Zwei kanonische Evangelien (Matthäus und Lukas) berichten über die Begebenheiten um die Geburt Jesu. Matthäus schreibt über die Flucht nach Ägypten (Matthäus 2,13-15.19-23), Lukas über den zwölfjährigen Jesus im Tempel (Lukas 2,41-52). Mehr wird über die Kindheit Jesu nicht geschrieben.
Ab der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts haben fantasievolle Schreiber versucht, diese Lücke zu füllen und in apokryphen Evangelien ihren Vorstellungen freien Lauf gelassen und motiviert durch die zahlreichen Wunder, die Jesus während der Jahre seines öffentlichen Auftretens gewirkt hat, auch die Kindheit und Jugend Jesu mit Wundern ausgeschmückt.
Ein frühes Beispiel dafür ist das sogenannte Kindheitsevangelium nach Thomas (nicht zu verwechseln mit dem Thomasevangelium, das eine reine Spruchsammlung darstellt). In diesem Evangelium findet sich in 2,1-5 ein Text, in dem der fünfjährige Jesus Vögel aus Lehm zum Leben erweckt. Sogar einen Toten soll der Jesusknabe erweckt haben1:
1 Einige Tage später spielte Jesus auf dem Dachgarten des Hauses. Einer von den Jungen, die mit ihm spielten, fiel vom Dach herunter und war tot. Als die anderen Kinder das sahen, liefen sie weg, und Jesus stand allein da. 2 Da kamen die Eltern des toten Kindes und beschuldigten Jesus. Doch der sagte: »Ich habe ihn wirklich nicht hinuntergeworfen.« Doch sie fingen an, handgreiflich zu werden. 3 Da sprang Jesus vom Dach herab und stellte sich neben der Leiche des Jungen auf. Er rief laut: »Zenon!« – so hieß der Junge – »Steh auf und sag uns: Hab ich dich hinuntergeworfen oder nicht?« Der Junge stand auf und sagte: »Nein, Herr, du hast mich keineswegs hinuntergeworfen, sondern mich wieder auf die Beine gestellt.« Als die Leute das sahen, erschraken sie. Die Eltern des Kindes lobten Gott für das geschehene Wunder und fielen vor Jesus auf die Knie. (9,1-3)
Dem kleinen Jesus werden aber auch Strafwunder zugeschrieben. So fiel in Kapitel 4 ein Junge, der Jesus an der Schulter angerempelt hatte, sofort tot um. In Kapitel 8 wurden aber alle, die unter Jesu Fluch gefallen waren, wieder gesund und munter.
Andere apokryphe Evangelien waren in ihren Darstellungen etwas zurückhaltender als das Kindheitsevangelium nach Thomas. Im Pseudo-Matthäus-Evangelium 20,1-2 bringt das Jesuskind auf der Reise nach Ägypten eine Palme dazu, sich zu beugen, damit Maria ihre Früchte essen kann, und lässt eine Wasserquelle aus der Erde hervorsprudeln.
Im Arabischen Kindheitsevangelium, das vermutlich aus dem 6. Jahrhundert stammt, finden sich viele Wunder aus dem Kindheitsevangelium nach Thomas wieder, so in Kapitel 44 die Geschichte mit dem wieder erweckten Zenon und in Kapitel 46 die Vögel aus Lehm. Als Zusatzinformation weiß dieses apokryphe Werk in Kapitel 1 auch, dass Jesus bereits als Säugling gesprochen hat.
Auch wenn der Autor des Korans diesen Text nicht in schriftlicher Form vor sich gehabt haben mag, waren diese Wundergeschichten zur Zeit der Entstehung des Korans im arabischen Raum bekannt und haben auch im Koran ihren Niederschlag gefunden. Mehr dazu in den Beiträgen über die Vögel aus Lehm, die Geburt Jesu in der Bibel und im Koran und die ersten Worte Jesu.
In der Bibel schreibt Johannes im Zusammenhang mit dem Weinwunder in Kana:
So tat Jesus sein erstes Zeichen, in Kana in Galiläa, und offenbarte seine Herrlichkeit und seine Jünger glaubten an ihn. (Johannes 2,11)
Da Johannes nach dem Tod Jesu Maria zu sich genommen hat (Johannes 19,27), hätte er von ihr über eventuelle Wunder, die Jesus als Kind gewirkt hätte, erfahren. Doch das war nicht der Fall. Wenn das erste Zeichen Jesu bei der Hochzeit in Kana geschah, bedeutet das, dass alle Wunder, die in apokryphen Texten über Jesus als Säugling oder Kind erzählt werden, nicht geschehen sind und nur Produkte menschlicher Fantasie sind.
Es stellt sich auch die Frage nach dem Sinn der Wunder Jesu. Während seines öffentlichen Wirkens haben die Wunder die Worte Jesu bestätigt und ihn den Menschen als den von Gott gesandten Messias bezeugt. Gewiss waren insbesondere die Heilungswunder für die Menschen, denen geholfen wurde, sehr wichtig. Doch waren alle Wunder in einem Zusammenhang mit seiner Verkündigung. Dieser Zusammenhang wäre bei Wundern, die Jesus im Kindesalter gewirkt hätte, nicht gegeben. Bei Wundern im Säuglingsalter wäre sogar die volle Menschwerdung des Gottessohns infrage gestellt. Als Mensch musste Jesus körperlich und geistig heranwachsen. Jesus konnte wie jeder andere Mensch nicht sprechen. Er musste das genauso lernen wie alle anderen Menschen.
Dem oder den Autoren der koranischen Texte fehlte die geistliche Urteilskraft, zwischen Realität und Fantasie zu unterscheiden. Auf diese Weise haben diese Wundererzählungen auch ihren Platz im Koran gefunden, der sich dadurch als ein Werk fehlbarer Menschen erweist, das unmöglich das ewige unabänderliche Wort Gottes sein kann.
⟨Denn⟩ wir sollen nicht mehr Unmündige sein, hin- und hergeworfen und umhergetrieben von jedem Wind der Lehre durch die Betrügerei der Menschen, durch ⟨ihre⟩ Verschlagenheit zu listig ersonnenem Irrtum. (Epheser 4,14 – Elberfelder)
- Zitiert nach: Das Neue Testament und frühchristliche Schriften. Übersetzt und kommentiert von Klaus Berger und Christiane Nord, Frankfurt am Main ²2015, S.1338. ↩