6 Womit soll ich vor den HERRN treten, mich beugen vor dem Gott der Höhe? Soll ich mit Brandopfern vor ihn treten, mit einjährigen Kälbern? 7 Hat der HERR Gefallen an Tausenden von Widdern, an zehntausend Bächen von Öl? Soll ich meinen Erstgeborenen hingeben für meine Vergehen, die Frucht meines Leibes für meine Sünde? 8 Es ist dir gesagt worden, Mensch, was gut ist und was der HERR von dir erwartet: Nichts anderes als dies: Recht tun, Güte lieben und achtsam mitgehen mit deinem Gott. (Micha 6,6-8)
Der Prophet Micha wirkte im 8. Jahrhundert vor Christus. Er war ein Prophet, der das Strafgericht verkündete. In 3,12 kündete er sogar die Zerstörung Jerusalems an, die aber wegen des Gehorsams des Königs Hiskija zu seiner Zeit nicht geschah (Jeremia 26,18-19). Er sprach aber auch über das Kommen des Messias aus Bethlehem (5,1) und das Friedensreich, das Gott aufrichten wird (4,1-5).
Die oben angeführten Verse befinden sich im Zusammenhang eines Rechtsstreits, den Gott mit seinem Volk führt (6,1-5). Gott erinnert sein Volk an all das Gute, das er ihm getan hat, als er es aus der Sklaverei in Ägypten befreit hat und es allen Anfeindungen zum Trotz durch die Wüste in das Land der Verheißung geführt hat.
Die Verse 6-8 scheinen eine Reaktion des Volkes auf das Handeln Gottes auszudrücken. Wenn Gott uns befreit hat, wie kann ich ihm in richtiger Weise antworten? Wie kann ich mich ihm nahen, wie kann ich vor ihm bestehen?
Der erste Gedanke war an Opfer, an Brandopfer und Kälber, an Widder und Öl. In der Tat hatte das Volk Israel einen umfangreichen Opferkult. So findet man in Numeri 28 und 29 eine Auflistung aller verpflichtenden Opfer, die täglich und zu den Festen anfielen. Wenn man das addiert, kommt man auf eine jährliche Menge von 113 Jungstieren, 37 Widdern, 1093 Lämmern und 11 Ziegenböcken, die geschlachtet werden sollten. Dazu kamen noch über 3390 Liter1 Weizengrieß, 1427 Liter2 Öl, 1261 Liter Wein. Da waren aber die freiwilligen Opfer und Sündopfer noch nicht dabei.
In Vers 7a erfolgt die Antwort durch eine rhetorische Frage. Nein, das ist es nicht, woran Gott Gefallen hat.
So heißt es auch in Psalm 50,8-15:
8 Nicht wegen deiner Opfer rüge ich dich, deine Brandopfer sind mir immer vor Augen. 9 Aus deinem Haus nehme ich keinen Stier an, keine Böcke aus deinen Hürden. 10 Denn mir gehört alles Wild des Waldes, das Vieh auf den Bergen zu Tausenden. 11 Ich kenne alle Vögel der Berge, was sich regt auf dem Feld, ist mein Eigen. 12 Hätte ich Hunger, ich brauchte es dir nicht zu sagen, denn mein ist der Erdkreis und seine ganze Fülle. 13 Soll ich denn das Fleisch von Stieren essen und das Blut von Böcken trinken? 14 Bring Gott ein Opfer des Dankes und erfülle dem Höchsten deine Gelübde! 15 Ruf mich am Tage der Not; dann rette ich dich und du wirst mich ehren.
Die Tieropfer in sich hatten keinen Sinn. Sie mussten im Rahmen der alttestamentlichen Ordnung immer mit einer gottgefälligen Gesinnung verbunden sein.
Der nächste Vorschlag (in Vers 7b) geht noch einen Schritt weiter: Soll ich meinen Erstgeborenen hingeben? Menschenopfer waren leider eine verbreitete Praxis in Kanaan. Für viele war die Opferung der eigenen Kinder vermutlich eine große Überwindung. Es ist den Menschen wohl nicht leicht gefallen, ihre geliebten Kinder zu töten. Das unterscheidet die Menschenopfer der Antike von den Kinderopfern unserer Zeit.
Auch Abraham hat Gottes Ruf, auf seinen geliebten Sohn Isaak zu verzichten, im Sinne eines Opfers verstanden3.
Dass Menschenopfer nicht der Wille Gottes sein können, finden wir klar durch den Propheten Jeremia ausgedrückt:
Auch haben sie die Kulthöhen des Tofet im Tal Ben-Hinnom gebaut, um ihre Söhne und ihre Töchter im Feuer zu verbrennen, was ich nie befohlen habe und was mir niemals in den Sinn gekommen ist. (Jeremia 7,31)
Für Micha scheint das so selbstverständlich zu sein, dass er diesen Vorschlag gar nicht zurückweist.
