16 Sei nicht allzu gerecht und gebärde dich nicht übermäßig weise! Wozu willst du dich zugrunde richten? 17 Sei nicht allzu ungerecht und sei kein Tor! Wozu willst du sterben, ehe deine Zeit da ist? 18 Es ist gut, dass du an diesem festhältst und auch von jenem deine Hand nicht lässt, denn der Gottesfürchtige entgeht dem allen. (Kohelet 7,16-18; Elberfelder)
In der von mir normalerweise zitierten Einheitsübersetzung lautet dieser Text in einer etwas freieren Wiedergabe:
16 Halte dich nicht zu streng an das Gesetz und sei nicht maßlos im Erwerb von Wissen! Warum solltest du dich selbst ruinieren? 17 Entfern dich nicht zu weit vom Gesetz und verharre nicht im Unwissen: Warum solltest du vor der Zeit sterben? 18 Es ist am besten, wenn du an dem einen festhältst, aber auch das andere nicht loslässt. Wer Gott fürchtet, wird sich in jedem Fall richtig verhalten.
Ein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Versionen ist, dass die Einheitsübersetzung den Gegensatz von Weisheit und Torheit mit Wissen und Unwissen wiedergibt, was meines Erachtens das Spektrum der beiden Begriffe einengt.
Man gewinnt den Eindruck, dass es hier darum geht, sich auf einem „Mittelweg“ zu begeben, der einen vor Schwierigkeiten bewahrt. Doch kann das wirklich der Weg sein, der uns das Ziel bei Gott erreichen lässt?
Man könnte das so verstehen, dass gemeint ist, den Buchstaben des Gesetzes „überzuerfüllen“, so wie es Jesus den Pharisäern vorgeworfen hat.
Weh euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr gebt den Zehnten von Minze, Dill und Kümmel und lasst das Wichtigste im Gesetz außer Acht: Recht, Barmherzigkeit und Treue. Man muss das eine tun, ohne das andere zu lassen. (Matthäus 23,23)
Der Zehnte von den Gartenkräutern war im mosaischen Gesetz gar nicht verlangt, zumindest wurden diese Pflanzen nicht ausdrücklich genannt. In ihrem formalistischen Übereifer haben die Pharisäer den Zehnten auch von den Gewürzpflanzen gegeben, dabei aber die vom Gesetz geforderte Gerechtigkeit vergessen.
Bei Kohelet steht aber nun nicht wie in der Einheitsübersetzung: „Halte dich nicht zu streng an das Gesetz!“, sondern: „Sei nicht allzu gerecht!“
Gerechtigkeit ist viel mehr als eine buchstäbliche Befolgung der Detailgebote. Deswegen hat Jesus auch gesagt:
Wenn eure Gerechtigkeit nicht weit größer ist als die der Schriftgelehrten und der Pharisäer, werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen. (Matthäus 5,20)
Gerechtigkeit meint, dass unser ganzes Leben gut und Gott wohlgefällig ist. Wir können vor Gott nie „allzu gerecht“ sein. Gottes Wille ist die Vollkommenheit.
Seid also vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist! (Matthäus 5,48)
Auch das Alte Testament fordert zu einer unbegrenzten Gerechtigkeit auf.
Gerechtigkeit, Gerechtigkeit – ihr sollst du nachjagen, damit du Leben hast und das Land in Besitz nehmen kannst, das der HERR, dein Gott, dir gibt. (Deuteronomium 16,20)
1 HERR, wer darf Gast sein in deinem Zelt, wer darf weilen auf deinem heiligen Berg? 2 Der makellos lebt und das Rechte tut, der von Herzen die Wahrheit sagt. (Psalm 15,1-2)
Der Pfad der Gerechtigkeit führt zum Leben, der Weg der Abtrünnigen führt zum Tod. (Sprichwörter 12,28)
Eigenartig ist auch die Warnung vor zu viel Weisheit. Weisheit meint in der Bibel mehr als nur Wissen. Wahre Weisheit kommt von Gott und hat ihren Ursprung in der Gottesfurcht.
Denn der HERR gibt Weisheit, aus seinem Mund kommen Erkenntnis und Einsicht. (Sprichwörter 2,6)
Zum Menschen aber sprach er: Sieh, die Furcht des Herrn, das ist Weisheit, das Meiden des Bösen ist Einsicht. (Ijob 28,28)
Die Furcht des HERRN erzieht zur Weisheit und Demut geht der Ehre voran. (Sprichwörter 15,33)
Der Erwerb der Weisheit ist daher überaus erstrebenswert.
Weisheit erwerben – wie viel besser als Gold!, Einsicht erwerben – vortrefflicher als Silber. (Sprichwörter 16,16)
Doch warnt Kohelet vor zu viel Weisheit oder davor, sich nicht allzu weise zu gebärden?
