9 Ich sah immer noch hin; da wurden Throne aufgestellt und ein Hochbetagter nahm Platz. Sein Gewand war weiß wie Schnee, sein Haar wie reine Wolle. Feuerflammen waren sein Thron und dessen Räder waren loderndes Feuer. 10 Ein Strom von Feuer ging von ihm aus. Tausendmal Tausende dienten ihm, zehntausendmal Zehntausende standen vor ihm. Das Gericht nahm Platz und es wurden Bücher aufgeschlagen. […] 13 Immer noch hatte ich die nächtlichen Visionen: Da kam mit den Wolken des Himmels einer wie ein Menschensohn. Er gelangte bis zu dem Hochbetagten und wurde vor ihn geführt. 14 Ihm wurden Herrschaft, Würde und Königtum gegeben. Alle Völker, Nationen und Sprachen dienten ihm. Seine Herrschaft ist eine ewige, unvergängliche Herrschaft. Sein Reich geht niemals unter. (Daniel 7,9-10.13-14)
Gott hat sein dreieiniges Wesen erst durch die Menschwerdung des ewigen Wortes Gottes offenbart. Wir können daher nicht erwarten, diese zentrale christliche Lehre in den Schriften des Alten Bundes zu finden. Gott hat aber die Fülle seiner in Jesus geschehenen Offenbarung vorbereitet. So gewinnen manche Texte des Alten Testaments ihren vollen Sinn erst in Jesus Christus.
Die eingangs zitierten Verse aus Daniel bilden das Zentrum einer Vision, in der aufeinander folgende Weltreiche durch verschiedene Tiere dargestellt werden. Diese „bestialischen“ Reiche werden durch das Reich Gottes abgelöst. Dieses Reich wird durch „einen wie ein Menschensohn“ versinnbildlicht. Im Gegensatz zu den „tierischen“ Reichen der Menschen ist das Reich Gottes „menschlich“ (im positiven Sinn).
Der Menschensohn ist aber mehr als nur ein Sinnbild für das „Reich der Heiligen des Höchsten“ (vergleiche die Verse 18, 22 und 27). Er tritt in den Versen 13 und 14 wie eine Einzelperson auf. Er empfängt Herrschaft, Würde und Königtum. Alle Völker dienen ihm.
Möglicherweise handelt es sich bei der Vision vom Menschensohn um einen älteren Text, der in der Makkabäerzeit aktualisiert und in die Vision von den durch Tieren symbolisierten Weltreichen integriert wurde. Doch ist die Entstehungsgeschichte dieses Textes und des Buches Daniel insgesamt eine vielfach und unterschiedlich diskutierte Frage, mit der ich mich hier nicht beschäftige. In der uns überlieferten Fassung hat der Menschensohn sowohl kollektive als individuelle Bedeutung. Er steht für das Reich Gottes und für den Heilsbringer, dem alle Herrschaft gegeben wird.
Wie bereitet diese Vision die Lehre der Dreieinigkeit vor?
Dass mit dem „Hochbetagten“ (wörtlich: Alten an Tagen) Gott gemeint ist, dürfte klar sein. Er sitzt auf dem Thron und tausendmal Tausende dienen ihm. Hier können wir auch erkennen, dass jedes Bild Grenzen hat. Gott ist nicht „hochbetagt“, da er der Zeit nicht unterworfen ist. Zeit gibt es nur in der Schöpfung. Der Schöpfer steht über der Zeit, ist daher weder alt noch jung. Er ist ewig. Aber genau dieses ewige Sein Gottes soll durch das Bild des „Hochbetagten“ ausgedrückt werden.
„Einer wie ein Menschensohn“ wird vom „Hochbetagten“ unterschieden. Er kam mit den Wolken des Himmels und wurde vor ihn geführt. Die Wolken stellen in der poetischen Sprache des Alten Testaments sonst das „Transportmittel“ Gottes dar, z. B. in Exodus 13,21; 34,5; Psalm 18,10; 104,3; Ezechiel 1,4. Das kann als ein Hinweis darauf verstanden werden, dass der Menschensohn göttlichen Wesens ist.
