Warum hat Judas Jesus verraten?

Alle vier Evangelisten berichten darüber, dass Jesus von einem der zwölf engsten Jünger verraten wurde. Es ist eine große Tragödie, dass einer derer, mit denen Jesus während seines öffentlichen Wirkens sein Leben geteilt hat, zum Schluss seinen Herrn seinen Feinden ausgeliefert hat. Warum hat er es getan?

War es Geldgier?

Die drei synoptischen Evangelien stimmen darin überein, dass Judas Jesus um den Preis von dreißig Silberstücken verraten hatte: Matthäus 26,14-16; Markus 14,10-11; Lukas 22,3-6. Aus Matthäus geht hervor, dass Judas selbst gefragt hatte, was die Hohepriester ihm für die Auslieferung Jesu geben würde. Das würde ein Argument für eine finanzielle Motivation unterstützen. In den beiden anderen Evangelien wird das nicht so ausdrücklich geschrieben.

Klar ist, dass die Initiative zum Verrat von Judas ausging. Die Feinde Jesu waren über dieses Angebot eines Jüngers natürlich höchst erfreut.

Johannes schreibt nicht über diese Vereinbarung zwischen Judas und den jüdischen Führern, erwähnt aber anlässlich der Salbung Jesu in Betanien, dass Judas ein Dieb war.

4 Doch einer von seinen Jüngern, Judas Iskariot, der ihn später auslieferte, sagte: 5 Warum hat man dieses Öl nicht für dreihundert Denare verkauft und den Erlös den Armen gegeben? 6 Das sagte er aber nicht, weil er ein Herz für die Armen gehabt hätte, sondern weil er ein Dieb war; er hatte nämlich die Kasse und veruntreute die Einkünfte. (Johannes 12,4-6)

Auch diese Feststellung würde auf den ersten Blick für ein finanzielles Motiv sprechen.

Man muss aber auch festhalten, dass erst im Nachhinein festgestellt wurde, dass Judas Geld aus der gemeinsamen Kasse veruntreut hatte. Wäre das schon früher klar gewesen, wäre Judas nicht nur seiner Aufgabe, sich um die Finanzen des Jüngerkreises zu kümmern, enthoben worden, sondern hätte überhaupt seinen Platz unter den zwölf Jüngern verloren.1

Aber wenn es Judas nur ums Geld gegangen wäre, stellt sich die Frage, ob es auf Dauer nicht ertragreicher gewesen wäre, immer wieder etwas von der Kasse abzuzweigen, als auf einen Schlag etwas mehr Geld zu erhalten, aber dadurch von der dauerhaften Geldquelle abgeschnitten zu werden. Oder wollte Judas sich ohnehin vom Jüngerkreis trennen und dabei finanziell möglichst gut aussteigen?

Judas wusste genau, dass die Gegner Jesu ihn töten wollten. Warum hat er dann auf diese Weise reagiert?

3 Als nun Judas, der ihn ausgeliefert hatte, sah, dass Jesus verurteilt war, reute ihn seine Tat. Er brachte den Hohepriestern und den Ältesten die dreißig Silberstücke zurück 4 und sagte: Ich habe gesündigt, ich habe unschuldiges Blut ausgeliefert. Sie antworteten: Was geht das uns an? Das ist deine Sache. 5 Da warf er die Silberstücke in den Tempel; dann ging er weg und erhängte sich. (Matthäus 27,3-5)

Es musste für Judas doch von vornherein klar sein, dass sein Verrat den Tod Jesu zur Folge haben würde. Es ist natürlich schon so, dass jemandem die Tragweite seines Tuns noch viel stärker bewusst wird, wenn die Konsequenzen sichtbar werden. Aber spricht das nicht doch dafür, dass nicht Geldgier das Hauptmotiv für den Verrat war?

Ferner stellt sich die Frage, warum Judas Jesus mit einem Kuss verraten hatte, wie es von allen drei synoptischen Evangelien bezeugt wird (Matthäus 26,47-49; Markus 14,43-45; Lukas 22,47-48). Judas hätte ganz offen mit den bewaffneten Männern kommen können und auf Jesus zeigen können. Er hätte da nicht freundschaftliche Verbundenheit heucheln müssen.

Judas war während der Zeit des öffentlichen Wirkens Jesu mit ihm zusammen. Er hörte seine Worte, sah seine Wunder. Wahrscheinlich hat er, wie die anderen Jünger auch, sogar selber Wunder im Namen Jesu gewirkt, so wie es in Lukas 9,6 heißt:

Die Zwölf machten sich auf den Weg und wanderten von Dorf zu Dorf. Sie verkündeten das Evangelium und heilten überall.

Wir kennen die Vorgeschichte von Judas nicht. Aber er konnte nur ein Jünger Jesu werden, wenn er davon überzeugt war, dass Jesus von Gott gesandt war. Wahrscheinlich hat er sogar gedacht, dass Jesus der Messias war. Auf jeden Fall hat er das als Möglichkeit gesehen.

