Um die neunte Stunde schrie Jesus mit lauter Stimme: Eli, Eli, lema sabachtani?, das heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? (Matthäus 27,46)
Diese Worte Jesu, die wir auch in Markus 15,34 lesen, erscheinen für den, der sie das erste Mal liest oder hört, schockierend.
Hat nicht gerade Jesus immer wieder von Gott als einem liebenden Vater gesprochen? Hat nicht Jesus sich selbst als der geliebte Sohn dieses Vaters erfahren und bezeugt? Schon bei der Taufe im Jordan bekannte sich Gott zu seinem Sohn:
Und siehe, eine Stimme aus dem Himmel sprach: Dieser ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen gefunden habe. (Matthäus 3,17)
Jesus bezeugte seine tiefe und einzigartige Verbundenheit mit dem Vater:
Alles ist mir von meinem Vater übergeben worden; niemand kennt den Sohn, nur der Vater, und niemand kennt den Vater, nur der Sohn und der, dem es der Sohn offenbaren will. (Matthäus 11,27)
Ich und der Vater sind eins. (Johannes 10,30)
Konnte diese Einheit zerreißen?
Manche denken: Ja, aber nur für eine begrenzte Zeit. Weil Jesus die Strafe für die Sünden trug, musste er die Konsequenz der Sünden tragen, nämlich die Gottesferne.
Wäre Jesus wirklich von Gott verlassen worden, würden sich einige Fragen von großer Tragweite stellen.
- Kann Gott wirklich nur vergeben, wenn er straft?
Zahlreiche Worte Jesu, wie das Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lukas 15,11-32), das Gleichnis vom unbarmherzigen Knecht (Matthäus 18,21-35) oder die Aufforderung zum Vergeben in der Bergpredigt (Matthäus 6,12.14-15) vermitteln eine andere Botschaft. - Wie ist es mit der göttlichen Natur Jesu?
Johannes 1,1.14 bezeugt, dass Gottes ewiges Wort in Jesus Mensch geworden ist. Auch Jesus selbst hat einen Anspruch erhoben, der nur Gott gebührt. In Johannes 5,23 hat er dieselbe Ehre, die dem Vater gegeben wird, für sich beansprucht. Mehr dazu hier.
Eine Trennung von Gott, würde in Konsequenz nicht nur eine Trennung vom Vater bedeuten, sondern auch eine Spaltung Jesu in den Menschen und die göttliche Natur. Aber Jesus war nur eine einzige Person. Wie wäre diese Spaltung möglich? - Hat Jesus irgendwo angedeutet, dass er in die Gottesferne gehen wird? Es gibt kein einziges Wort Jesu, das in diese Richtung weist. Das einzige Wort Jesu, das von der Gottverlassenheit spricht, ist das Wort am Kreuz.
Einige Bibelstellen sprechen stark dagegen, dass Jesus am Kreuz fern von Gott war.
Da sagte Jesus zu ihnen: Wenn ihr den Menschensohn erhöht habt, dann werdet ihr erkennen, dass Ich es bin. Ihr werdet erkennen, dass ich nichts von mir aus tue, sondern nur das sage, was mich der Vater gelehrt hat. Und er, der mich gesandt hat, ist bei mir; er hat mich nicht alleingelassen, weil ich immer das tue, was ihm gefällt. (Johannes 8,28-29)
Jesus spricht hier von seiner Erhöhung. Nach Johannes 12,32-33 ist damit sein Tod am Kreuz gemeint. Er spricht auch von der Erkenntnis, dass „Ich <es> bin“, auf Griechisch: ego eimi. Das ist ein Hinweis auf seine göttliche Natur (vergleiche Exodus 3,14; Jesaja 43,10). In diesem Zusammenhang betont Jesus auch, dass der Vater, der ihn gesandt hat, immer bei ihm ist. Gerade, wenn der Kreuzestod Jesu der Wille Gottes ist, hat ihn sein Vater in dieser schweren Situation nicht allein gelassen.
Siehe, die Stunde kommt und sie ist schon da, in der ihr versprengt sein werdet, jeder in sein Haus, und mich alleinlassen werdet. Aber ich bin nicht allein, denn der Vater ist bei mir. (Johannes 16,32)
Diese Worte hat Jesus am Vorabend seines Todes gesprochen. Er hat genau die Situation im Auge, wo er von seinen Jüngern verlassen sein wird, nicht aber von seinem Vater. Der liebende Vater verlässt seinen Sohn gerade in der größten Not nicht.
