12 Da wandte ich mich um, weil ich die Stimme erblicken wollte, die zu mir sprach. Als ich mich umwandte, sah ich sieben goldene Leuchter 13 und mitten unter den Leuchtern einen gleich einem Menschensohn; er war bekleidet mit einem Gewand bis auf die Füße und um die Brust trug er einen Gürtel aus Gold. 14 Sein Haupt und seine Haare waren weiß wie weiße Wolle, wie Schnee, und seine Augen wie Feuerflammen; 15 seine Beine glänzten wie Golderz, das im Schmelzofen glüht, und seine Stimme war wie das Rauschen von Wassermassen. 16 In seiner Rechten hielt er sieben Sterne und aus seinem Mund kam ein scharfes, zweischneidiges Schwert und sein Gesicht leuchtete wie die machtvoll strahlende Sonne. 17 Als ich ihn sah, fiel ich wie tot vor seinen Füßen nieder. Er aber legte seine rechte Hand auf mich und sagte: Fürchte dich nicht! Ich bin der Erste und der Letzte 18 und der Lebendige. Ich war tot, doch siehe, ich lebe in alle Ewigkeit und ich habe die Schlüssel zum Tod und zur Unterwelt. (Offenbarung 1,12-18)
Im ersten Kapitel der Offenbarung schreibt Johannes, der „um des Wortes Gottes willen und des Zeugnisses für Jesus“ (1,9) auf der Insel Patmos war, wie ihm Jesus erschienen ist. Die einzelnen Züge dieser Erscheinung beinhalten Anklänge an Stellen aus dem Alten Testaments und sind auch Aussagen über das Wesen des Menschensohns.
„Einer gleich einem Menschensohn“ (1,13) erinnert an Daniel 7,13-14:
13 Immer noch hatte ich die nächtlichen Visionen: Da kam mit den Wolken des Himmels einer wie ein Menschensohn. Er gelangte bis zu dem Hochbetagten und wurde vor ihn geführt. 14 Ihm wurden Herrschaft, Würde und Königtum gegeben. Alle Völker, Nationen und Sprachen dienten ihm. Seine Herrschaft ist eine ewige, unvergängliche Herrschaft. Sein Reich geht niemals unter.
Der Menschensohn kam mit den Wolken des Himmels zu Gott. Doch wurde auch ihm von den Völkern, Nationen und Sprachen die Ehre gegeben, die nur Gott gebührt. Mehr dazu in diesem Beitrag. Auch Jesus hat von sich selbst immer wieder als dem Menschensohn gesprochen, einerseits als dem leidenden Menschensohn, wie etwa in Matthäus 17,22-23:
22 Als sie in Galiläa zusammen waren, sagte Jesus zu ihnen: Der Menschensohn wird in die Hände von Menschen ausgeliefert werden 23 und sie werden ihn töten; aber am dritten Tag wird er auferweckt werden. Da wurden sie sehr traurig.
Andererseits als dem verherrlichten Menschensohn, der die Welt richten wird, wie in Matthäus 25,31:
Wenn der Menschensohn in seiner Herrlichkeit kommt und alle Engel mit ihm, dann wird er sich auf den Thron seiner Herrlichkeit setzen.
In Offenbarung 1,13 geht es offenbar um den Menschensohn in seiner Herrlichkeit, der tot war, aber nun für alle Ewigkeit lebt (Vers 18).
Das lange Kleid, das bis zu den Füßen reicht, ist vermutlich als priesterliches Kleid zu deuten, der goldene Gürtel um die Brust als Hinweis auf das Königtum des Messias. Es gibt zu diesen Details aber keine direkten alttestamentlichen Vergleichsstellen, aber eine gewisse Ähnlichkeit mit der geheimnisvollen Erscheinung aus Daniel 10,5, vielleicht dem Menschensohn:
Ich blickte auf und schaute. Und siehe, da war ein Mann, der in Leinen gekleidet war und seine Hüfte war mit einem Gürtel aus feinstem Gold gegürtet.
Doch war hier der Gürtel um die Hüfte und nicht um die Brust.
Die Haare, weiß wie weiße Wolle in 1,14, erinnern wieder an Daniel 7, aber nicht an den Menschensohn, sondern an den „Hochbetagten“, an den ewigen Gott:
Ich sah immer noch hin; da wurden Throne aufgestellt und ein Hochbetagter nahm Platz. Sein Gewand war weiß wie Schnee, sein Haar wie reine Wolle. Feuerflammen waren sein Thron und dessen Räder waren loderndes Feuer. (Daniel 7,9)
In Daniel ist das natürlich keine Beschreibung des unsichtbaren Gottes. Wir haben es mit einer Symbolsprache zu tun. Wenn wir eines dieser Symbole im Neuen Testament bei der Erscheinung des Menschensohns finden, deutet das auf seine göttliche Natur hin.
Die Augen wie Feuerflammen haben ihre Parallele in Daniel 10,6a:
Sein Körper glich einem Chrysolith, sein Gesicht leuchtete wie ein Blitz und die Augen waren wie brennende Fackeln.
Seine Augen durchdringen alles. Nichts ist vor ihm verborgen.
[…] vor ihm bleibt kein Geschöpf verborgen, sondern alles liegt nackt und bloß vor den Augen dessen, dem wir Rechenschaft schulden. (Hebräer 4,13)
Andreas von Caesarea1 hat die Augen etwas anders gedeutet:
Seine Augen sind wie flammendes Feuer: Die Heiligen erleuchten sie, die Verworfenen verbrennen sie.
