„Kind, warum hast du uns das angetan?“

41 Die Eltern Jesu gingen jedes Jahr zum Paschafest nach Jerusalem. 42 Als er zwölf Jahre alt geworden war, zogen sie wieder hinauf, wie es dem Festbrauch entsprach. 43 Nachdem die Festtage zu Ende waren, machten sie sich auf den Heimweg. Der Knabe Jesus aber blieb in Jerusalem, ohne dass seine Eltern es merkten. 44 Sie meinten, er sei in der Pilgergruppe, und reisten eine Tagesstrecke weit; dann suchten sie ihn bei den Verwandten und Bekannten. 45 Als sie ihn nicht fanden, kehrten sie nach Jerusalem zurück und suchten nach ihm. 46 Da geschah es, nach drei Tagen fanden sie ihn im Tempel; er saß mitten unter den Lehrern, hörte ihnen zu und stellte Fragen. 47 Alle, die ihn hörten, waren erstaunt über sein Verständnis und über seine Antworten. 48 Als seine Eltern ihn sahen, waren sie voll Staunen und seine Mutter sagte zu ihm: Kind, warum hast du uns das angetan? Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht. 49 Da sagte er zu ihnen: Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört? 50 Doch sie verstanden das Wort nicht, das er zu ihnen gesagt hatte. 51 Dann kehrte er mit ihnen nach Nazaret zurück und war ihnen gehorsam. Seine Mutter bewahrte all die Worte in ihrem Herzen. (Lukas 2,41-51)

Wenn man diesen Abschnitt liest, kann man sich gut in die Sorgen einer Mutter hineinversetzen. Vers 51b spricht ja auch dafür, dass Lukas diese Begebenheit entweder direkt oder indirekt von Maria erfahren hat.

Man kann dieser Erzählung entnehmen, dass Josef und Maria keine „Helikoptereltern“ waren, die Jesus dauernd unter Kontrolle hatten. Erst als sie schon eine Tagesstrecke zurückgereist waren, wollten sie wissen, wo er war. Sie hatten offensichtlich ein großes Vertrauen, dass Jesus das Richtige tun würde. Das hing einerseits wohl mit der Verheißung zusammen, die Maria vor der Empfängnis ihres Sohnes erhalten hatte (Lukas 1,26-38), auch mit allen Geschehnissen rund um seine Geburt und der Bewahrung vor der Verfolgung durch Herodes (Matthäus 2,13-15). Andererseits hatten sie in den zwölf Jahren seines bisherigen Lebens auf dieser Erde genug Erfahrungen gesammelt, die zeigten, dass Jesus verlässlich und vertrauenswürdig war.

Doch dass sie nun gar nichts vom Aufenthaltsort Jesu wussten, erfüllte Josef und Maria doch mit Sorge. Verständlicherweise. Oder doch nicht?

In einer „normalen“ Familie würde die Frage Marias nicht besonders auffallen. Aber diese Frage „Warum hast du uns das angetan?“ zeigt nicht nur einen Bezug auf das eigene Ich und auf die eigenen Schmerzen: „Warum hast du uns das angetan? Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht.“ Es steckt auch ein Vorwurf drin: „Warum hast du uns das angetan?“ So, als ob es Jesu Ziel gewesen wäre, etwas gegen seine Eltern zu tun.

Die Antwort Jesu könnte auch als Vorwurf verstanden werden. Jesus fragte seine Eltern, warum sie etwas gemacht haben, was für alle Eltern dieser Welt die selbstverständlichste Sache ist, nämlich ihr vermisstes Kind zu suchen. Jesus wies sie aber auch auf etwas hin, was sie hätten wissen sollen:

Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört?

Jesus war eben kein „normales“ Kind, um das man sich Sorgen machen muss. Er hatte das bereits zwölf Jahre lang gezeigt. Josef und Maria hätten wissen müssen – und wussten es grundsätzlich auch –, dass für Jesus immer der Wille seines himmlischen Vaters an erster Stelle stand. In dieser Situation hat Jesus diese Priorität im Gespräch über das Wort Gottes gesehen und hat danach gehandelt.

In diesem Zusammenhang haben sowohl Maria als auch Jesus vom „Vater“ gesprochen. Maria meinte Josef, mit dem zusammen sie Jesus mit Schmerzen gesucht hatte. Jesus meinte Gott. Dass Josef nicht der leibliche Vater Jesu war, stand natürlich außer Diskussion. Aber er nahm in der Erziehung Jesu die Position des Vaters ein, die Jesus durch seinen Gehorsam auch nach dieser Begebenheit akzeptiert hat. Doch war für Jesus klar, dass der Wille des himmlischen Vaters immer Vorrang hatte. Daran mussten Josef und Maria wieder erinnert werden. Zuerst haben sie das nicht verstanden. Aber gerade deswegen waren diese Worte Jesu wichtig, um sie an die richtigen Prioritäten zu erinnern.

Betrachten wir dieses Ereignis im Lichte des katholischen Dogmas der Sündenlosigkeit Marias, dann wird klar, dass dieses Dogma nicht richtig ist. Maria war eine vorbildliche Gläubige, sie war eine vorbildliche Mutter. Doch zeigt gerade diese Situation, dass auch sie nicht frei war von ichbezogener Sorge. Rein menschlich ist das verständlich. Aber es ist nicht die Vollkommenheit Gottes, die unser Schöpfer von uns erwartet und auch von ihr erwartet hat. Sie hat in dieser Situation nicht ausreichend nach Gottes Willen gesucht. Insofern ist das katholische Dogma falsch. Hätte jemand Maria zu ihren irdischen Lebzeiten sündenlos genannt, hätte sie das wohl berechtigterweise entschlossen zurückgewiesen. Sie pries Gott als ihren Retter (Lukas 1,47), weil sie wusste, dass sie Rettung brauchte. Sie war nicht voll der Gnade, sondern von Gott begnadet, der sich seiner Magd erbarmt hatte und sie dazu auserwählt hatte, die Mutter des Erlösers, seines ewigen Sohnes zu werden. Ihr Sohn Jesus ist der einzige Mensch, von dem die Schrift sagt, dass er ohne Sünde ist.

Er hat keine Sünde begangen und in seinem Mund war keine Falschheit. (1 Petrus 2,22)

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