Judas hatte ebenso wie die anderen Jünger anfangs eine irdische Messiaserwartung wie sie im damaligen Judentum verbreitet war. Die Juden lebten unter römischer Herrschaft. Gottes Volk wurde von gottlosen Heiden beherrscht. Das konnte doch kein von Gott gewollter Dauerzustand sein. Da gab es die „Eiferer“, die Zeloten, die diesen Zustand ändern wollten. Der Messias sollte Israel vom heidnischen Joch befreien. Sicher war die Messiaserwartung nicht rein politisch. Aber dieser Faktor spielte wohl eine große Rolle.

Für alle Jünger war die Zeit mit Jesus eine Zeit des Umdenkens. Sie sollten an dem, was sie an Jesus sahen und was sie von ihm hörten, lernen, wie der Messias wirklich ist. Das war eine große Herausforderung für jeden von ihnen. Auch Petrus musste eine harte Kritik Jesu annehmen, als er das von Jesus angekündigte Leiden infrage stellte.

21 Von da an begann Jesus, seinen Jüngern zu erklären: Er müsse nach Jerusalem gehen und von den Ältesten und Hohepriestern und Schriftgelehrten vieles erleiden, er müsse getötet und am dritten Tag auferweckt werden. 22 Da nahm ihn Petrus beiseite und begann, ihn zurechtzuweisen, und sagte: Das soll Gott verhüten, Herr! Das darf nicht mit dir geschehen! 23 Jesus aber wandte sich um und sagte zu Petrus: Tritt hinter mich, du Satan! Ein Ärgernis bist du mir, denn du hast nicht das im Sinn, was Gott will, sondern was die Menschen wollen. (Matthäus 16,21-23)

Aber Petrus war bereit, zu lernen und sich zu verändern, auch wenn es ihm schwergefallen ist und er bei der Verhaftung Jesu zum Schwert gegriffen hat.

Könnte es nicht sein, dass gerade das der Punkt war, den Judas nicht akzeptieren wollte? Dass er dachte, dass Jesus der Messias war, aber nicht verstehen konnte, warum er so ganz anders handelte, als der Messias nach seinen Vorstellungen handeln sollte?

Könnte es nicht sein, dass Judas mit dem Verrat Jesus herausfordern wollte, sich doch endlich als Messias zu offenbaren, die korrupte jüdische Herrscherschicht zu besiegen und anschließend die Römer aus dem Land zu werfen und dann endlich das Reich Davids wieder aufzurichten?

Das würde erklären, warum er sich beim Verrat nicht offen deklarieren wollte und warum er dann völlig verzweifelt war, als er sah, dass Jesus tatsächlich getötet werden würde. Das finanzielle Motiv wäre dann nur ein Nebenmotiv gewesen.

Gegen diese Erklärung würde sprechen, dass Judas den Messias für ziemlich dumm gehalten haben müsste, dass er dieses böse Spiel nicht durchschaut hätte. Auf jeden Fall hätte es einen großen Mangel an Selbsterkenntnis gegeben. Judas als sündhafter Mensch wollte es besser wissen als der Messias, ja sogar besser wissen als Gott. Aber ist es nicht auch so, dass böse Entscheidungen oft zu einem unlogischen Handeln führen?

Auch wenn wir nicht mit Sicherheit sagen können, dass das Festhalten an einer falschen Messiaserwartung der Grund war, der Judas zu dieser schlimmen Entscheidung und letztlich zu seinem eigenen Verderben geführt hat, halte ich das für sehr plausibel.

Das wäre für uns eine große Warnung davor, unsere eigenen Gedanken zu wichtig zu nehmen. Wir können Gott nicht zwingen, sondern Gott soll unser Denken und Tun nach seinen Plänen verändern.

8 Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken und eure Wege sind nicht meine Wege – Spruch des HERRN. 9 So hoch der Himmel über der Erde ist, so hoch erhaben sind meine Wege über eure Wege und meine Gedanken über eure Gedanken. (Jesaja 55,8-9)

Und gleicht euch nicht dieser Welt an, sondern lasst euch verwandeln durch die Erneuerung des Denkens, damit ihr prüfen und erkennen könnt, was der Wille Gottes ist: das Gute, Wohlgefällige und Vollkommene! (Römer 12,2)


  1. Wir müssen annehmen, dass Jesus, der auch als Mensch die Herzen der Menschen durchschaute (Johannes 2,24-25), wusste, was in Judas vorging, und dass ihm so auch seine Probleme beim Umgang mit Geld bekannt waren. Über die Frage, warum Judas überhaupt von Jesus in den Kreis der zwölf Jünger berufen wurde, ist ein eigener Beitrag angedacht. 

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