Ich und der Vater sind eins. (Johannes 10,30)
In einer Publikation der Zeugen Jehovas mit dem Titel „Widerspricht sich die Bibel?“ heißt es zu diesem Wort Jesu:
Als Jesus sagte: „Ich und der Vater sind eins“, ging es im Zusammenhang darum, dass er und sein Vater, Jehova Gott, ein und dieselben Ziele verfolgen.
Für dieses Verständnis der Zeugen Jehovas würde Johannes 17,21-23 sprechen:
21 Alle sollen eins sein: Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast. 22 Und ich habe ihnen die Herrlichkeit gegeben, die du mir gegeben hast, damit sie eins sind, wie wir eins sind, 23 ich in ihnen und du in mir. So sollen sie vollendet sein in der Einheit, damit die Welt erkennt, dass du mich gesandt hast und sie ebenso geliebt hast, wie du mich geliebt hast.
Jesus betete am Abend vor seinem Tod in der Gemeinschaft seiner Jünger um deren Einheit. Als Vorbild für ihre Einheit dient die Einheit zwischen ihm und dem Vater. Jesus zeigte dadurch, wie wichtig die Einheit unter seinen Nachfolgern ist. An ihr soll die Welt erkennen, dass Gott Jesus gesandt hat. Es ist aber klar, dass die Einheit unter den Christen, so eng sie auch sein mag, immer eine Einheit unter Individuen ist. Geistlich gesehen sind alle Glieder am Leib Christi. Aber es ist trotzdem jeder von ihnen ein eigener Mensch. Schon gar nicht kann man sagen, dass ein Christ dadurch, dass er im Vater und in Christus ist (Vers 21), dadurch zu Gott wird. Die Grenze zwischen dem Schöpfer und dem Geschöpf bleibt bestehen. Somit wäre Johannes 17 ein starker Hinweis darauf, dass es auch in Johannes 10,30 „nur“ um eine Einheit im Ziel, in der Gesinnung, in der Liebe ginge.
Doch könnte es nicht auch so sein, dass Jesus seinen Jüngern die einzigartige Einheit, die er mit dem Vater hat, als Vorbild setzt, damit sie alles daran setzen, dieser Einheit zu entsprechen, soweit es unter Menschen möglich ist? Das war Jesu großes Anliegen vor seinem Tod. Darum hat er den Vater gebeten.
Um zu verstehen, was Jesus in Johannes 10 gemeint hat, ist es wichtig, auf den Zusammenhang dieses Wortes zu achten.
22 Um diese Zeit fand in Jerusalem das Tempelweihfest statt. Es war Winter 23 und Jesus ging im Tempel in der Halle Salomos auf und ab. 24 Da umringten ihn die Juden und fragten ihn: Wie lange hältst du uns noch hin? Wenn du der Christus bist, sag es uns offen! 25 Jesus antwortete ihnen: Ich habe es euch gesagt, aber ihr glaubt nicht. Die Werke, die ich im Namen meines Vaters vollbringe, legen Zeugnis für mich ab; 26 ihr aber glaubt nicht, weil ihr nicht zu meinen Schafen gehört. 27 Meine Schafe hören auf meine Stimme; ich kenne sie und sie folgen mir. 28 Ich gebe ihnen ewiges Leben. Sie werden niemals zugrunde gehen und niemand wird sie meiner Hand entreißen. 29 Mein Vater, der sie mir gab, ist größer als alle und niemand kann sie der Hand meines Vaters entreißen. 30 Ich und der Vater sind eins. 31 Da hoben die Juden wiederum Steine auf, um ihn zu steinigen. 32 Jesus hielt ihnen entgegen: Viele gute Werke habe ich im Auftrag des Vaters vor euren Augen getan. Für welches dieser Werke wollt ihr mich steinigen? 33 Die Juden antworteten ihm: Wir steinigen dich nicht wegen eines guten Werkes, sondern wegen Gotteslästerung; denn du bist nur ein Mensch und machst dich selbst zu Gott. 34 Jesus erwiderte ihnen: Steht nicht geschrieben in eurem Gesetz: Ich habe gesagt: Ihr seid Götter? 35 Wenn er jene Menschen Götter genannt hat, an die das Wort Gottes ergangen ist, und wenn die Schrift nicht aufgehoben werden kann, 36 dürft ihr dann von dem, den der Vater geheiligt und in die Welt gesandt hat, sagen: Du lästerst Gott – weil ich gesagt habe: Ich bin Gottes Sohn? 37 Wenn ich nicht die Werke meines Vaters vollbringe, dann glaubt mir nicht! 38 Aber wenn ich sie vollbringe, dann glaubt wenigstens den Werken, wenn ihr mir nicht glaubt! Dann werdet ihr erkennen und einsehen, dass in mir der Vater ist und ich im Vater bin. 39 Wieder suchten sie ihn festzunehmen; er aber entzog sich ihrem Zugriff. (Johannes 10,22-39)
Auf die Frage, ob er der Messias (= Christus) sei, antwortete Jesus mit einem Verweis auf seine Werke. Seine Gegner, die nicht an ihn glauben, gehören nicht zu seinen Schafen. Dass vom Volk Gottes im Bild von Schafen die Rede ist, war auch den Gegnern aus dem Alten Testament bekannt, z. B. aus Ezechiel 34, wo Gott selber der Hirte seiner Herde ist.
