29 Sofort nach den Tagen der großen Drangsal wird die Sonne verfinstert werden und der Mond wird nicht mehr scheinen; die Sterne werden vom Himmel fallen und die Kräfte des Himmels werden erschüttert werden. 30 Danach wird das Zeichen des Menschensohnes am Himmel erscheinen; dann werden alle Völker der Erde wehklagen und man wird den Menschensohn auf den Wolken des Himmels kommen sehen, mit großer Kraft und Herrlichkeit. 31 Er wird seine Engel unter lautem Posaunenschall aussenden und sie werden die von ihm Auserwählten aus allen vier Windrichtungen zusammenführen, von einem Ende des Himmels bis zum andern. (Matthäus 24,29-31)
In Matthäus 24 hat Jesus in erster Linie über das Strafgericht über Israel und die Stadt Jerusalem gesprochen, dessen sichtbarer Ausdruck die Zerstörung des Tempels war. Das war in gewisser Weise das Kommen des Menschensohns zum Gericht. Daran anschließend hat Jesus auch über sein Kommen am Ende der Zeiten gesprochen, wo er in Herrlichkeit kommen wird, um die Welt zu richten. So war das Gericht über Jerusalem ein Hinweis auf das Gericht über die ganze Menschheit am Ende.
Bei manchen Versen ist es nicht einfach, festzustellen, ob sie im Zusammenhang mit dem Gericht über Jerusalem oder mit der Wiederkunft Jesu am Ende der Zeit zu sehen sind. Ich werde im Folgenden mein Verständnis als Anregung zum Nachdenken darlegen.
Ich würde alles bis Vers 28 auf die Zerstörung Jerusalems beziehen. Wenn man Vers 27 für sich alleine betrachtet, würde sich ein Bezug auf das Kommen des Herrn am Ende nahelegen.
Denn wie der Blitz im Osten aufflammt und bis zum Westen hin leuchtet, so wird die Ankunft des Menschensohnes sein.
Immerhin ist hier von der Ankunft des Menschensohnes die Rede. Aber in Verbindung mit der unmittelbar vorhergehenden Warnung vor falschen Messiassen würde dieser Vers trotzdem gut auf die Zeit vor der Zerstörung Jerusalems passen. Dieses „Kommen“ des Herrn zum Gericht über Jerusalem war unübersehbar.
Vers 28 lautet korrekt wie in der Elberfelder Übersetzung:
Wo das Aas (eigentlich: der Leichnam) ist, da werden sich die Adler versammeln.
Das könnte nur ein weiterer Hinweis auf die Sichtbarkeit des Ereignisses sein, es könnte sich aber auch auf die römischen Heere mit ihren Legionsadlern beziehen, die sich um den geistlichen Leichnam Jerusalem versammelten.
Aber auch wenn man die Verse 27 und 28 auf das Kommen des Menschensohns am Ende der Zeit bezieht, ist klar, dass es in Vers 29 einen Rückbezug auf die in Vers 21 genannte große Drangsal gibt. Diese „große Drangsal“ wird eindeutig im Zusammenhang mit der Belagerung Jerusalems erwähnt.
Doch wie war das mit kosmischen Zeichen, die sofort nach den Tagen der großen Drangsal geschehen sollten? Haben sich im Jahre 70 die Sonne und der Mond verfinstert, sind die Sterne vom Himmel gefallen? Im Jahre 70 gab es im vorderen Orient keine Sonnenfinsternis, beim Mond gab es am 9. September 70, nicht lange nach der Zerstörung des Tempels, eine Halbschattenfinsternis. Dass Sterne vom Himmel fallen können, ist ohnehin nicht möglich. Es legt sich daher eine geistliche Deutung nahe. Wenn wir Sonne, Mond und Sterne als Sinnbilder für das Volk Israel betrachten (vergleiche dazu Genesis 37,9-10 und Daniel 8,101, dann bedeuten diese kosmischen Zeichen, dass das Volk Israel seine Stellung vor Gott – wenn auch nicht auf Dauer – verloren hat.
Die Sterne sind vom Himmel gefallen. Danach erscheint das „Zeichen des Menschensohnes“ am Himmel. Manche Kirchenväter haben gedacht, dass kurz vor der Wiederkunft des Herrn ein leuchtendes Kreuz am Himmel erscheinen werde. Doch könnte dieses Zeichen nicht die Gemeinde, das neue Israel, sein?
In Daniel 7,13ff hat der Menschensohn eine Doppelfunktion. Er symbolisiert das Reich Gottes, das den als Tiere dargestellten Weltreichen gegenübergestellt wird. Er tritt aber auch als eine Einzelperson auf. Der Messias ist das Reich Gottes in Person.
Jesus ist seiner Gemeinde nahe. Er ist ihr Haupt, sie ist sein Leib. Er ist in ihr gegenwärtig. So kann man die Gemeinde als das Zeichen des Menschensohns verstehen. Die Jünger sind das Licht der Welt (Matthäus 5,14), durch die das wahre Licht der Welt, Jesus Christus (Johannes 8,12) scheint.
