Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen.
(Lukas 1,52)
Nachdem Maria durch den Erzengel Gabriel erfahren hatte, dass Gott sie dazu erwählt hatte, die Mutter des Erlösers zu werden, machte sie sich auf den Weg zu Elisabeth, die damals – ebenfalls durch ein Wunder Gottes – im fortgeschrittenen Alter mit Johannes dem Täufer schwanger war.
Nachdem Elisabeth Maria als „die Mutter meines Herrn“ (Lukas 1,43) begrüßt hatte, sprach Maria einen Lobpreis Gottes, der nach dem Anfangswort der lateinischen Übersetzung allgemein als „Magnificat“ bekannt ist (Lukas 1,46-55). In diesem Text fällt auf, dass der größere Teil des Gebets nicht in Zusammenhang mit der konkreten Situation zu stehen scheint. Nur in den Versen 47-49 geht es um Maria. Sie nennt Gott ihren Retter, der auf die Niedrigkeit seiner Magd geschaut hat und Großes an ihr getan hat. Darum werden alle Geschlechter sie seligpreisen. Doch dann geht es um das Erbarmen Gottes und darum, dass Gott gegen die Hochmütigen, die Mächtigen, die Reichen vorgeht. Er erhöht die Niedrigen und beschenkt die Hungrigen. Dadurch erfüllt er die den Vätern geschenkten Verheißungen.
Diese Worte passen insofern in den Zusammenhang, als sie die Hoffnung ausdrücken, die mit dem Kommen des Messias verbunden waren. Der Messias sollte Gerechtigkeit schaffen. Es sollte nicht mehr so sein, dass die Stolzen, die Reichen, die Mächtigen das Sagen haben. Diese Erwartung hat Maria mit ihren Worten ausgedrückt.
Doch als der Messias gekommen ist, hat er keinen Mächtigen vom Thron gestürzt. Weder der römische Kaiser noch dessen Statthalter verlor seine Position. Auch die ungerechten religiösen Führer des Judentums, die aus der reichen Oberschicht kamen, blieben an der Macht.
Daraus kann man zwar sehen, dass die Worte Marias tatsächlich die Erwartung vor dem Auftreten Jesu wiedergeben und dass nichts dafür spricht, dass Lukas dieses Gebet Maria nachträglich in den Mund gelegt hätte, wie es von Theologen behauptet wird (wobei ohnehin oft nicht angenommen wird, dass das Evangelium tatsächlich von Lukas geschrieben wurde). Aber die Frage bleibt, warum Maria diese Erwartung hatte, wenn sie sich doch nicht erfüllt hat.
Maria hat sicher das Gebet der Hanna in 1 Samuel 2,1-10 gekannt und mag in ihren Worten davon beeinflusst gewesen sein. Die damalige Messiaserwartung, die im Messias einen politischen Befreier sah, hat wohl auch einen gewissen Einfluss auf sie ausgeübt. Doch drücken ihre Worte mehr aus als nur eine menschliche Erwartung. Wenn Lukas diese Worte ins Evangelium aufgenommen hat, war er davon überzeugt, dass Maria sie unter der Führung des Heiligen Geistes gesprochen hat.
Die in der Einheitsübersetzung im Präsens formulierten Worte stehen im Griechischen in einer Vergangenheitsform, wie sie auch die Elberfelder Bibel wiedergibt.
Er hat Mächtige von Thronen hinabgestoßen und Niedrige erhöht. (Lukas 1,52)
Es gab in der Geschichte Israels immer wieder Situationen, in denen ungerechte Machthaber ihre Position verloren oder auch Geringe (wie z. B. David) erhoben wurden. Im Volk Israel wurde immer wieder die Erfahrung gemacht, dass Gott in die Geschichte eingegriffen hat. Man könnte die Vergangenheitsform so verstehen, dass Maria auf die Geschichte Israels zurückblickt. Andererseits drückt sie doch die Erwartung aus, dass Gott auch durch den Messias so handeln werde. Es gehört zu Gottes Wesen, dass er der Bosheit der Menschen Grenzen setzt.
Jesus hat vor Pilatus bezeugt, dass sein Reich nicht von dieser Welt ist.
Jesus antwortete: Mein Königtum ist nicht von dieser Welt. Wenn mein Königtum von dieser Welt wäre, würden meine Leute kämpfen, damit ich den Juden nicht ausgeliefert würde. Nun aber ist mein Königtum nicht von hier. (Johannes 18,36)
Dadurch hat er ausgedrückt, dass er nicht gekommen ist, um revolutionäre Umstürze in die Wege zu leiten.
Aber Jesus hat sich auch als der Richter der Welt offenbart. Er steht über allen Königen und Mächtigen. Sie werden sich alle für ihre Untaten vor ihm verantworten müssen. Der Tag wird kommen, an dem alle, die meinen, in ihrer Macht keine Grenzen zu kennen, vor ihm Rechenschaft ablegen müssen. Schon in dieser Welt wird sichtbar, dass keiner dem Tod entrinnen kann, auf den hin das Gericht folgt.
Jesus hat zugleich auch in der Gemeinschaft seiner Jünger ein Gegenmodell zur Welt grundgelegt, in dem es nicht um Macht und Herrschaft, sondern um gegenseitiges Dienen geht.
25 Da sagte Jesus zu ihnen: Die Könige herrschen über ihre Völker und die Vollmacht über sie haben, lassen sich Wohltäter nennen. 26 Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern der Größte unter euch soll werden wie der Jüngste und der Führende soll werden wie der Dienende. (Lukas 22,25-26)
In der Gemeinschaft der Jünger Jesu gibt es keine Throne und keine Herrscher. Die Niedrigen sind erhöht zur Würde der Gotteskindschaft. Hier eröffnet Jesus in seinen Jüngern einen Blick auf die Ewigkeit, in der alle Gott als ihren einzigen Herrn dienen und einander in Liebe zugetan sind.
Leider wurde im Lauf der Zeit auch die Gemeinde von irdischen Machtstrukturen gekapert. Es wurden Throne eingeführt. Auch wenn diejenigen, die auf den Thronen sitzen, sich „Diener der Diener Gottes“ nennen, betrachten sie sich doch als Herren. Ja, es gab eine Zeit, in denen die Fürsten ihnen die Füße küssen sollten. Doch auch diese Throne werden gestürzt werden, selbst wenn die, die darauf sitzen, sich anmaßen, im Namen Christi zu sprechen.
Gott baut aber weiterhin seine Gemeinde. Nicht dort, wo sich Mächtige auf Throne setzen, sondern dort, wo Niedrige im Glauben an den Herrn Jesus einander dienen. Sie bauen auf dem von Jesus gelegten Fundament, das die Pforten der Unterwelt nicht überwältigen werden.
Auch wenn jetzt in der Welt die Mächtigen auf ihren Thronen ihre Macht ausleben, wird Gott Gerechtigkeit schaffen. Die von Maria gesprochenen prophetischen Worte werden Wirklichkeit werden.
Nun gehört die Königsherrschaft über die Welt unserem Herrn und seinem Christus; und sie werden herrschen in alle Ewigkeit. (Offenbarung 11,15b)