Weh euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr gebt den Zehnten von Minze, Dill und Kümmel und lasst das Wichtigste im Gesetz außer Acht: Recht, Barmherzigkeit und Treue. Man muss das eine tun, ohne das andere zu lassen. (Matthäus 23,23)
Doch weh euch Pharisäern! Ihr gebt den Zehnten von Minze, Gewürzkraut und allem Gemüse und geht am Recht und an der Liebe Gottes vorbei. Man muss das eine tun, ohne das andere zu unterlassen. (Lukas 11,42)
Jesus hat den Schriftgelehrten und Pharisäern vorgeworfen, dass sie bei der Abgabe des Zehnten überkorrekt sind, aber das Wesentliche an Gottes Gesetz außer acht lassen.
In der Thora steht zum Zehnten:
22 Du sollst jedes Jahr den Zehnten von der gesamten Ernte geben, die dein Acker erbringt aus dem, was du angebaut hast. 23 Vor dem HERRN, deinem Gott, sollst du an der Stätte, die er erwählen wird, indem er dort seinen Namen wohnen lässt, deinen Zehnten an Korn, Wein und Öl und die Erstlinge deiner Rinder, Schafe und Ziegen verzehren, damit du lernst, den HERRN, deinen Gott, zu fürchten, solange du lebst. (Deuteronomium 14,22-23)
Einerseits ist in Vers 22 vom „Zehnten von der gesamten Ernte, die dein Acker erbringt,“ die Rede. Andererseits werden in Vers 23 konkret nur Korn, Wein und Öl genannt. Nach Strack-Billerbeck1 waren sich die Gelehrten nicht im Detail einig, welche Kräuter zu verzehnten wären. So habe die Schule Hillels, aber nicht die Schule Schammais die Verzehntung des Schwarzkümmels gefordert. Auch beim Dill gab es unterschiedliche Ansichten.
Die Pharisäer, über die Jesus sprach, waren offensichtlich sehr genau in den Kleinigkeiten. Ihnen fehlte aber der Blick für das Wichtige. Oder besser gesagt: Weil ihnen der Blick für das Wichtige fehlte, weil sie am Recht und an der Liebe Gottes vorbeigingen, haben sie sich auf die Kleinigkeiten konzentriert. Sie wollten Ihre eigene Gerechtigkeit durch eine Übererfüllung mancher Gebote unter Beweis stellen. Diese formalistische Übererfüllung sollte den grundsätzlichen Ungehorsam überdecken. Diese Gefahr bestand nicht nur für die Pharisäer zur Zeit Jesu, sondern für religiöse Menschen aller Zeiten, wenn der Blick auf Gott und seine Liebe verloren geht.
Doch hat nicht auch Jesus gemeint, dass es gut sei, den Zehnten auch von den Gartenkräutern, die damals wohl nur in kleineren Mengen angebaut wurden, abzuliefern? Er hat ja gesagt:
Man muss das eine tun, ohne das andere zu lassen.
Oder hat Jesus das gar nicht so gesagt und haben ihm gesetzestreue Judenchristen mit pharisäischem Hintergrund diese Worte in den Mund gelegt?
Die Jünger Jesu, die Jesus als Herrn und Sohn Gottes verehrten, hatten dadurch auch eine große Ehrfurcht vor seinen Worten und hätten ihm daher nicht so einfach ihre eigene Interpretation in den Mund gelegt.
Als Jesus diese Worte gesagt hat, war die Thora die Lebenswirklichkeit und der Maßstab der Juden. Somit war auch die Abgabe des Zehnten für alle, die Landwirtschaft betrieben, in keiner Weise zu hinterfragen.
Jesus wollte den Blick der Menschen auf das Wesentliche lenken: auf Recht, Barmherzigkeit und Treue und (nach Lukas) auf Gottes Liebe. Ein Mensch, der aus der Beziehung zu Gott heraus lebt, dem es um Gerechtigkeit und Barmherzigkeit geht, lässt sich von Gott auch ein großzügiges Herz schenken. Wenn er das „eine“ tut, nämlich in Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Treue lebt, dann wird er auch im Detail von Gott her erkennen, wie er mit seinen materiellen Gütern umgehen wird. Das „andere“ nicht lassen hieß für einen Juden dann, dass er seine Verpflichtungen, die ihm aus der Thora erwachsen, erfüllt, sodass er auch den Zehnten abliefert – mit der Großzügigkeit, die ihm Gott ins Herz gelegt hat. Wie weit das auch die Gartenkräuter betrifft, konnte er von seinen konkreten Umständen her beurteilen. Es ging ihm ja nicht mehr darum, seine eigene Gerechtigkeit zu zeigen, sondern auf Gottes Liebe und Segen zu antworten.
Die Frage nach dem Zehnten war in dieser Form nur aktuell, solange der Tempel Bestand hatte.2 Die Gefahr einer formalistischen Erfüllung der Gebote, durch die man seine eigene Gerechtigkeit aufrichten will, besteht immer. Daher ist das Wort Jesu, das „eine“ zu tun, nach Liebe, Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Treue zu trachten, immer aktuell. Dann erkennt man auch, was es bedeutet, „das andere nicht zu lassen“, wie die konkrete Verwirklichung der Gebote Gottes aussehen soll.
- Das Evangelium nach Matthäus erläutert aus Talmud und Midrasch von Hermann L. Strack und Paul Billerbeck, München 1922, S. 932-933. Die Zeugnisse beziehen sich aber vor allem auf die Zeit nach der Tempelzerstörung. ↩
- Das ist ein Indiz dafür, dass der Tempel noch stand, als die Evangelien nach Matthäus und Lukas geschrieben wurden. ↩