dürft ihr dann von dem, den der Vater geheiligt und in die Welt gesandt hat, sagen: Du lästerst Gott – weil ich gesagt habe: Ich bin Gottes Sohn? 37 Wenn ich nicht die Werke meines Vaters vollbringe, dann glaubt mir nicht! 38 Aber wenn ich sie vollbringe, dann glaubt wenigstens den Werken, wenn ihr mir nicht glaubt! Dann werdet ihr erkennen und einsehen, dass in mir der Vater ist und ich im Vater bin. 39 Wieder suchten sie ihn festzunehmen; er aber entzog sich ihrem Zugriff. (Johannes 10,24-39)
Das Gespräch fand in Jerusalem anlässlich des Tempelweihfests im Dezember 29 statt, drei bis vier Monate vor der Kreuzigung Jesu. Die jüdischen Führer wollten wissen, ob Jesus sich als Messias (= Christus) sieht. Jesus gab keine direkte Antwort und verwies auf seine Werke, die er im Namen des Vaters vollbracht hatte. Aus ihrem Unglauben schloss Jesus, dass sie nicht zu seinen Schafen gehörten. Dann verwies er noch auf seinen Vater, der ihm die Schafe gegeben hatte und der die Schafe bewahren würde. Dann betonte er noch seine Einheit mit dem Vater. Er tat das mit den Worten „Ich und der Vater sind eins„.
Die Juden verstanden diese Worte als Gotteslästerung. Jesus habe sich selbst zu Gott gemacht. Vielleicht hat auch die parallele Formulierung „Niemand wird sie meiner Hand entreißen“ und „Niemand kann sie der Hand meines Vaters entreißen“ dazu beigetragen. Jesus hat hier dieselbe Aussage über sich und den Vater gemacht.
Auf den Vorwurf, dass Jesus sicht selbst zu Gott mache, entgegnete er mit einem Verweis auf Psalm 82,6. Wollte Jesus damit sagen, dass er es nicht so gemeint habe, wie sie es ausgedrückt haben? Er sei ja nicht wirklich Gott. Sein „Gottsein“ sei nur auf derselben Ebene zu verstehen wie das der Richter, an die sich der Psalm wendet. In Wirklichkeit sei er nicht mehr als ein Mensch, dem Gott Autorität gegeben habe, aber letztlich doch nur ein Mensch.
Auf den ersten Blick könnte man das so verstehen. Gewiss wollte Jesus seinen Gegnern mit einem Überraschungseffekt begegnen und sie in dieser erhitzten Situation etwas beruhigen, aber auch zum Nachdenken bringen. Er wollte sie zu einem differenzierten Denken führen. Die Wörter „Gott“ oder „Sohn Gottes“ heißen nicht in jedem Zusammenhang dasselbe. Den jüdischen Führern war wohl auch klar, dass die „Götter“ in Psalm 82 nur Menschen waren.
Jesus hat hier aber nicht gesagt, dass er ein „Gott“ auf der Ebene der in Psalm 82 Angesprochenen ist. Er hat gesagt, dass, wenn schon die schlechten Richter „Götter“ genannt wurden, dass sie dann in keiner Weise kritisieren dürfen, dass Jesus, den „der Vater geheiligt und in die Welt gesandt hat“, den Anspruch erhebt, Gottes Sohn zu sein. Die Menschen sollen die Worte und den Anspruch Jesu vor dem Hintergrund seiner Taten betrachten. Dann werden sie verstehen, wer er ist. Er verwies in Vers 37 auf die Werke seines Vaters, die er vollbracht hat. Diese Werke konnte kein Mensch vollbringen. Die Werke Jesu bezeugen eindeutig, dass in ihm Gott am Werk ist.
Wir wissen, dass Gott Sünder nicht erhört; wer aber Gott fürchtet und seinen Willen tut, den erhört er. (Johannes 9,31)
Das bedeutet aber auch, dass auch die Worte und der Anspruch Jesu in voller Übereinstimmung mit dem Vater sind. Darum drückte Jesus die tiefe Einheit mit dem Vater aus:
Dann werdet ihr erkennen und einsehen, dass in mir der Vater ist und ich im Vater bin. (Johannes 10,38)
Die Reaktion der Gegner darauf zeigte, dass sie Jesus weiterhin als Gotteslästerer betrachteten, der den Tod verdient hatte. Sie verstanden, dass es um eine tiefere Einheit ging als darum, eines Sinnes zu sein.
Gewiss hat Jesus in dieser Situation nicht seinen vollen göttlichen Anspruch offenbart. Den haben auch seine Jünger erst nach seiner Auferstehung verstanden, als Thomas bekannte:
Mein Herr und mein Gott! (Johannes 20,28b)
Aber keinesfalls wollte Jesus sagen, dass er ein „Gott“ auf der Ebene der „Götter“ in Psalm 82 sei. Immerhin hat Jesus beansprucht, dass er der Richter der Welt ist. Er hat dadurch die Autorität beansprucht, die nach Psalm 82,8 Gott zukommt.
31 Wenn der Menschensohn in seiner Herrlichkeit kommt und alle Engel mit ihm, dann wird er sich auf den Thron seiner Herrlichkeit setzen. 32 Und alle Völker werden vor ihm versammelt werden und er wird sie voneinander scheiden, wie der Hirt die Schafe von den Böcken scheidet. (Matthäus 25,31-32)
26 Denn wie der Vater das Leben in sich hat, so hat er auch dem Sohn gegeben, das Leben in sich zu haben. 27 Und er hat ihm Vollmacht gegeben, Gericht zu halten, weil er der Menschensohn ist. (Johannes 5,26-27)
Jesus ist der vollkommene und gerechte Richter der Welt. Vor ihm wird jeder Mensch Rechenschaft ablegen müssen. Er ruft die Menschen dazu auf, ihm zu folgen und dadurch den Schritt vom Tod zum Leben zu machen und so nicht ins ewige Gericht zu kommen.
Amen, amen, ich sage euch: Wer mein Wort hört und dem glaubt, der mich gesandt hat, hat das ewige Leben; er kommt nicht ins Gericht, sondern ist aus dem Tod ins Leben hinübergegangen. (Johannes 5,24)
Auch im Zusammenhang von Johannes 10 hat Jesus denen, die seine Stimme hören und ihm folgen, das ewige Leben verheißen:
27 Meine Schafe hören auf meine Stimme; ich kenne sie und sie folgen mir. 28 Ich gebe ihnen ewiges Leben. Sie werden niemals zugrunde gehen und niemand wird sie meiner Hand entreißen.(Johannes 10,27-28)
Wer ihm folgt, wird nicht wie einer der „Götter“ und „Söhne des Höchsten“ aus Psalm 82. Aber er wird zu einem geliebten Kind Gottes.
Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden, allen, die an seinen Namen glauben. (Johannes 1,12)