In der Bibel sprechen zwei Texte über die Geburt Jesu, einer aus dem Matthäusevangelium und einer aus dem Lukasevangelium.
24 Als Josef erwachte, tat er, was der Engel des Herrn ihm befohlen hatte, und nahm seine Frau zu sich. 25 Er erkannte sie aber nicht, bis sie ihren Sohn gebar. Und er gab ihm den Namen Jesus. 2,1 Als Jesus zur Zeit des Königs Herodes in Betlehem in Judäa geboren worden war, siehe, da kamen Sterndeuter aus dem Osten nach Jerusalem […] (Matthäus 1,24-2,1)
1 Es geschah aber in jenen Tagen, dass Kaiser Augustus den Befehl erließ, den ganzen Erdkreis in Steuerlisten einzutragen. 2 Diese Aufzeichnung war die erste; damals war Quirinius Statthalter von Syrien. 3 Da ging jeder in seine Stadt, um sich eintragen zu lassen. 4 So zog auch Josef von der Stadt Nazaret in Galiläa hinauf nach Judäa in die Stadt Davids, die Betlehem heißt; denn er war aus dem Haus und Geschlecht Davids. 5 Er wollte sich eintragen lassen mit Maria, seiner Verlobten, die ein Kind erwartete. 6 Es geschah, als sie dort waren, da erfüllten sich die Tage, dass sie gebären sollte, 7 und sie gebar ihren Sohn, den Erstgeborenen. Sie wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe, weil in der Herberge kein Platz für sie war. (Lukas 2,1-7)
Matthäus schreibt nicht direkt über die Geburt. Aber aus seiner Darstellung wird klar, dass Josef keine geschlechtliche Beziehung zu Maria hatte („er erkannte sie nicht“) und dass Jesus in Bethlehem geboren wurde.
Lukas schreibt etwas ausführlicher über die Umstände wie über die Reise von Nazareth nach Bethlehem. Von ihm wissen wir auch, dass Jesus in einem Stall geboren wurde. Über den Geburtsort Bethlehem herrscht zwischen beiden Evangelisten Einigkeit.
Im Koran finden wir zwar zwei miteinander nicht übereinstimmenden Stellen, die darüber erzählen, wie Gott Maria mitgeteilt hat, dass sie als Jungfrau die Mutter Jesu werden sollte (Sure 3,45-48 und Sure 19,16-21), aber nur Sure 19 spricht auch ausdrücklich über seine Geburt.
22 So empfing sie ihn und zog sich mit ihm zu einem fernen Ort zurück. 23 Die Wehen ließen sie zum Palmenstamm gehen. Sie sagte: „O wäre ich doch zuvor gestorben und ganz und gar in Vergessenheit geraten!“ 24 Da rief er ihr von unten her zu: „Sei nicht traurig; dein Herr hat ja unter dir ein Bächlein geschaffen. 25 Und schüttle zu dir den Palmenstamm, so läßt er frische, reife Datteln auf dich herabfallen. 26 So iß und trink und sei frohen Mutes‘. Und wenn du nun jemanden von den Menschen sehen solltest, dann sag: Ich habe dem Allerbarmer Fasten gelobt, so werde ich heute mit keinem Menschenwesen sprechen.“ (Sure 19,22-26)
Über die Worte des neugeborenen Jesuskindes gibt es einen eigenen Beitrag. Darum werde ich mich hier damit nicht beschäftigen.
Einen offensichtlichen Unterschied gibt es hinsichtlich des Ortes der Geburt. Im Gegensatz zur biblischen Ortsangabe Bethlehem bleibt der Koran mit der Rede von einem „fernen Ort“ ziemlich vage. Lukas zufolge wurde Jesus in einem Stall geboren, der Koran spricht von einer Palme. Ordentliche Ställe hatten auch damals ein Dach, sodass dort keine Palme wachsen konnte. Möglicherweise handelte es sich um eine Höhle. Die Palme lässt sich somit nicht mit einem Stall in Übereinstimmung bringen. Zusätzlich gewinnt man beim koranischen Bericht den Eindruck, dass Maria völlig alleine war. Über Josef steht nicht nur kein Wort, sondern es sieht so aus, dass Maria bewusst alleine sein wollte.
Hat der Autor des Korans es besser gewusst als Lukas? Der Evangelist schrieb, dass er „allem von Beginn an sorgfältig nachgegangen“ ist (Lukas 1,3). Es ist nicht auszuschließen, dass Lukas sogar noch direkt mit Maria gesprochen hat. Auf jeden Fall hat Lukas die ersten beiden Kapitel seines Evangeliums aus der Perspektive Marias erzählt – anders als Matthäus, der vom Blickwinkel Josefs her schrieb. Er hatte, so er mit Maria nicht mehr persönlich kennenlernen konnte, eine verlässliche Quelle, die auf Maria zurückging. Lukas verweist in 2,19 direkt auf sie:
Maria aber bewahrte alle diese Worte und erwog sie in ihrem Herzen.
Dadurch hat er einen klaren Hinweis auf seine Quelle gemacht.