Das Verb חָכַם / chākam („weise sein“) kommt im Hitpael-Stamm (einem Reflexivstamm) außer in Kohelet 7,16 nur noch in Exodus 1,10 vor. Dort geht es um die weisen oder klugen Überlegungen der Ägypter gegen das zahlenmäßige Anwachsen der Israeliten. Es geht also nicht darum, sich weise zu gebärden, sondern tatsächlich eine – im Rahmen ihrer bösen Absicht – „weise“ oder kluge Methode zu finden. Im apokryphen Buch Jesus Sirach kommt es in 10,26 tatsächlich mit der Bedeutung „sich weise gebärden, den Weisen spielen“ vor. In 6,32 wird es aber mit „klug / weise werden“ übersetzt, in 38,24-25 mit „weise werden“. Die Bedeutung „sich weise gebärden“ kann also nicht ausgeschlossen werden. Die alten Übersetzungen (haben Kohelet 7,16 aber nicht so übersetzt, sondern mit „sei nicht übermäßig weise“ (Septuaginta) oder „sei nicht weiser als notwendig“ (Vulgata) wiedergegeben. Da man sich von einem inspirierten Autor keine Warnung vor zu viel Weisheit erwartet, ist die Wiedergabe der Elberfelder Bibel oder der Einheitsübersetzung aber durchaus verständlich.
Die Formulierung von Vers 17 „Sei nicht allzu ungerecht!“ oder „Entfern dich nicht zu weit vom Gesetz!“ gibt nicht die Schärfe des hebräischen Wortes רָשַׁע / rāšā′ wieder. Dieses Wort heißt „gottlos sein, schuldig sein, freveln“. Ältere Übersetzungen, aber auch Luther 2017 lauten daher: „Sei nicht allzu gottlos!“ oder: „Frevle nicht allzu sehr!“ (Pattloch-Bibel).
Sollte ein bisschen Gottlosigkeit oder Frevel in Gottes Augen doch möglich sein?
Die zusammenfassende Schlussfolgerung in Vers 18 scheint mir auch problematisch, ja sogar widersprüchlich zu sein:
Es ist am besten, wenn du an dem einen festhältst, aber auch das andere nicht loslässt. Wer Gott fürchtet, wird sich in jedem Fall richtig verhalten.
Ist es am besten, wenn man das eine (nicht zu gerecht zu sein) festhält, aber auch das andere (nicht zu gottlos zu sein) nicht loslässt? Ist das wirklich die Gottesfurcht, die Ehrfurcht vor unserem Schöpfer?
Die Furcht des Herrn, die nach Psalm 111,10 der Anfang der Weisheit ist, setzt der Weisheit keine Grenzen. Die Furcht des Herrn führt zur Gerechtigkeit und lässt keinen Platz für Gottlosigkeit und Frevel. Vor dem heiligen Gott gibt es keinen Platz auch nur für ein bisschen Frevel.
14 Die Sünder in Zion erschraken, Zittern erfasste die Gottlosen. Wer von uns hält es aus bei dem fressenden Feuer? Wer von uns hält es aus neben der ewigen Glut? 15 Wer in Gerechtigkeit geht und die Wahrheit sagt, […] (Jesaja 33,14-15a)
Die Verse 16 und 17 werden jeweils mit einer rhetorischen Frage beendet:
Wozu willst du dich zugrunde richten?
Wozu willst du sterben, ehe deine Zeit da ist?
Wenn man allzu gerecht und weise ist, besteht die Gefahr, sich zugrunde zu richten. Wenn man zu gottlos ist, könnte man vor seiner Zeit sterben. Beidem sollte man ausweichen.
Einerseits wird die Gefahr gesehen, dass man sich selbst schadet, wenn man „zu konsequent“ auf dem Weg Gottes geht. Man könnte bei anderen Menschen vielleicht Anstoß erregen und dadurch Nachteile erleiden. Andererseits wird mit dem Gericht Gottes gerechnet, wenn man es mit der Gottlosigkeit übertreibt. Man gewinnt den Eindruck, dass es hier darum geht, einen Weg zu finden, auf dem man es sich weder mit gottlosen Menschen noch mit Gott verderben soll. Das Leben wird als eine Art Durchlavieren gesehen. Der Blick ist auf den eigenen Vorteil gerichtet, nicht auf den Willen Gottes.
Meines Erachtens sprechen auch diese Verse dafür, dass man das Buch Kohelet nicht als direkt von Gott offenbarte Wahrheit sehen soll, sondern dass der inspirierte Autor am Beispiel des von Gott abgefallenen Salomo die Grenzen der menschlichen Weisheit aufzeigen wollte.1 Es geht nicht um eine Leugnung Gottes, sondern Gott wird auf die Seite geschoben. Er wird zu einem von mehreren Faktoren im Leben, die es zu berücksichtigen gilt.
Ein Mensch, der nicht Gott im Mittelpunkt seines Lebens hat, neigt zum Kompromiss, zu einem Mittelweg, der aber nicht möglich ist. Gott will, dass wir ihn aus ganzem Herzen, aus ganzer Seele, mit all unserer Kraft lieben.
Es gibt nur zwei Wege, keinen Mittelweg.
1 Selig der Mann, der nicht nach dem Rat der Frevler geht, nicht auf dem Weg der Sünder steht, nicht im Kreis der Spötter sitzt, 2 sondern sein Gefallen hat an der Weisung des HERRN, bei Tag und bei Nacht über seine Weisung nachsinnt. 3 Er ist wie ein Baum, gepflanzt an Bächen voll Wasser, der zur rechten Zeit seine Frucht bringt und dessen Blätter nicht welken. Alles, was er tut, es wird ihm gelingen. 4 Nicht so die Frevler: Sie sind wie Spreu, die der Wind verweht. 5 Darum werden die Frevler im Gericht nicht bestehen noch die Sünder in der Gemeinde der Gerechten. 6 Denn der HERR kennt den Weg der Gerechten, der Weg der Frevler aber verliert sich. (Psalm 1)