In Vers 8 erinnert der Prophet das Volk an das, was vor Gott wichtig ist. Es ist nichts Neues, es wurde ihnen schon gesagt. Sie sollen sich an das halten, was sie bereits wissen sollten, an die Botschaft des Gesetzes und der Propheten.
- Recht tun (עֲשֹׂ֤ות מִשְׁפָּט / asot mišpāt): Das Wort mišpāt hat ein großes Bedeutungsspektrum vom Richtergremium und dessen Entscheidung bis zu den Grundlagen des Rechts, die in der Thora zu finden sind. Es kann auch für das Gericht Gottes stehen. Hier geht es um das Tun dessen, was man als Recht erkennt, was den Geboten Gottes entspricht. Dieses Recht erkennt man aus seinem Wort und auch aus dem Gewissen. Das Tun des Rechts setzt auch voraus, dass man darüber nachdenkt und forscht, was richtig ist, was dem Willen Gottes entspricht. Diese Erkenntnis muss sich dann in der Lebenspraxis verwirklichen.
- Güte lieben (אַ֣הֲבַת חֶ֔סֶד / ahabat chäsäd): Die Elberfelder Studienbibel schreibt zum Wort chäsäd:
Güte, Gnade, Treue, Verbundenheit, Gemeinschaftspflicht, Großherzigkeit, Gunst. Das Wort beschreibt eine Einstellung und eine Verhaltensweise, bei der die Rechte und Pflichten in einer Gemeinschaft voll und über das notwendige Maß hinaus erfüllt werden. Es entspricht nicht nur dem erwarteten Verhalten, sondern steht für eine unerwartete Freundlichkeit und Zuwendung, die wohltuend wirkt. Das Wort steht oft in Parallele zu ämät, Treue, Wahrheit, Verlässlichkeit und rachamîm, Erbarmen, besonders in Aussagen über Gott, zu dessen Wesen chäsäd gehört. Dies beinhaltet Vergebung, aber auch Hilfe und Rettung im weitesten Sinne. […] Erweist Gott seine helfende Zuwendung, erwartet er auch vom Menschen Güte und zurechtbringendes Erbarmen anderen gegenüber sowie Vertrauen und Liebe zu Gott.
Manche Übersetzungen geben dieses Wort auch mit „Liebe“ wieder. „Güte lieben“ bedeutet, von sich selbst wegzuschauen, die Liebe Gottes, die man selbst erfahren hat, anderen weiterzugeben. Nicht den eigenen Vorteil soll man anstreben, sondern das Gute, das dem anderen hilft.
Wir finden dieses Wort auch in Hosea 6,6:
Denn an Liebe habe ich Gefallen, nicht an Schlachtopfern, an Gotteserkenntnis mehr als an Brandopfern. - Achtsam mitgehen mit deinem Gott (הַצְנֵ֥עַ לֶ֖כֶת עִם־אֱלֹהֶֽיךָ / haznea läkät im älohäka): haznea ist das Partizip von zāna‘. Dieses Verb kommt sonst nur in Sprüche 11,2 vor:
Kommt Hochmut, kommt auch Schande, doch bei den Bescheidenen ist die Weisheit.
Das Wörterbuch von Gesenius bietet die Bedeutungen „einsichtsvoll, besonnen, bescheiden“ sein, ähnlich die Elberfelder Studienbibel, wo auch noch „behutsam sein“ steht. Andere Übersetzungen (Luther, Schlachter) haben das Wort „demütig“.
Es geht darum, mit Gott zu wandeln, nicht den eigenen Wegen und Vorstellungen zu folgen. Wer mit Gott lebt, ist achtsam und besonnen, demütig und bescheiden. Wenn Gott im Mittelpunkt des Lebens steht, achtet man darauf, was das Leben und Denken ausfüllt (Philipper 4,8), man lebt in Demut und bescheiden, um Gott zu gefallen.
Das ist das Opfer, das Gott gefällt:
1 Ich ermahne euch also, Brüder und Schwestern, kraft der Barmherzigkeit Gottes, eure Leiber als lebendiges, heiliges und Gott wohlgefälliges Opfer darzubringen – als euren geistigen Gottesdienst. 2 Und gleicht euch nicht dieser Welt an, sondern lasst euch verwandeln durch die Erneuerung des Denkens, damit ihr prüfen und erkennen könnt, was der Wille Gottes ist: das Gute, Wohlgefällige und Vollkommene! (Römer 12,1-2)