O die ihr glaubt, vorgeschrieben ist euch das Fasten, so wie es denjenigen vor euch vorgeschrieben war, auf daß ihr gottesfürchtig werden möget. (Sure 2,183)
In Sure 2,183-186 ist vom Fasten im Monat Ramadan die Rede. Im einleitenden Vers 183 wird gesagt, dass dieses Fasten den Muslimen so vorgeschrieben ist, wie es „denjenigen vor euch“ vorgeschrieben war. Damit ist nach Ibn Abbas das Volk der Schrift gemeint1. Mit dem „Volk der Schrift“ können entweder die Juden oder die Christen gemeint sein. Hat Gott in der Thora oder im Evangelium den Ramadan oder eine ihm ähnliche Vorschrift offenbart?
In der Thora finden wir keine derartige Anordnung. In Exodus 34,28 lesen wir:
Mose blieb dort beim HERRN vierzig Tage und vierzig Nächte. Er aß kein Brot und trank kein Wasser. Er schrieb auf die Tafeln die Worte des Bundes, die zehn Worte.
Dass Mose vierzig Tage und vierzig Nächte nichts getrunken haben soll, ist wohl als poetische Übertreibung zu verstehen. Es sollte wohl gesagt werden, dass aufgrund der tiefen Gemeinschaft mit Gott, die er am Berg Sinai erlebte, über allen irdischen Bedürfnissen stand. Unabhängig davon, wie man diese eine Situation interpretiert, war klar, dass das nur Mose betraf und auch ihn nur einmal. Das war kein jährlicher Fastenmonat für alle Gläubigen. Außerdem wird hier ausdrücklich betont, dass auch die Nächte in das Fasten eingeschlossen waren.
Für das Volk Israel gab es nur einen einzigen vorgeschriebenen Fasttag, den Versöhnungstag. Das Ritual dieses Tages wird in Levitikus 16 beschrieben. Über das Fasten geht es in den Versen 29-31:
29 Folgendes soll euch als ewige Satzung gelten: Im siebten Monat, am zehnten Tag des Monats, sollt ihr euch Enthaltung auferlegen und keinerlei Arbeit tun, der Einheimische und ebenso der Fremde, der in eurer Mitte lebt. 30 Denn an diesem Tag erwirkt man für euch Versöhnung, um euch zu reinigen. Vor dem HERRN werdet ihr von allen euren Sünden wieder rein. 31 Dieser Tag ist für euch ein vollständiger Ruhetag und ihr sollt euch Enthaltung auferlegen. Das gelte als ewige Satzung.
Das von der Einheitsübersetzung mit „sich Enthaltung auferlegen“ übersetzte Wort עָנָה / ′ānāh heißt eigentlich „sich demütigen, erniedrigen“. Es wurde und wird von den Juden als ein Fastengebot verstanden. Wenn von einer „ewigen“ Satzung die Rede ist, so ist hier nicht Ewigkeit im absoluten Sinn gemeint. Das hebräische Wort עוֹלָם / ′ôlām kann auch eine lange Dauer meinen. Das Ritual des Versöhnungstages hat seine Erfüllung im Erlösungsopfer Jesu gefunden, auf das es prophetisch hinwies.
In Jesaja 58 zeigt uns Gott durch seinen Propheten, worauf es beim Fasten ankommt. Das Wesentliche beim Fasten ist nicht das Hungern, sondern:
6 Ist nicht das ein Fasten, wie ich es wünsche: die Fesseln des Unrechts zu lösen, die Stricke des Jochs zu entfernen, Unterdrückte freizulassen, jedes Joch zu zerbrechen? 7 Bedeutet es nicht, dem Hungrigen dein Brot zu brechen, obdachlose Arme ins Haus aufzunehmen, wenn du einen Nackten siehst, ihn zu bekleiden und dich deiner Verwandtschaft nicht zu entziehen? 8 Dann wird dein Licht hervorbrechen wie das Morgenrot und deine Heilung wird schnell gedeihen. Deine Gerechtigkeit geht dir voran, die Herrlichkeit des HERRN folgt dir nach. (Jesaja 58,6-8)
Mehr Gedanken zu diesem Prophetentext gibt es in einem eigenen Beitrag.
