Es ist bekannt, dass für Muslime alkoholische Getränke verboten sind. Im Koran gibt es im Hinblick auf berauschende Getränke aber unterschiedliche Stellungnahmen. Muslime sehen darin kein Problem, sondern das Standardbeispiel für Abrogation, derzufolge ein später „herabgesandter“ Vers einen früheren aufhebt und ersetzt.
Doch sehen wir uns die Verse in (nach islamischer Tradition) chronologischer Reihenfolge an.
1 Rauschgetränk von Allah gegeben
Und (Wir geben euch) von den Früchten der Palmen und der Rebstöcke (zu trinken), woraus ihr euch Rauschgetränk und eine schöne Versorgung nehmt. Darin ist wahrlich ein Zeichen für Leute, die begreifen. (Sure 16,67)
Der Tradition zufolge wurde Sure 16 in Mekka offenbart, allerdings erst als die 70. Sure, also keineswegs ganz am Anfang. In dieser Sure wird das aus den Früchten der Palmen und der Rebstöcke gewonnene Rauschgetränk als eine Gabe Allahs gesehen. Für „Leute, die begreifen“, ist das ein Zeichen für das Wirken Allahs. Es hier anzumerken, dass in diesem Vers ein anderes Wort für Rauschgetränk (sakar / سَكَر) steht als in den folgenden Versen (khamr / خَمْر).
2 Nutzen und Sünde
Sie fragen dich nach berauschendem Trunk und Glücksspiel. Sag: In ihnen (beiden) liegt große Sünde und Nutzen für die Menschen. Aber die Sünde in ihnen (beiden) ist größer als ihr Nutzen. (Sure 2,219a)
Sure 2 stammt aus der Zeit nach der Auswanderung nach Medina, in chronologischer Reihenfolge Nr. 87. Mohammed wurde über berauschende Getränke und Glücksspiel befragt. Dem Wort Allahs zufolge gibt es in beidem Nutzen und Sünde, wobei jedoch die Sünde den Nutzen überwiegt. Zum „Nutzen“ des Glücksspiels gibt es einen eigenen Beitrag. Doch was ist der Nutzen berauschender Getränke? Nach Psalm 104,15 erfreut der Wein das Herz des Menschen, was allerdings einen verantwortungsvollen Umgang damit voraussetzt.
Eine islamische Erklärung meint zum Nutzen:
[…] der Nutzen ist ein kurzsichtiger, irdischer Nutzen und besteht z. B. darin, dass man beim Handel mit Alkohol […] Geld verdienen kann.
Möglicherweise hat Mohammed, der ein Kaufmann war und der daher viel mit Geld zu tun hatte, darin den Nutzen gesehen. Aber hat Allah das auch so gesehen?
Man sieht hier noch kein striktes Verbot, aber doch einen Ratschlag, der vom Alkoholgenuss abrät, weil die Sünde größer als der Nutzen ist.
3 Kein Gebet bei Trunkenheit
O die ihr glaubt, nähert euch nicht dem Gebet, während ihr trunken seid, bis ihr wißt, was ihr sagt, noch im Zustand der Unreinheit – es sei denn, ihr geht bloß vorbei –, bis ihr den ganzen (Körper) gewaschen habt. (Sure 4,43a)
Sure 4 wurde der Tradition zufolge ebenfalls in Medina „herabgesandt“, Nr. 92 in chronologischer Reihenfolge. Dieser Vers setzt voraus, dass trotz des Rats aus der 2. Sure immer noch Alkohol konsumiert wurde, ja, es ist wohl sogar vorgekommen, dass jemand betrunken zum Gebet gekommen ist. Aber Allah hat den Alkohol nicht verboten, sondern nur verboten, in betrunkenem Zustand zum Gebet zu kommen.
Dieser Vers erinnert an Levitikus 10,8-11:
8 Der HERR sagte zu Aaron: 9 Weder Wein noch Bier dürft ihr, du und deine Söhne, trinken, wenn ihr zum Offenbarungszelt kommt, damit ihr nicht sterbt. Das gelte bei euch als ewige Satzung für eure Generationen. 10 Ihr sollt zwischen heilig und profan, zwischen unrein und rein unterscheiden 11 und die Israeliten sollt ihr in allen Gesetzen unterweisen, die der HERR euch durch Mose verkündet hat.
Diese Regel gab es nach dem Tod zweier Söhne Aarons, die mit „unrechtmäßigem Feuer“ im Heiligtum geräuchert haben. Auch wenn es nicht ausdrücklich gesagt wird, muss aufgrund dieses anschließenden Gebotes vermutet werden, dass sie nicht nüchtern waren.
Vielleicht hat der Autor des Korans dieses alte jüdische Gebot, dass man beim Gottesdienst nicht berauscht sein darf, aufgegriffen. Das heißt natürlich nicht, dass der Rausch zu anderer Gelegenheit zulässig ist.