[…] nämlich dass Gott in Christus war und die Welt mit sich selbst versöhnte, ihnen ihre Übertretungen nicht zurechnete und in uns das Wort von der Versöhnung gelegt hat. (2 Korinther 5,19 Elberfelder)
Hier schreibt Paulus über den Tod Jesu am Kreuz. Gott war in dieser Situation in Christus, nicht ferne von ihm.
Denn Gott wollte mit seiner ganzen Fülle in ihm wohnen, um durch ihn alles auf ihn hin zu versöhnen. Alles im Himmel und auf Erden wollte er zu Christus führen, der Frieden gestiftet hat am Kreuz durch sein Blut. (Kolosser 1,19-20)
Auch hier ist vom Kreuz die Rede. Gott hat mit seiner ganzen Fülle auch dann in Christus gewohnt. Es gab keine Trennung Jesu von seinem Vater.
Dafür spricht auch das von Lukas überlieferte Wort Jesu:
Und Jesus rief mit lauter Stimme: Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist.
Mit diesen Worten hauchte er den Geist aus. (Lukas 23,46)
Wie sollen wir nun Jesu Klage über seine Gottverlassenheit verstehen?
Es handelt sich um die Anfangsworte von Psalm 22. Dieser Psalm ist ein Gebet eines Gerechten in großer Not. Nach außen hin erschien seine Situation wie die eines von Gott Verlassenen. Trotzdem brachte er seine ganze Not vertrauensvoll vor Gott. In Vers 12 rief er:
Sei mir nicht fern, denn die Not ist nahe und kein Helfer ist da!
Seine ganze Sehnsucht war auf Gott ausgerichtet, der ihm nahe war und ihn befreite. Darum konnte er in Vers 25 dankbar bekennen:
Denn er hat nicht verachtet, nicht verabscheut des Elenden Elend. Er hat sein Angesicht nicht verborgen vor ihm; er hat gehört, als er zu ihm schrie.
Trotz aller scheinbaren Gottverlassenheit, war Gott bei dem Gerechten. In den Anfangsworten ist der ganze Psalm mitgemeint. Juden, die in ihrer Heiligen Schrift bewandert waren, kannten diesen Zusammenhang. So enthalten diese Worte, die dem Anschein nach ein Ruf der Verzweiflung sind, in sich ein tiefes Vertrauen und das Wissen, dass Gott den Gerechten in seinem Leiden nicht verlässt. Darum passen diese Worte sehr gut zur Situation Jesu am Kreuz. Den Menschen erschien er als ein Verbrecher, der von Gott verlassen war. Doch Gott war bei ihm.
Gegen Ende des Psalms finden wir einige Aussagen, die über das hinausgehen, was ein gerechter Israelit zur Zeit des Alten Testaments erfahren konnte, die aber den Sieg des Messias beschreiben.
28 Alle Enden der Erde sollen daran denken und sich zum HERRN bekehren: Vor dir sollen sich niederwerfen alle Stämme der Nationen. 29 Denn dem HERRN gehört das Königtum; er herrscht über die Nationen. 30 Es aßen und warfen sich nieder alle Mächtigen der Erde. Alle, die in den Staub gesunken sind, sollen vor ihm sich beugen. Und wer sein Leben nicht bewahrt hat, 31 Nachkommen werden ihm dienen. Vom Herrn wird man dem Geschlecht erzählen, das kommen wird. 32 Seine Heilstat verkündet man einem Volk, das noch geboren wird: Ja, er hat es getan. (Psalm 22,28-32)
Die Bekehrung der Nationen (Verse 28-29), auch dass die Verstorbenen sich vor ihm beugen sollen (Vers 30), das ist das Werk der Erlösung, die Heilstat, die dem kommenden Volk erzählt wird.
Falls man den Schlussteil von Vers 30 mit dem Anfang von Vers 31 verbindet, so wie es die Einheitsübersetzung macht, würde das sogar bedeuten, dass dem, der sein Leben nicht bewahrte (Jesus) die Nachkommen dienen werden. Doch ist diese Verbindung unsicher. Andere Übersetzungen sehen das nicht so.
Aber auch ohne diese Deutung der Verse 30-31 sehen wir in diesem Zusammenhang die Verbindung zwischen dem Leiden des Gerechten und der Herrschaft Gottes über die Völker.
Würdig bist du, das Buch zu nehmen und seine Siegel zu öffnen: denn du wurdest geschlachtet und hast mit deinem Blut Menschen für Gott erworben aus allen Stämmen und Sprachen, aus allen Nationen und Völkern […]
Würdig ist das Lamm, das geschlachtet ist, Macht zu empfangen, Reichtum und Weisheit, Kraft und Ehre, Lob und Herrlichkeit. (Offenbarung 5,9.12)