Die Gemeinde gab es natürlich schon vor der Zerstörung Jerusalems. Sie hatte ihren Anfang bei der Ausgießung des Heiligen Geistes im Jahre 30. Doch durch das Gericht über Jerusalem wurde offenbar, dass der Weg Gottes nun die Gemeinde ist. Den Tempel gab es nicht mehr. Der neue Tempel ist die Gemeinde.
Dann werden „alle Völker der Erde“ wehklagen. Wörtlich übersetzt heißt es „alle Stämme des Landes / der Erde“. Für „Land“ oder „Erde“ gibt es sowohl im Griechischen als auch im Hebräischen ein Wort mit beiden Bedeutungen. Die „Stämme des Landes“ erinnern an eine Stelle aus dem Buch Sacharja.
10 Doch über das Haus David und über die Einwohner Jerusalems werde ich einen Geist des Mitleids und des flehentlichen Bittens ausgießen. Und sie werden auf mich blicken, auf ihn, den sie durchbohrt haben. Sie werden um ihn klagen, wie bei der Klage um den Einzigen; sie werden bitter um ihn weinen, wie man um den Erstgeborenen weint. 11 An jenem Tag wird die Klage in Jerusalem so groß sein wie die Klage um Hadad-Rimmon in der Ebene von Megiddo. 12 Das Land wird trauern, jede Sippe für sich: die Sippe des Hauses David für sich und ihre Frauen für sich; die Sippe des Hauses Natan für sich und ihre Frauen für sich; 13 die Sippe des Hauses Levi für sich und ihre Frauen für sich; die Sippe des Schimi für sich und ihre Frauen für sich; 14 alle übrig gebliebenen Sippen, jede Sippe für sich und ihre Frauen für sich. (Sacharja 12,10-13)
Die Klage um den Durchbohrten, der mit Gott gleichgesetzt wird („auf mich blicken“), ist ein Ausdruck der Umkehr. Gott hat „einen Geist des Mitleids und des flehentlichen Bittens“ ausgegossen. Sie erkennen das Unrecht, das sie dem Durchbohrten angetan haben. Die bittere Klage zeigt ihre Distanz dazu und ihre Hinwendung zu Gott. In Verbindung mit der Sacharjastelle spricht das Wehklagen der Stämme des Landes in Matthäus 24,30 über die Bekehrung Israels, von der Paulus in Römer 11,26 schreibt.
In Matthäus 24,30 sind das Erscheinen des Zeichens des Menschensohnes am Himmel und das Wehklagen der Stämme mit dem Wort „dann“ verbunden. Das heißt nach der hier vorgelegten Erklärung nicht, dass sich Israel sofort nach dem Sichtbarwerden der Gemeinde bekehren würde. Es wird nur eine Reihenfolge dargelegt. Zuerst kommt die Gemeinde, danach bekehrt sich Israel. Wie viel Zeit dazwischen liegt, kann niemand wissen. Jegliche Spekulation darüber ist sinnlos.
Die Bekehrung Israels ist eine Voraussetzung für das Kommen des Menschensohns. Doch kann nicht behauptet werden, dass Jesus sofort nach der Umkehr Israels kommen würde. Wir finden in der Bibel keinen Kalender der Endzeitereignisse. Wir sollen uns darüber nicht den Kopf zerbrechen. Da nach Vers 36 niemand jenen Tag und jene Stunde kennt, soll niemand denken, dass man es trotzdem wissen könne. Man kann aber wissen, dass Jesus vor der Bekehrung Israels nicht kommen wird.
Im letzten Teil von Vers 30 spricht Jesus dann über sein Kommen auf den Wolken des Himmels mit großer Kraft und Herrlichkeit. Die „Wolken“ sollen nicht das Wie des Kommens Jesu beschreiben, sondern die Autorität, mit der er kommen wird. Die Wolken stellen in der poetischen Sprache des Alten Testaments das „Transportmittel“ Gottes dar, z. B. in Exodus 13,21; 34,5; Psalm 18,10; 104,3; Ezechiel 1,4. Der Menschensohn, der auf den Wolken des Himmels kommt, ist göttlichen Wesens. Sein Kommen ist das Kommen Gottes.
Er wird durch seine Engel die Seinen zusammenführen, damit sie für alle Ewigkeit mit ihm in untrennbarer Gemeinschaft und ewigem Glück verbunden sein werden.
Wir sollten aber bedenken, dass die Wiederkunft Jesu nicht nur sein Kommen in Macht und Herrlichkeit am Ende der Geschichte sein wird, sondern dass jeder Mensch in seinem Tod subjektiv das Kommen des Herrn erfährt. Darum gilt die Mahnung aus Matthäus 24,44 nicht nur für die letzte Generation, sondern für alle:
Darum haltet auch ihr euch bereit! Denn der Menschensohn kommt zu einer Stunde, in der ihr es nicht erwartet.
- Ich habe im Beitrag über die große Drangsal etwas mehr dazu geschrieben. ↩