11 Denn so spricht GOTT, der Herr: Siehe, ich selbst bin es, ich will nach meinen Schafen fragen und mich um sie kümmern. 12 Wie ein Hirt sich um seine Herde kümmert an dem Tag, an dem er inmitten seiner Schafe ist, die sich verirrt haben, so werde ich mich um meine Schafe kümmern […] (Ezechiel 34,11-12a)
In 34,23 wird auch David (= der Nachkomme Davids, der Messias) als Hirte genannt:
Ich werde über sie einen einzigen Hirten einsetzen, der sie weiden wird, meinen Knecht David. Er ist es, der sie weiden wird. Er ist es, der für sie Hirt sein wird.
Die Schafe sind aber trotzdem die Schafe Gottes. In Johannes 10,26-27 spricht Jesus aber von seinen Schafen, nicht von den Schafen Gottes. Jesus ist ebenso wie sein Vater der Eigentümer der Herde Gottes.
In Vers 28 sagt Jesus, dass er seinen Schafen ewiges Leben gibt. Wer außer Gott kann ewiges Leben geben?
In Vers 28 sagt Jesus auch, dass niemand seine Schafe seiner Hand entreißen kann. In Vers 29 sagt er, dass niemand sie der Hand seines Vaters entreißen kann. Das ist eine auffällig parallele Formulierung.
Zur Bekräftigung betont Jesus in Vers 30 seine Einheit mit dem Vater. Das ist mehr als eine Einheit im Ziel. Es ist eine Einheit in der Macht. Da Gott Geist ist (Johannes 4,24), hat er keinen Körper und keine Hand. Seine Hand steht für seine schützende Macht, mit der er seine Schafe vor den Angriffen des Bösen bewahrt. Ebenso bewahrt auch Jesus seine Schafe mit seiner Hand, seiner schützenden Macht, vor diesen Angriffen. Die Macht Jesu gleicht der Macht des Vaters. Der Vater ist der allmächtige Gott. Wenn Jesus dieselbe Macht wie sein Vater, der Allmächtige, hat, hat er teil am göttlichen Wesen seines Vaters. Die Einheit Jesu mit seinem Vater ist die Einheit in der ewigen Gottheit.
Diesen Anspruch haben die Gegner Jesu verstanden. Sie wollten Jesus wegen Gotteslästerung steinigen. Wenn ein Mensch sich selbst zu Gott macht, ist das Gotteslästerung, die mit dem Tod bestraft werden sollte.
Jeder Jude rezitierte täglich das „Höre Israel“:
4 Höre, Israel! Der HERR, unser Gott, der HERR ist einzig. 5 Darum sollst du den HERRN, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft. (Deuteronomium 6,4-5)
Das von der Einheitsübersetzung mit „einzig“ übersetzte Wort אֶחָד / ′ächād heißt auch „eins“. Wenn Jesus im Gespräch mit den jüdischen Führern sagte, dass der Vater und er „eins“ sind, hat er vermutlich genau dieses Wort verwendet. Die Juden konnten so im Wort Jesu auch eine Anspielung auf ihr tägliches Bekenntnis zur Einheit und Einzigkeit Gottes hören, den Anspruch, dass sich die Einheit Gottes in der Einheit Jesu mit dem Vater zeigt. Falls dem so war, würde das ihre Reaktion noch mehr erklären.
Hätte Jesus tatsächlich gemeint, dass seine Einheit mit dem Vater nicht eine Einheit im Wesen, sondern nur im Ziel ist, hätte er das den Juden, die zu den Steinen griffen, erklärt. Er hätte dieses Missverständnis leicht aus der Welt räumen können. Das hat er aber nicht gemacht. Zu Jesu Argumentation mit dem Psalmzitat „Ihr seid Götter“ gibt es einen eigenen Beitrag. Auch wenn Jesus seinen Gegnern mit diesem Zitat den Wind aus den Segeln nehmen wollte, hat er von seinem zuvor geäußerten Anspruch nichts zurückgenommen.
Jesus hat nicht gesagt: „Ihr werft mir vor, was ich nicht gesagt habe. Ich habe mich nicht zu Gott gemacht. Wer kann dem Allmächtigen gleichen? Ich bin eins mit dem Vater, weil ich mir seinen Willen zu eigen gemacht habe, aber ich bin Mensch wie ihr.“
Jesus wusste, dass ihn seine Gegner gerade wegen seines hohen Anspruchs töten wollten. Dennoch hat er an diesem Anspruch festgehalten.
Wir sollen diesen Anspruch nicht wegerklären, sondern unsere Knie vor ihm beugen und gemeinsam mit Thomas bekennen:
Mein Herr und mein Gott! (Johannes 20,28b)