In den Heiligen Schriften des Alten Bundes gibt es keine dem Ramadan ähnliche Fastenvorschrift, weder in der Thora noch in den Büchern der Propheten. Das Fasten war Ausdruck der Zuwendung zu Gott für den einzelnen Gläubigen. Situativ gab es auch ein Fasten in besonderen Notsituationen, wie wir es z. B. in 2 Chronik 20,3 oder Ester 4,16 lesen. Nach der ersten Zerstörung des Tempels gab es jährlich einige Trauertage, an denen gefastet wurde. Diese sollten aber nach Sacharja 8,19 „zum Jubel und zur Freude und zu frohen Festen werden“.
Ebenso wenig wie Mose und die Propheten hat Jesus zu einem Fastenmonat aufgefordert.
Er sagte hinsichtlich des Fastens:
16 Wenn ihr fastet, macht kein finsteres Gesicht wie die Heuchler! Sie geben sich ein trübseliges Aussehen, damit die Leute merken, dass sie fasten. Amen, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn bereits erhalten. 17 Du aber, wenn du fastest, salbe dein Haupt und wasche dein Gesicht, 18 damit die Leute nicht merken, dass du fastest, sondern nur dein Vater, der im Verborgenen ist; und dein Vater, der das Verborgene sieht, wird es dir vergelten. (Matthäus 6,16-18)
Wie das zum Ramadan passt, kann man hier lesen.
Auch wenn Jesus selbst vor dem Beginn seines öffentlichen Wirkens vierzig Tage und Nächte gefastet hat (Matthäus 4,2), hat er seinen Jüngern keinerlei Weisungen zu einem jährlichen Fastenmonat gegeben. Auch die Apostel haben diesbezüglich nichts gelehrt.
Erst im Laufe der Geschichte hat sich eine jährliche Fastenzeit vor Ostern mehr und mehr etabliert. Die heute übliche, aber in der Praxis von den meisten ignorierte vorösterliche vierzigtägige Fastenzeit gibt es seit Gregor dem Großen (gestorben 609), also nur wenige Jahrzehnte vor dem Auftreten Mohammeds.
Dem Autor des Islam waren die Regeln der Römischen Kirche wohl eher unbekannt. Es hat aber im syrischen Christentum ähnliche Regeln gegeben2. Aufgrund seiner Unkenntnis der Heiligen Schrift konnte der Autor der Sure Al-Baqarah nicht wissen, dass dem Volk der Schrift von Gott keine dem Ramadan ähnliche Praxis vorgeschrieben war. Er hat das nur aufgrund der unbiblischen Praxis seines zeitgenössischen Christentums angenommen.
Der Schluss daraus kann nur sein, dass ebenso wenig wie dem Volk der Schrift, egal ob damit Juden oder Christen gemeint waren, von Gott ein Fastenmonat vorgeschrieben war, auch der im Koran vorgeschriebene Fastenmonat nicht Gottes Gebot sein kann.
Fasten als freiwilliger Verzicht auf Nahrung hat seinen Platz in der individuellen Beziehung des Gläubigen zu Gott. Aber es hilft überhaupt nichts, wenn wir Gott nicht unser Leben schenken wollen.
12 Auch jetzt noch – Spruch des HERRN: Kehrt um zu mir von ganzem Herzen mit Fasten, Weinen und Klagen! 13 Zerreißt eure Herzen, nicht eure Kleider, und kehrt um zum HERRN, eurem Gott! Denn er ist gnädig und barmherzig, langmütig und reich an Huld und es reut ihn das Unheil. (Joel 2,12-13)
- Samir Mourad: Korantafsīr: basierend auf authentischen Überlieferungen und den Tafsiren von Tabari und Ibn Kathir, Band 1, Heidelberg, 2012, S.232. ↩
- Mor Ignatius Zakka I. Iwas, Das Fasten in der Syrisch-Orthodoxen Kirche, S. 8: Das vierzigtägige Fasten wurde im dritten Jahrhundert verkündet und im zweiten Viertel des vierten Jahrhunderts hat man die Leidenswoche hinzugefügt, die lange Zeit vor diesem Fasten gefastet wurde und so wurde aus dem vierzigtägigen Fasten zusammen mit der Leidenswoche ein siebenwöchiges Fasten. ↩