Jesus erwiderte: Habe ich nicht euch, die Zwölf, erwählt? Und doch ist einer von euch ein Teufel. (Johannes 6,70)
Bei der Annäherung an die Frage, warum Jesus Judas zu einem der Zwölf berufen hat, ist es wichtig, sich seiner Grenzen bewusst zu sein. Wir haben nicht den Einblick in die Gedanken Jesu, und auch unser Wissen über Judas ist beschränkt. Da diese Frage mit dem Erlösungswerk Jesu zusammenhängt, denke ich, dass es trotzdem gut ist, darüber nachzudenken.
Warum hat Jesus die zwölf Apostel berufen?
Nach seiner Begegnung mit Johannes dem Täufer hat Jesus begonnen, Jünger um sich zu scharen. Einige von ihnen waren vorher mit dem Täufer zusammen. Von anderen, auch von Judas, wissen wir nicht, wie sie zu Jüngern Jesu wurden. Möglicherweise war Judas der einzige Jünger aus dem Stamm Juda. Aber das ist keineswegs sicher.
Aus diesem Jüngerkreis hat Jesus zwölf erwählt, die ihm besonders nahe sein sollten. Lukas erwähnt, dass Jesus die Nacht vor ihrer Erwählung im Gebet verbracht hat.
12 Es geschah aber in diesen Tagen, dass er auf einen Berg ging, um zu beten. Und er verbrachte die ganze Nacht im Gebet zu Gott. 13 Als es Tag wurde, rief er seine Jünger zu sich und wählte aus ihnen zwölf aus; sie nannte er auch Apostel. (Lukas 6,12-13)
Das zeigt, dass die Erwählung der Zwölf für Jesus eine sehr wichtige Entscheidung war, die er in vollkommener Einheit mit seinem Vater getroffen hat. Auch die Entscheidung, Judas zu dieser Aufgabe zu berufen, war ganz bewusst.
Die Aufgabe der Zwölf wird von Markus so zusammengefasst:
13 Jesus stieg auf einen Berg und rief die zu sich, die er selbst wollte, und sie kamen zu ihm. 14 Und er setzte zwölf ein, damit sie mit ihm seien und damit er sie aussende, zu verkünden 15 und mit Vollmacht Dämonen auszutreiben. (Markus 3,13-15)
Sie sollten einerseits mit Jesus sein. Durch die besonders enge Gemeinschaft mit ihm sollten sie nicht nur aus seinen Worten lernen, sondern auch immer das Beispiel seines Lebens vor Augen haben. Andererseits sollten sie seine Boten sein und ihre Botschaft durch Wundertaten bestätigen.
Das alles sollte eine Vorbereitung für die Zeit sein, in der Jesus nicht mehr unter ihnen sein würde und auf der Grundlage ihrer Lehre und ihrer Entscheidungen die Gemeinde Jesu gebaut werden sollte.
Ihr seid auf das Fundament der Apostel und Propheten gebaut; der Eckstein ist Christus Jesus selbst. (Epheser 2,20)
Dieser letzte Punkt war den Zwölfen zur Zeit ihrer Berufung natürlich nicht bewusst. Aber das war das Ziel, das Jesus mit ihnen hatte.
Grundsätzlich gab es bis zum Verrat keinen Unterschied zwischen Judas und den anderen Aposteln. So sagte es auch Petrus über ihn im Nachhinein:
Er wurde zu uns gezählt und hatte Anteil am gleichen Dienst. (Apostelgeschichte 1,17)
Brauchte Jesus einen Verräter?
Der Menschensohn muss zwar seinen Weg gehen, wie die Schrift über ihn sagt. Doch weh dem Menschen, durch den der Menschensohn ausgeliefert wird! Für ihn wäre es besser, wenn er nie geboren wäre. (Markus 14,21)
Man könnte dieses Wort Jesu so verstehen, dass es jemanden geben musste, der Jesus seinen Feinden ausliefert. Aber das sagt Jesus nicht. Er sagt, dass der Menschensohn den Weg des Leides und des Todes gehen muss. Über seinen Verräter sagt er nur, dass es für ihn besser wäre, nie geboren zu sein.
Den Feinden Jesu hat der Verrat durch Judas ihren Plan erleichtert. Doch sie hätten Jesus auch ohne Verräter töten können. Es wäre etwas schwieriger gewesen, aber nicht unmöglich.
Umgekehrt hätte Jesus den Verrat durch Judas ganz leicht vereiteln können, wenn er sich nach dem letzten Abendmahl mit seinen Jüngern nicht nach Getsemani, sondern an einen anderen Ort begeben hätte. Dann hätte Judas mit den Soldaten wieder unverrichteter Dinge abziehen müssen, weil sie Jesus am vereinbarten Ort nicht angetroffen hätten.
Jesus wusste, dass die große Mehrheit des Volkes Israel ihn nicht als Messias annehmen würde. Er kannte auch den tödlichen Hass seiner Gegner. Und vor allem wusste er, dass es der Wille des Vaters war, sich der Bosheit seiner Feinde nicht zu widersetzen, sondern den Hass durch Liebe, die Sünde durch Gehorsam und den Tod durch das Leben zu überwinden.
Weil es Gottes Plan war, aus der von in keiner Weise gewollten Bosheit der Feinde Gutes zu machen, hätten sie es auch geschafft, Jesus ohne den Verrat durch Judas zu Tode zu bringen.