4 Ein Gräuel vom Werk des Satans
90 O die ihr glaubt, berauschender Trank, Glücksspiel, Opfersteine und Lospfeile sind nur ein Greuel vom Werk des Satans. So meidet ihn, auf daß es euch wohl ergehen möge! 91 Der Satan will (ja) zwischen euch nur Feindschaft und Haß säen durch berauschenden Trank und Glücksspiel und euch vom Gedenken Allahs und vom Gebet abhalten. Werdet ihr (damit) nun wohl aufhören? (Sure 5,90-91)
Die ebenfalls medinensische Sure 5 ist in chronologischer Reihenfolge als Nr. 112 die drittletzte. Hier finden wir das absolute Verbot von berauschendem Trank. Er ist ein Werk vom Satan, der gemieden werden muss. Die angeführten Gründe dagegen sind Feindschaft und Hass, die der Satan dadurch säen kann, und dass die Gläubigen dadurch vom Gedenken Allahs und vom Gebet abgehalten werden. Andere Aspekte wie die Auswirkung auf die Gesundheit oder dass ein Mensch im alkoholisierten Zustand nicht mehr der Herr über sich selbst ist, werden nicht genannt. Aber es ist auch nicht notwendig, dass alle Gründe erwähnt werden.
5 Rauschtrank im Paradies
Das Gleichnis des (Paradies)gartens, der den Gottesfürchtigen versprochen ist: Darin sind Bäche mit Wasser, das nicht schal wird, und Bäche mit Milch, deren Geschmack sich nicht ändert, und Bäche mit Wein, der köstlich ist für diejenigen, die (davon) trinken, und Bäche mit geklärtem Honig. Und sie haben darin von allen Früchten und Vergebung von ihrem Herrn. (Sind diese denn) jemandem gleich, der im (Höllen)feuer ewig bleibt und dem heißes Wasser zu trinken gegeben wird, das seine Gedärme zerreißt? (Sure 47,15)
Der Tradition zufolge wurde Sure 47 in chronologischer Reihe als Nr. 95 in Medina „herabgesandt“, also noch vor dem endgültigen Alkoholverbot. Im Arabischen steht bei den Bächen mit Wein dasselbe Wort (khamr) wie in den Suren 2 und 5, das dort mit „berauschender Trank“ übersetzt wurde.
Der paradiesische Rauschtrank entspricht aber nach islamischer Überzeugung nicht dem irdischen. So heißt es im Tafsīr Al-Qur’ān Al-Karīm:
Gemeint ist, dass der Wein ein reiner Genuss ist, den weder Bewusstseinsschwund noch Kater noch Kopfschmerzen noch irgendwelche üble Folgen des Weines begleiten.
6 Zusammenschau
Muslime erklären die unterschiedlichen Aussagen des Korans zur Frage der berauschenden Getränke durch Abrogation. Während der der Überlieferung zufolge 22 Jahre dauernden Zeit der Herabsendung des Korans (610-632) kam das endgültige Alkoholverbot erst gegen Ende dieser Phase. Allah wollte die Gläubigen stufenweise vom Rauschtrank wegbringen. Doch warum dauerte das so lange? Warum müssen heute Menschen, die Muslime werden, sofort dem Alkohol absagen, während Mohammeds Gefährten mindestens zwei Jahrzehnte Zeit dafür hatten? Konnte ihnen Allah nicht von Anbeginn die volle Klarheit seines Wortes zumuten? Wenn der ganze Koran das ewige und daher unabänderliche Wort Allahs ist, warum gibt es dann doch eine Änderung?
Warum gibt es, abgesehen vom Verbot, innere Widersprüche zwischen diesen Aussagen? Allah hat nach Sure 16 die Früchte zur Herstellung des Rauschtranks geschenkt. Das ist ein Zeichen für die Leute, die begreifen. Dieser Rauschtrank ist aber nach Sure 5 ein Gräuel vom Werk Satans. Hat Allah im Laufe der Zeit seine Beurteilung des Rauschtranks geändert? Oder doch nicht ganz, weil im Paradies der Rauschtrank in Strömen fließen wird?
In der Bibel finden wir kein Alkoholverbot. Es gibt, wie in Psalm 104,15 den Blick auf den Wein als gute Gabe Gottes. Es gibt aber auch Warnungen vor dem Missbrauch. Ein Mensch, der sich von Gott leiten lässt, weiß, wie er persönlich verantwortungsbewusst handeln soll. In einer Welt wie der unseren, in der der Alkoholmissbrauch sehr weit verbreitet ist, ist der völlige Verzicht auf alkoholische Getränke durchaus empfehlenswert. Gerade weil die biblischen Autoren mit der Mündigkeit der Gläubigen gerechnet haben, finden wir in der Bibel nicht die Widersprüche, die es im Koran zu dieser Frage gibt, auch wenn die Bibel nicht in derselben direkten Weise beansprucht, Gottes Wort zu sein, wie es Muslime vom Koran behaupten.
Berauscht euch nicht mit Wein – das macht zügellos -, sondern lasst euch vom Geist erfüllen! (Epheser 5,18)