In Vers 14 empfängt er Ehre, die nur Gott gebührt. Im aramäischen1 Text steht für das Wort „dienen“ פְלַח / pelach, ein Wort, das im Bibelaramäischen nur für den Dienst an Gott (oder Göttern) verwendet wird. In der griechischen Übersetzung steht das Verb λατρεύω / latreúō, das ebenfalls Dienst an Gott meint.
Seine Herrschaft ist eine ewige Herrschaft. Auch das weist darauf hin, dass er mehr als ein Mensch ist. Es geht nicht um die zeitlich begrenzte Dauer eines irdischen Herrschers.
Jesus hat von sich selbst immer wieder als von dem Menschensohn gesprochen. Besonders wichtig ist die Situation in seinem Prozess vor dem Hohen Rat.
61 Er aber schwieg und gab keine Antwort. Da wandte sich der Hohepriester nochmals an ihn und fragte: Bist du der Christus, der Sohn des Hochgelobten? 62 Jesus sagte: Ich bin es. Und ihr werdet den Menschensohn zur Rechten der Macht sitzen und mit den Wolken des Himmels kommen sehen. 63 Da zerriss der Hohepriester sein Gewand und rief: Wozu brauchen wir noch Zeugen? 64 Ihr habt die Gotteslästerung gehört. Was ist eure Meinung? Und sie fällten einstimmig das Urteil: Er ist des Todes schuldig. (Markus 14,61-64)
Jesus verband in seiner Antwort in Vers 62 eine deutliche Anspielung auf Daniel 7,13 mit einem Hinweis auf den messianischen Psalm 110,1. Der Hohepriester und die mit ihm versammelten Ratsherren haben diese Worte Jesu als offensichtliche Gotteslästerung verstanden, die mit dem Tod geahndet werden musste. Das setzt voraus, dass auch die jüdischen Führer verstanden, dass Jesus sich hier in gewisser Weise Gott gleichgestellt hat, was in ihren Augen eine klare Lästerung des Allmächtigen darstellte.
Wir können also in Daniel 7,13-14 eine Vorbereitung auf die neutestamentliche Offenbarung der Gottheit des Messias sehen. Wie Jesus den Anspruch, Gott zu sein, in verschiedener Weise kundgetan hat, ist hier zusammengefasst.
Doch wie ist es mit dem Heiligen Geist? Hier ist die Situation nicht so deutlich wie beim Menschensohn.
Eine Andeutung könnte in Vers 10a gegeben sein:
Ein Strom von Feuer ging von ihm aus.
Eine neutestamentliche Entsprechung wäre in Johannes 15,26:
Wenn aber der Beistand kommt, den ich euch vom Vater aus senden werde, der Geist der Wahrheit, der vom Vater ausgeht, dann wird er Zeugnis für mich ablegen.
Die Parallele wäre im Verb „ausgehen“ (ἐκπορεύομαι / ekporeúomai). In Daniel ist es ein Strom von Feuer, in den Abschiedsreden Jesu der Heilige Geist, für den an anderen Stellen des Neuen Testaments das Feuer ein Bild ist (Matthäus 3,11; Apostelgeschichte 2,3-4).
Eine sachliche Parallele könnte Offenbarung 22,1 sein:
Und er zeigte mir einen Strom, das Wasser des Lebens, klar wie Kristall; er geht vom Thron Gottes und des Lammes aus.
Auch hier geht ein Strom vom Thron aus, in diesem Fall der Thron Gottes und des Lammes. Hier ist es aber ein Strom des Wassers des Lebens, das nach Johannes 7,38-39 ein Bild für den Heiligen Geist darstellt.
Bezüglich des Heiligen Geists ist der Text aus Daniel nicht so klar wie im Hinblick auf den Menschensohn. Aber es kann nicht ausgeschlossen werden, dass Daniel 7 auch bezüglich des Heiligen Geistes schon eine Vorbereitung der endgültigen Offenbarung des Wesens Gottes darstellt. Die Fülle der Offenbarung ist erst durch Jesus gekommen.
Er ist der Menschensohn, dessen Reich nie vergeht. Das Feuer des von Gott ausgehenden Geistes erneuert alle, die sich durch Jesus dem Vater nahen. Sie bilden das von ihm geheiligte Volk.
- Daniel 2,4b-7,28 ist auf Aramäisch geschrieben worden. ↩