Gott braucht die Bosheit der Menschen nicht, um das Gute (die Erlösung) zu wirken. Aber er kann aus dem Bösen noch Gutes gewinnen.
Jesus wusste von Anfang an …
Jesus wusste nämlich von Anfang an, welche es waren, die nicht glaubten, und wer ihn ausliefern würde. (Johannes 6,64b)
Wenn nun Jesus Judas nicht deswegen in den Zwölferkreis berufen hat, weil er einen Verräter brauchte, zugleich aber von Anfang an wusste, dass Judas es sein würde, der ihn ausliefern würde, warum hat er ihn zu dieser Aufgabe erwählt?
Im Zusammenhang mit der Tempelreinigung schrieb Johannes:
23 Während er zum Paschafest in Jerusalem war, kamen viele zum Glauben an seinen Namen, da sie die Zeichen sahen, die er tat. 24 Jesus selbst aber vertraute sich ihnen nicht an, denn er kannte sie alle 25 und brauchte von keinem ein Zeugnis über den Menschen; denn er wusste, was im Menschen war. (Johannes 2,23-25)
Es geht hier nicht um Allwissenheit. Jesus hatte in seinem irdischen Leben, um im vollen Sinn so wie wir Mensch sein zu können, seine göttlichen Attribute zurückgestellt (Vergleiche Philipper 2,6-8). Als Mensch in der Erniedrigung war er nicht allwissend. Aber er hatte aufgrund seines heiligen Lebens und seiner innigen Verbundenheit mit dem Vater als Mensch eine tiefe Einsicht in den Menschen.
Diesen tiefen Einblick hatte er auch in die Person von Judas. Jesus musste daher von Anfang an wissen, dass in Judas ein sehr großes Potenzial der Bosheit steckt. Doch es musste auch ein sehr großes Potenzial zum Guten in ihm gesteckt haben. Hätte Judas nicht dem Bösen Raum gegeben, sondern sich von der Liebe Jesu verändern lassen, wäre er vielleicht zu einer wichtigen Säule unter den Jüngern geworden.
Wir sehen auch bei Petrus, dass es für ihn nicht leicht war, sich von seinem traditionellen Bild des siegreichen Messias abzuwenden und zu akzeptieren, dass der Erlöser leiden und sterben muss. Deswegen wurde er von Jesus auch mit scharfen Worten ermahnt.
21 Von da an begann Jesus, seinen Jüngern zu erklären: Er müsse nach Jerusalem gehen und von den Ältesten und Hohepriestern und Schriftgelehrten vieles erleiden, er müsse getötet und am dritten Tag auferweckt werden. 22 Da nahm ihn Petrus beiseite und begann, ihn zurechtzuweisen, und sagte: Das soll Gott verhüten, Herr! Das darf nicht mit dir geschehen! 23 Jesus aber wandte sich um und sagte zu Petrus: Tritt hinter mich, du Satan! Ein Ärgernis bist du mir, denn du hast nicht das im Sinn, was Gott will, sondern was die Menschen wollen. (Matthäus 16,21-23)
Petrus hat die Ermahnung angenommen und sich verändert.
Es spricht einiges dafür, dass es bei Judas gerade der Punkt des Messiasverständnisses war, in dem er sich von Jesus nichts sagen lassen wollte, was ihn dann so weit gebracht hat, Jesus seinen Gegnern auszuliefern. Mehr dazu gibt es in einem eigenen Beitrag.
Vielleicht gab es in der Ausgangsposition keinen so großen Unterschied zwischen Petrus und Judas. Doch während Petrus sich von Jesus verändern ließ, widersetzte sich Judas, was ihn zu der Katastrophe des Verrats führte.
Wenn Johannes schrieb, dass Jesus von Anfang an wusste, wer ihn ausliefern würde, so tat er das aus der späteren Perspektive, wo alles, was über Judas berichtet wurde, von seiner schrecklichen Sünde überschattet war. Jesus wusste seit seiner ersten Begegnung mit Judas, dass in ihm das Potenzial zum Verräter steckte. Wenn ihn jemand verraten würde, dann war es Judas. Doch hätte es in Judas nicht auch sehr vieles gegeben, wodurch Gott ihn zum Dienst an den Menschen verwenden konnte, hätte Jesus ihn nicht erwählt. Aber nach dem Verrat war das alles kein Thema mehr. Judas hatte sich zum Feind Gottes gemacht.
Mir ist bewusst, dass die letzten Gedanken so nicht in der Bibel stehen und spekulativ sind. Aber wir sollten auch die Warnung Jesu bedenken:
Gebt das Heilige nicht den Hunden und werft eure Perlen nicht den Schweinen vor, denn sie könnten sie mit ihren Füßen zertreten und sich umwenden und euch zerreißen! (Matthäus 7,6)
Sollen wir annehmen, dass Jesus die Jahre seines öffentlichen Dienstes gemeinsam mit einem Mann verbracht hätte, der sich von Anfang an der Bosheit verschrieben hat?
Es geht hier nicht um eine Rechtfertigung von Judas. Wenn wir uns vor Augen halten, dass er ein Mann war, dem Gott eine große Aufgabe zugedacht hatte, wird an seinem Beispiel sichtbar, wohin die Verweigerung führt.
Wer also zu stehen meint, der gebe Acht, dass er nicht fällt.
(1 Korinther 10,12)