In Bezug auf den Koran schreibt Nicolai Sinai auf corpuscoranicum.de:
Die Geburtsgeschichte Jesu aus Lukas 2 erscheint im Koran nicht. Stattdessen berichtet Q 19:22, dass Maria sich zur Geburt Jesu „an einen fernen Ort zurückzieht“; ab Q 19:23 folgt dann eine Szene, die einem Abschnitt aus dem Pseudo-Matthäus-Evangelium ähnelt, dort jedoch im Kontext der Flucht Marias und Josephs nach Ägypten und nicht in dem der Geburt Jesu steht. Es ist unwahrscheinlich, dass dies lediglich als eine zufällige Übertragung oder Verwechslung zu erklären ist; denn wenn der Koran Maria zum Zeitpunkt der Geburt als schutzlos, verstoßen und dem Verhungern und Verdursten nahe schildert, so passt dies gut zu einem auch in den übrigen Erzählperikopen der Sure durchkonjugierten Thema: Gott nimmt sich derer an, die um seinetwillen ihre zwischenmenschlichen Bindungen aufs Spiel setzen und dadurch in höchste Bedrängnis geraten.
Suleiman Mourad vermutet, dass die Palmenepisode in beiden Texten letztlich auf die Geschichte von Apollos Geburt, die von frühen Christen adaptiert worden sei, zurückgeht. Er geht davon aus, dass möglicherweise zunächst verschiedene Versionen von Jesu Geburt im Umlauf waren, von denen auch eine im Koran reflektiert ist. Nachdem sich im Christentum schließlich die lukanische Geburtsgeschichte durchgesetzt habe, sei das Palmenmotiv im Pseudo-Matthäus-Evangelium im Kontext der Flucht nach Ägypten verarbeitet worden.
Der Evangelist Lukas, der mit historischen Methoden arbeitete, hatte eine bessere Quelle als eine „christlich“ adaptierte heidnische Legende von Apollos Geburt. Dass Derartiges in apokryphen Schriften einen Niederschlag gefunden hat, ist aber durchaus möglich. Für mich ist es zumindest interessant, dass Suleiman Mourad es für möglich hält, dass im Hintergrund der koranischen Darstellung der Geburt Jesu eine heidnische Legende steht.
Die Ähnlichkeiten zwischen Pseudo-Matthäus 20 und Sure 19 sind nicht übermäßig groß. Von einer direkten Abhängigkeit kann wohl keine Rede sein.1
20:1 Am dritten Tage ihrer Reise, während sie weiterzogen, traf es sich, daß die selige Maria von der allzugroßen Sonnenhitze in der Wüste müde wurde, und als sie einen Palmbaum sah, sagte sie zu Joseph: „Ich möchte im Schatten dieses Baumes ein wenig ausruhen.“ So führte Joseph sie denn eilends zur Palme und ließ sie vom Lasttier herabsteigen. Als die selige Maria sich niedergelassen hatte, schaute sie zur Palmkrone hinauf und sah, daß sie voller Früchte hing. Da sagte sie zu Joseph: „Ich wünschte, man könnte von diesen Früchten der Palme holen.“ Joseph aber sprach zu ihr: „Es wundert mich, daß du dies sagst; denn du siehst doch, wie hoch diese Palme ist, und (es wundert mich), daß du (auch nur) daran denkst, von den Palmfrüchten zu essen. Ich für meinen Teil denke eher an den Mangel an Wasser, das uns in den Schläuchen bereits ausgeht, und wir haben nichts, womit wir uns und die Lasttiere erfrischen können.“ 2 Da sprach das Jesuskind, das mit fröhlicher Miene in seiner Mutter Schoß saß, zur Palme: „Neige, Baum, deine Äste, und mit deiner Frucht erfrische meine Mutter.“ Und alsbald senkte die Palme auf diesen Anruf hin ihre Spitze bis zu den Füßen der seligen Maria, und sie sammelten von ihr Früchte, an denen sie sich alle labten. Nachdem sie alle ihre Früchte gesammelt hatten, verblieb sie aber in gesenkter Stellung und wartete darauf, sich auf den Befehl dessen wieder aufzurichten, auf dessen Befehl sie sich gesenkt hatte. Da sprach Jesus zu ihr: „Richte dich auf, Palme, werde stark und geselle dich zu meinen Bäumen, die im Paradies meines Vaters sind. Und erschließe unter deinen Wurzeln eine Wasserader, die in der Erde verborgen ist, und die Wasser mögen fließen, damit wir aus ihr unseren Durst stillen.“ Da richtete sie sich sofort auf, und eine ganz klare, frische und völlig helle Wasserquelle begann an ihrer Wurzel zu sprudeln. Als sie aber die Wasserquelle sahen, freuten sie sich gewaltig, und sie löschten ihren Durst, sie selber, alle Lasttiere und alles Vieh. Dafür dankten sie Gott.
Das Gemeinsame ist, dass Jesus in beiden Texten eine Rolle spielt. Im Koran muss Maria aber selber schütteln. In Pseudo-Matthäus hat sich die Palme auf Befehl Jesu geneigt, sodass Maria die Früchte bequem ernten konnte.
Wem sollen wir mehr glauben: dem Bericht eines historisch arbeitenden, von Gott inspirierten Schriftstellers oder einem Buch, das mehr als 600 Jahre nach dem Ereignis geschrieben wurde und offensichtlich apokryphe Traditionen verarbeitet hat, die möglicherweise sogar auf eine heidnische Legende zurückgehen?
Wer die Wahrheit sucht, wird sie finden.
- Zitiert nach der Übersetzung von Oliver Ehlen auf corpuscoranicum.de. ↩