1 Wir haben ihn ja in der Nacht der Bestimmung hinabgesandt. 2 Und was läßt dich wissen, was die Nacht der Bestimmung ist? 3 Die Nacht der Bestimmung ist besser als tausend Monate. 4 Es kommen die Engel und der Geist in ihr mit der Erlaubnis ihres Herrn mit jeder Angelegenheit herab. 5 Frieden ist sie bis zum Anbruch der Morgendämmerung. (Sure 97)
In diesem Artikel geht es nicht um die aus apokrypher Tradition schöpfende koranische Darstellung der Geburt Jesu. Diese wird in einem eigenen Beitrag behandelt.
Im Jahre 2003 hat ein deutscher Islamwissenschaftler, der aus Sicherheitsgründen unter dem Pseudonym Christoph Luxenberg publiziert, in seinem Artikel „Weihnachten im Koran“ die Sure 97 ursprünglich in einen Zusammenhang mit der Feier der Geburt Jesu in christlich-syrischen bzw. christlich-arabischen Kreisen bezogen hat. Dieser Artikel ist unter dem ursprünglichen Link nicht mehr auffindbar, kann aber hier abgerufen werden. Wer seinen Argumentationsgang genauer kennenlernen möchte, sei auf seinen Artikel verwiesen.
Luxenberg schlägt aufgrund des syro-aramäischen Hintergrund folgende Übersetzung der Sure 97 vor:
1 Wir haben ihn (= den Jesusknaben) in der Nacht der Schicksalsbestimmung (des Geburtssterns) herabkommen lassen. 2 Was weißt du, was die Nacht der Schicksalsbestimmung ist? 3 Die Nacht (= die Nokturn) der Schicksalsbestimmung ist gnadenreicher als tausend Vigilien. 4 Die Engel, vom Geiste (begleitet), bringen darin mit Erlaubnis ihres Herrn allerlei Hymnen herab. 5. Friede ist sie bis zum Anbruch der Morgendämmerung.
Die islamische Tradition bezieht diese Sure auf die Herabsendung des Korans in der „Nacht der Bestimmung“ gegen Ende des Fastenmonats Ramadan.
Nach Luxenberg kann Sure 97
[…] als Einleitung zu einer Weihnachtsliturgie der christlichen Araber gedient haben.
Im koranischen Text steht nicht, wer oder was hinabgesandt wurde. Sowohl nach Luxenberg als auch nach dem traditionellen islamischen Verständnis geht es um das Wort Gottes. Wurde das Wort Gottes als der Mensch Jesus Christus auf die Erde gesandt oder als ein Buch? Inkarnation oder Inlibration?
Luxenberg sieht in der „Bestimmung“ mit Rückgriff auf das Syro-Aramäische einen Zusammenhang mit dem Geburtsstern, der Schicksalsbestimmung bei der Geburt. Das würde besser auf die Geburt Jesu passen, wo in Matthäus 2,2 von „seinem Stern“ die Rede ist. Man wird aber nicht sagen können, dass das Schicksal Jesu bei seiner Geburt bestimmt wurde oder dass überhaupt das Schicksal eines Menschen von irgendeinem Stern bei seiner Geburt abhängig sei. Erfreulicherweise sind sich Christen und Muslime in der Ablehnung der Astrologie einig. Aber vielleicht muss dieses Wort nicht in diesem abergläubischen Kontext verstanden werden.
Das mit „herabkommen“ übersetzte Verb sieht Luxenberg im Zusammenhang mit der Bedeutung „Herabkunft, Niederkunft (im Sinne von Geburt)“. Mit der „Nacht“ sei ihm zufolge das nächtliche Gebet (in der römischen Tradition Nokturn genannt) gemeint. Die „Nacht der Bestimmung“ sei daher die weihnachtliche Liturgie, die Christmette. Diese weihnachtliche Liturgie sei viel besser als tausend „Vigilien“. Das sonst mit „Monat“ übersetzte Wort versteht Luxenberg vor dem syro-aramäischen Hintergrund als einen Fachausdruck der christlich-syrischen Liturgie, als Vigilie, die Nachtwache vor hohen Feiertagen.
Die in Vers 4 genannten „Angelegenheiten“ versteht Luxenberg als Hymnen, was auf den Lobgesang der Engel in Lukas 2,13-14 anspiele.
13 Und plötzlich war bei dem Engel ein großes himmlisches Heer, das Gott lobte und sprach: 14 Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden den Menschen seines Wohlgefallens.
