14 Da stand Josef auf und floh in der Nacht mit dem Kind und dessen Mutter nach Ägypten. 15 Dort blieb er bis zum Tod des Herodes. Denn es sollte sich erfüllen, was der Herr durch den Propheten gesagt hat: Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen. (Matthäus 2,14-15)
Da Herodes der Große dem Säugling Jesus nach dem Leben trachtete, floh Josef auf Gottes Geheiß mit Jesus und Maria nach Ägypten, um außerhalb des Herrschaftsbereichs von Herodes in Sicherheit zu sein. Der Evangelist Matthäus weist darauf hin, dass sich dadurch das Wort eines Propheten erfüllen sollte.
Lesen wir das von Matthäus zitierte Wort beim Propheten Hosea, dann bemerken wir schnell, dass es dort um ein anderes Thema geht.
1 Als Israel jung war, gewann ich ihn lieb, ich rief meinen Sohn aus Ägypten. 2 Je mehr man sie rief, desto mehr liefen sie vor den Rufen weg: Den Baalen brachten sie Schlachtopfer dar, den Götterbildern Räucheropfer. 3 Ich war es, der Efraim gehen lehrte, der sie nahm auf seine Arme. Sie aber haben nicht erkannt, dass ich sie heilen wollte. 4 Mit menschlichen Fesseln zog ich sie, mit Banden der Liebe. Ich war da für sie wie die, die den Säugling an ihre Wangen heben. Ich neigte mich ihm zu und gab ihm zu essen. (Hosea 11,1-4)
Der Sohn Gottes, über den Hosea sprach, war nicht der Messias, sondern das Volk Israel. Der Prophet erinnerte im 8. Jahrhundert v. Chr. seine Zeitgenossen an die Zeit des Auszugs aus Ägypten, an die Zeit, „als Israel jung war“. Doch die Antwort des Volkes war immer wieder die Abkehr von Gott und die Hinkehr zu den Götzen. Die Worte Hoseas sind ein Appell, sich zu ändern, sich Gottes Liebe schenken zu lassen, sich von den Götzen und den Sünden loszusagen.
Was hat das mit Jesus zu tun? Hat Matthäus das Alte Testament wie einen Steinbruch verwendet, aus dem er sich einen auf den ersten Blick passenden Vers herausgeholt hat, ohne auf den Zusammenhang zu achten? Im konkreten Fall geht es sogar nur um einen halben Vers, da bereits aus der ersten Hälfte des Verses hervorgeht, dass der Prophet mit dem Sohn Gottes das Volk Israel gemeint hat. Über Israel als „Sohn Gottes“ lesen wir auch in Exodus 4,22, wo Gott Mose beauftragt, zum Pharao zu sprechen.
Dann sag zum Pharao: So spricht der HERR: Israel ist mein erstgeborener Sohn.
Es ist klar, dass hier nur von einer Gottessohnschaft im übertragenen Sinn die Rede ist. Israel war nicht wesensgleicher Sohn Gottes, wie es die Heilige Schrift über Jesus Christus bezeugt.
Da bei Hosea im selben Vers steht, dass es um das Volk Israel geht, können wir ausschließen, dass Matthäus das nicht gewusst hätte.
Vielleicht wollte Matthäus mit diesem Zitat nicht ausdrücken, dass das Leben des Messias im Alten Testament wie in einem Drehbuch schon aufgeschrieben war und man nur die passenden Puzzleteile zusammenfügen musste, sondern auf eine Parallelität zwischen Israel und dem Messias hinweisen.
Mit dem Messias beginnt das Neue Israel. In ihm ist das Neue Israel gegenwärtig, das später in seinen Nachfolgern Wirklichkeit werden sollte.
Das Volk Israel kam in der Familie Jakobs nach Ägypten, als sie in einer Hungersnot von Kanaan dorthin zogen. Jesus musste als Säugling nach Ägypten, um vor seinen Verfolgern in Sicherheit zu sein. Das Schicksal des Volkes Israel spiegelt sich im Schicksal Jesu wieder.
Ich denke, dass es solche oder ähnliche Gedanken waren, die Matthäus dazu bewogen haben, im Aufenthalt Jesu in Ägypten eine Erfüllung des Wortes von Hosea zu sehen. Das von Gott wie sein erstgeborener Sohn geliebte Volk Israel kam aus Ägypten, ebenso auch der wahre wesensgleiche Sohn Gottes, der in Jesus Mensch geworden ist. Gott hat sich in der Menschwerdung seines Sohns auf die Ebene seines Volkes herabbegeben. Er erleidet schon als kleines Kind Not und Verfolgung. Gott wollte die Erlösung nicht durch einen mächtigen König schenken, sondern durch einen Menschen, dem Not und Verfolgung nicht fremd war, der in einem Stall geboren und auf einem Kreuz gestorben ist. In der Schwäche wurde Gottes Kraft sichtbar.
Gott hat sein Volk Israel aus der Knechtschaft Ägyptens in die Freiheit herausgeführt. Sie haben aber in ihrer Freiheit immer wieder die Knechtschaft der Sünde gesucht. Der wahre Sohn Gottes, den Gott auch aus Ägypten herausgeführt hat, befreit von der Knechtschaft der Sünde.
Moderne Theologen sehen in den Kindheitserzählungen von Matthäus midraschartige Texte, die ausgehend von einer Bibelstelle erzählt werden. In diesen Texten gehe es nicht um tatsächliche Begebenheiten, sondern darum, alttestamentliche Worte auf Jesus zu beziehen und entsprechend auszulegen. Im konkreten Falle sei die Erzählung vom Aufenthalt Jesu in Ägypten eine erklärende Auslegung von Hosea 11,1.
Auf einen derartigen Gedanken könnte man kommen, wenn Hosea 11,1 eine ausdrücklich messianische Stelle wäre, was sie nicht ist. Bei Hosea geht es eindeutig um Israel, nicht um den Messias. Wer diese Stelle liest, kommt nicht auf den Gedanken, dass hier der Prophet einen Aufenthalt des Messias in Ägypten ankündigt. Es fehlt das Motiv, um von dieser Stelle ausgehend eine Geschichte über Jesus zu erfinden – abgesehen davon, dass ein wahrheitsliebender Mensch nicht einfach so eine Geschichte erfinden würde.
Gerade weil die Stelle von Hosea 11 nicht vom Messias spricht, passt diese „theologische“ Erklärung überhaupt nicht. Matthäus ist vom Faktum ausgegangen, dass Jesus als kleines Kind in Ägypten war und hat darüber nachgedacht, welche geistliche Bedeutung diese Begebenheit haben könnte. So ist er auf die Hosea-Stelle gestoßen. Die Auswahl dieser im wörtlichen Sinn unpassenden Stelle spricht dafür, dass die Flucht nach Ägypten Wirklichkeit war und keine „fromme Lüge“.
Die Worte des Evangeliums auch über diese Situation sind glaubwürdig. Sie sind sehr knapp formuliert und ermangeln der Ausschmückung durch Wunder, wie sie in späteren apokryphen Texten zu finden sind.
Gottes Sohn hat bereits als Kind Heimatlosigkeit und Flucht erfahren. Er schenkt den Seinen die ewige Heimat und Geborgenheit beim Vater.