Die wie Golderz glänzenden Beine (1,15) weisen vermutlich auch auf Daniel 10,6 hin:
Seine Arme und Beine glänzten wie polierte Bronze. (Daniel 10,6b)
Das mit „Golderz“ übersetzte Wort χαλκολίβανον / chalkolíbanon ist schwer zu deuten, da es erstmals in der Offenbarung vorkommt. Nach dem Wörterbuch von Bauer handelt es sich um den Namen eines Metalls oder einer Metallmischung, der nicht sicher zu deuten ist. Da die Bronze in Daniel auf Griechisch χαλκός / chalkós heißt, ist ein Bezug zu dieser Stelle naheliegend. Wenn dieses Erz im Schmelzofen glüht, drückt das vielleicht seine unnahbare Majestät aus. Der Schmelzofen ist manchmal ein Bild für die Reinigung (Jesaja 48,10), aber auch für das ewige Gericht (Matthäus 13,42). Doch scheint diese Deutung auf die Beine in Offenbarung 1 nicht so gut zu passen.
Die Stimme wie das Rauschen von Wassermassen erinnert auch an Daniel 10.6.
Seine Worte waren wie das Getöse einer großen Menschenmenge. (Daniel 10,6c)
Allerdings ist hier die Lautstärke durch einen anderen Vergleich ausgedrückt. Eine wörtliche Übereinstimmung gibt es mit Ezechiel 1,24:
Ich hörte das Rauschen ihrer Flügel; es war wie das Rauschen gewaltiger Wassermassen, wie die Stimme des Allmächtigen, wenn sie gingen; es war ein tosendes Rauschen gleich dem Lärm eines Heerlagers. Wenn sie standen, ließen sie ihre Flügel herabhängen.
Hier geht es um das Rauschen der Flügel der „lebenden Wesen“ am Thronwagen Gottes. Dieses Rauschen wird bei Ezechiel aber auch mit der Stimme des Allmächtigen verglichen. Wenn der Menschensohn in Offenbarung 1 mit dieser Stimme spricht, weist das auf seine Größe und Göttlichkeit hin.
Die sieben Sterne in seiner Rechten in 1,16 bedeuten nach 1,20 die Engel der sieben Gemeinden und somit indirekt auch die Gemeinden, die er in seiner Hand hält. Diese Engel sind jedoch ein eigenes Thema.
Das scharfe zweischneidige Schwert aus seinem Mund erinnert an Hebräer 4,12:
Denn lebendig ist das Wort Gottes, wirksam und schärfer als jedes zweischneidige Schwert; es dringt durch bis zur Scheidung von Seele und Geist, von Gelenken und Mark; es richtet über die Regungen und Gedanken des Herzens.
Allerdings steht dort ein anderes Wort für „Schwert“. Dasselbe Wort wie in Hebräer 4,12 steht auch in der griechischen Version von Jesaja 49,2, wo der Gottesknecht sagt:
Er machte meinen Mund wie ein scharfes Schwert, er verbarg mich im Schatten seiner Hand. Er machte mich zu einem spitzen Pfeil und steckte mich in seinen Köcher.
Das Schwert aus seinem Mund sind seine Worte, mit denen er den Kampf Gottes führt. Auch Paulus hat Gottes Wort mit dem Schwert verglichen:
Und nehmt den Helm des Heils und das Schwert des Geistes, das ist das Wort Gottes! (Epheser 6,17)
In Offenbarung 19,15.21 ist das Schwert aus seinem Munde das Werkzeug des Gerichts über die Feinde Gottes. Wer sich vom Wort Gottes nicht korrigieren lässt, für den wird es zum richtenden und strafenden Schwert (vergleiche 2,16). Jesus, der selber das Wort Gottes ist (vergleiche 19,13), verkündet Gottes Wort mit größter Klarheit und Reinheit.
Der Vergleich mit der machtvoll strahlenden Sonne gilt in Richter 5,31 allen, die Gott lieben:
So gehen all deine Feinde zugrunde, HERR. Doch die, die ihn lieben, sind wie die Sonne, wenn sie aufgeht in ihrer Kraft.
Doch während die Gläubigen aufgrund ihrer Liebe zu Gott, der die Quelle alles Lichtes ist, wie die Sonne aufleuchten werden, so ist das Leuchten Jesu aufgrund seines eigenen göttlichen Wesens. Er ist das wahre Licht der Welt (Johannes 8,12).
Als Johannes wie Daniel (10,8-9) angesichts der überwältigenden Erscheinung des Herrn „wie tot“ vor seinen Füßen zu Boden fiel, erfuhr er seine tröstende Nähe (1,17). „Fürchte dich nicht!“ waren seine Worte. Jesus hat sich ganz anders verhalten als der „Engel“, der gegen Mohammed gewalttätig wurde (Sahīh al-Buchārī 3). Jesus ist Johannes in seiner majestätischen Pracht erschienen. Aber Johannes sollte dadurch nicht vergehen, sondern gestärkt werden.
Jesus ist der Erste und der Letzte. Damit hat er mit Bezug auf Jesaja 44,6 klar seine Gottheit bezeugt.
So spricht der HERR, Israels König, sein Erlöser, der HERR der Heerscharen: Ich bin der Erste, ich bin der Letzte, außer mir gibt es keinen Gott.
Zugleich hat er in Vers 18 auf seinen Tod und seine Auferstehung hingewiesen und dadurch sein Menschsein, das in Ewigkeit bleibt, ausgedrückt.
Jesus hat den Tod überwunden. Er ist der Herr über den Tod. Alle, die sich ihm anvertrauen, haben Teil an dem ewigen Leben, das er ihnen schenkt.
25 Jesus sagte zu ihr: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt, 26 und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben. Glaubst du das? (Johannes 11,25-26)
- Heiliger Andreas von Caesarea, Kommentar zur Apokalypse des Johannes, Wachtendonk 2014, S.19. ↩