Luxenberg schreibt dazu:
Dieser Gesang der Engel bildet auch seit je das Leitmotiv der syrischen Weihnachtsvigilien, die sich mit „allerlei Hymnen“ wesentlich länger als sonstige Vigilien hinstrecken. Zugleich wird mit der Morgendämmerung auf den christlich-syrischen Brauch hingewiesen, wonach die Eucharistiefeier (die Christmesse) im Anschluß an die (besonders langen) Vigilien erst am frühen Morgen stattfand (und vielfach noch stattfindet). Daher lautet das Hauptthema der Weihnachtsvigilien: „Friede (auf Erden) bis zum frühen Morgen“.
Luxenberg bringt noch zusätzliche Argumente aus der islamischen Überlieferung, die seine Erklärung zu bestätigen scheinen. Diese Argumente können in seinem Artikel nachgelesen werden.
Ein wichtiger Punkt zum Verständnis dieser Sure scheint mir zu sein, dass der Koran nach islamischer Überlieferung nicht in einer einzigen Nacht „herabgesandt“ wurde, sondern während einer Zeit von über zwanzig Jahren, was man von der Geburt Jesu nicht sagen kann.
Luxenberg schreibt dazu:
Wie schwer sich jedoch die islamische Tradition tut, diese Umdeutung zu begründen, geht aus dem großen Korankommentar von at-Tabari (9./10. Jahrhundert) hervor. Die dort aufgeführten Traditionsaussagen lassen sich wie folgt zusammenfassen:
a) Der Koran ist in dieser Nacht auf einmal in den unteren Himmel herabgekommen.
b) Je nach Bestimmung sandte Gott etwas davon auf die Erde herab, bis der Koran vollendet wurde.
c) Zwischen Anfang und Ende der Koranoffenbarung bestanden zwanzig Jahre.
d) Der Anfang des Koran ist erst in dieser Nacht herabgekommen.
Mir erscheint daher Luxenbergs Erklärung plausibel.
Falls er recht hat, ergeben sich daraus Konsequenzen im Hinblick auf das syrische / arabische Christentum des 7. Jahrhunderts und im Hinblick auf den Islam.
Im Hinblick auf das Christentum zeigt sich ein großer Abstand zum Urchristentum und den apostolischen Überlieferungen. Die frühen Christen kannten keine derartigen liturgischen Feiern. Es gab keine besonderen Feiertage, darum auch keine Weihnachtsfeiern. Paulus schrieb an die Galater, die im Begriff waren, sich an den jüdischen Festkalender zu halten:
9 Wie aber könnt ihr jetzt, da ihr Gott erkannt habt, mehr noch von Gott erkannt worden seid, wieder zu den schwachen und armseligen Elementarmächten zurückkehren? Warum wollt ihr von Neuem ihre Sklaven werden? 10 Warum achtet ihr so ängstlich auf Tage, Monate, bestimmte Zeiten und Jahre? 11 Ich fürchte, ich habe mich vergeblich um euch bemüht. (Galater 4,9)
Christen geht es nicht um das Einhalten bestimmter Tage, Monate, Zeiten und Jahre. Die Freude an Gott und der Dienst an ihm sind tägliche Wirklichkeit.
Es stimmt, dass die Menschwerdung des ewigen Wortes Gottes ein derartig großes und direktes Eingreifen Gottes in unsere Welt ist, dass man Gott dafür die ganze Nacht loben könnte. Doch besteht das Lob nicht darin, dass man bestimmte Tage dafür reserviert. Gott wird durch das Halten seiner Gebote in einem Leben voller Dankbarkeit gepriesen.
Der Ausdruck „Schicksalsbestimmung bei der Geburt“ ist falsch. Um genauer zu wissen, wie das im syrischen Christentum des 7. Jahrhunderts verstanden wurde, müsste man mehr darüber wissen. Ich würde aber nicht annehmen, dass eine Offenheit für Astrologie bestand.
Im Hinblick auf den Islam bedeutet Luxenbergs Verständnis, dass der Koran ein geschichtliches Dokument ist, das auf verschiedenste Quellen seiner Zeit aufbaut, dass es einen christlichen Hintergrund gibt, der seine Spuren hinterlassen hat. Keinesfalls kann der Koran das ewig unveränderliche Wort Gottes sein, bei dem sich keine menschliche Zutat findet. Ein christlicher Text, der von der Menschwerdung des Wortes Gottes spricht, wurde auf den Koran umgedeutet.
Gottes vollkommenes Wort ist in einem vollkommenen Menschen zu uns gekommen, nicht in einem unvollkommenen Buch.
Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt und wir haben seine Herrlichkeit geschaut, die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit. (Johannes 1,14)