Die Liebe vergeht niemals; seien es aber Weissagungen, sie werden weggetan werden; seien es Sprachen, sie werden aufhören; sei es Erkenntnis, sie wird weggetan werden. (1 Korinther 13,8 – Elberfelder)
Als 50 Tage nach der Auferstehung Jesu der Heilige Geist auf die in Jerusalem versammelte Schar der Jünger ausgegossen wurde, fingen die Jünger an, „in anderen Sprachen zu reden“. Meines Erachtens handelte es sich um die Gabe der Zungenrede oder Glossolalie. Ich habe mein Verständnis in einem eigenen Beitrag dargelegt.
Die Zungenrede ist auch im 1. Korintherbrief ein Hauptthema, weil diese Geistesgabe für viele in Korinth eine besondere Bedeutung hatte. Paulus schreibt in den Kapiteln 12-14 über die Geistesgaben, insbesondere über die Zungenrede und die prophetische Rede (Weissagung). Im 13. Kapitel schreibt er über die Liebe als den Weg, der weit über die Geistesgaben hinausführt (1 Korinther 12,31).
In 13,8 stellt Paulus fest, dass die Liebe, anders als die Geistesgaben, niemals aufhören wird. Wann hören die Geistesgaben und insbesondere die Zungenrede auf?
In pfingstlerischen und charismatischen Gruppierungen verschiedenster Schattierungen wird die Zungenrede auch heute praktiziert. Manche Richtungen sehen in ihr eine Bestätigung dafür, dass der Betreffende mit dem Heiligen Geist getauft wurde. Dazu ist anzumerken, dass es keineswegs sicher ist, dass das, was in diesen Gruppen als „Zungenrede“ praktiziert wird, dem entspricht, was der Heilige Geist bei den ersten Christen gewirkt hat. Dieses Phänomen wird in der Bibel nicht so genau beschrieben. Manche Aspekte, wie etwa die im Gegensatz zu 1 Korinther 14,28 öfters fehlende Auslegung, sind sicher unbiblisch.
Andere Gruppen, vor allem die sogenannte „Gemeinde Christi“, denken, dass diese Geistesgaben nur bis zum Abschluss des Neuen Testaments gegeben wurden. Sie berufen sich auf die Verse 13,9-10:
9 Denn Stückwerk ist unser Erkennen, Stückwerk unser prophetisches Reden; 10 wenn aber das Vollendete kommt, vergeht alles Stückwerk.
Das Neue Testament sei das Vollkommene, durch welches alles Stückwerk hinweggetan worden sei.
Das würde aber bedeuten, dass es nach der Fertigstellung des Neuen Testaments nicht nur keine Zungenrede, sondern auch keine prophetische Rede und keine Erkenntnis mehr gäbe. Prophetische Rede meint nicht spektakuläre Ankündigungen von zukünftigen Ereignissen, sondern Führung durch den Heiligen Geist, die die Gemeinde auch nach dem Abschluss der Schriften des Neuen Testaments braucht (vergleiche 1 Korinther 14,3). Nach den Worten Jesu in Johannes 14,16 wird der Heilige Geist für immer bei seinen Jüngern bleiben.
Also haben doch die Pfingstgruppen recht, und die Zungenrede gibt es auch heute noch?
In 1 Korinther 13,8 verwendet Paulus unterschiedliche Verben, wenn es um das Ende der Geistesgaben gibt. Dieser Unterschied wird nicht aus allen Übersetzungen ersichtlich. Darum habe ich eingangs nicht die Einheitsübersetzung, sondern die Elberfelder Bibel zitiert, die näher am griechischen Text ist.
In Bezug auf das prophetische Reden und die Erkenntnis heißt es, dass sie „weggetan werden“. Auch in Vers 10, wo das, was stückweise ist, weggetan wird, steht dasselbe Verb, ebenso in Vers 11, wo Paulus, als er ein Mann wurde, alles weggetan hat, was kindlich war. Das griechische Verb lautet: καταργέω / katargéō. Dieses Verb kann „vernichten, vertilgen, beseitigen“ bedeuten. Im konkreten Zusammenhang von 1 Korinther 13 geht es darum, dass etwas beseitigt wird, weil das Vollkommene kommt.
Dazu passt 1 Korinther 13,12:
Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt ist mein Erkennen Stückwerk, dann aber werde ich durch und durch erkennen, so wie ich auch durch und durch erkannt worden bin.
In der Vollendung bei Gott, beim Schauen von Angesicht zu Angesicht, wird die unvollkommene Erkenntnis, die wir in dieser Welt haben, vergehen. Die Vollkommenheit der Beziehung zu Gott löst das Stückwerk ab. Ebenso wird es in der Ewigkeit keine prophetische Rede geben, weil Gottes Kinder mit der Fülle ihres Vaters beschenkt werden.
Im Zusammenhang mit der Zungenrede, von der nur in Vers 8, nicht aber in Vers 9 und danach die Rede ist, verwendet Paulus das Wort παύω / paúō. Es bedeutet „aufhören“. Die mögliche Bedeutung „Pause machen, unterbrechen“ habe ich im Neuen Testament nicht gefunden. Bei der Zungenrede wird nicht gesagt, dass sie vom Vollkommenen abgelöst wird. Sie wird aufhören. Paulus schreibt in diesem Zusammenhang nicht, wann und unter welchen Umständen das sein würde. Aber seine Worte deuten an, dass die Zungenrede nicht für immer bis zum zweiten Kommen des Herrn bleiben würde.
Es ist offensichtlich, dass diese Gabe im Laufe der Geschichte aufgehört hat, möglicherweise mit dem Ende der Zeit der Apostel. Es gibt allerdings vereinzelt Hinweise bis ins vierte Jahrhundert auf die Existenz des Sprechens in Sprachen. Laut Johannes Chrysostomus, Homilien über den ersten Brief an die Korinther, 29, der diese Gabe als Reden in fremden Sprachen verstand, gab es sie zu seiner Zeit (um 400) nicht mehr. Allerdings hatte sich die Kirche damals in mancher Hinsicht schon von den urchristlichen Grundsätzen entfernt.
Da das heutige Phänomen der Zungenrede in Gruppierungen mit völlig unterschiedlichen Lehren (katholischen Charismatikern, protestantischen trinitarischen und modalistischen Pfingstlern, auch Mormonen) vorkommt, ist es unmöglich, dass dieses Phänomen vom Heiligen Geist kommt, da dadurch der Heilige Geist unterschiedliche und einander widersprechende Lehren bestätigen würde. Der Heilige Geist leitet nach Johannes 16,13 in die ganze Wahrheit und bestätigt daher keine falschen Lehren.
Auch wenn die Zungenrede aufgehört hat, wirkt der Heilige Geist auch heute in allen, die ihm gehorchen.
22 Die Frucht des Geistes aber ist Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, 23 Sanftmut und Enthaltsamkeit; gegen all das ist das Gesetz nicht. (Galater 5,22-23)