Dem Volk Israel wurden nach dem Auszug aus Ägypten die Zehn Gebote Gottes verkündet. Im Alten Testament finden wir diese Gebote an zwei Stellen in etwas unterschiedlichen Versionen überliefert: Exodus 20,1-17 und Deuteronomium 5,6-21.
Im katholischen Bereich wurden diese Texte in Kurzfassungen zusammengefasst, wie z. B. hier:
1. Du sollst keine anderen Götter neben mir haben.
2. Du sollst den Namen Gottes nicht verunehren.
3. Du sollst den Tag des Herrn heiligen.
4. Du sollst Vater und Mutter ehren.
5. Du sollst nicht töten.
6. Du sollst nicht ehebrechen.
7. Du sollst nicht stehlen.
8. Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen.
9. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Frau.
10. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Gut.
Beim ersten Gebot gibt es aber unterschiedliche Varianten. Ich habe aus meinem katholischen Religionsunterricht folgende Version in Erinnerung: Du sollst an einen Gott glauben.
Auf der Website der Erzdiözese Wien gibt es die Variante: Du sollst den Herrn, deinen Gott, anbeten und ihm dienen. (Auf dem dazugehörigen Bild lautet der Text, so wie ich es in der Schule gelernt habe: Du solt gelauben an ainen got.)
Alle Kurzfassungen sind beträchtlich kürzer als die biblischen Texte:
3 Du sollst neben mir keine anderen Götter haben.
4 Du sollst dir kein Kultbild machen und keine Gestalt von irgendetwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde. 5 Du sollst dich nicht vor ihnen niederwerfen und ihnen nicht dienen. Denn ich bin der HERR, dein Gott, ein eifersüchtiger Gott: Ich suche die Schuld der Väter an den Kindern heim, an der dritten und vierten Generation, bei denen, die mich hassen; 6 doch ich erweise Tausenden meine Huld bei denen, die mich lieben und meine Gebote bewahren. (Exodus 20,3-6)
7 Du sollst neben mir keine anderen Götter haben.
8 Du sollst dir kein Kultbild machen, keine Gestalt von irgendetwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde. 9 Du sollst dich nicht vor ihnen niederwerfen und ihnen nicht dienen. Denn ich bin der HERR, dein Gott, ein eifersüchtiger Gott: Ich suche die Schuld der Väter an den Kindern heim, an der dritten und vierten Generation, bei denen, die mich hassen; 10 doch ich erweise Tausenden meine Huld bei denen, die mich lieben und meine Gebote bewahren. (Deuteronomium 5,7-10)
Das Gebot, sich kein Bild zu machen, um es zu verehren, kommt in keiner der Kurzfassungen vor. Das Gebot, keine anderen Götter zu haben und das Bilderverbot stehen in einem gewissen Zusammenhang. Beide Gebote werden auch von den Juden als ein Gebot aufgefasst. Ob die Juden auch eine Kurzfassung kennen, aus der das Bilderverbot verschwunden ist, ist mir nicht bekannt. Das Bilderverbot wird allerdings in der jüdischen Praxis eingehalten. In der jüdischen Tradition wird der Einleitungsvers, in dem Gott sich vorstellt als das erste der Zehn Worte verstanden.
Ich bin der HERR, dein Gott, der dich aus dem Land Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus. (Exodus 20,2 // Deuteronomium 5,7)
Dieser Vers ist kein Gebot, sondern eine Aussage über Gott. Das entspricht der Redeweise von den „Zehn Worten“ (nicht: Geboten) in Exodus 34,28.
Durch die katholische Kurzversion wird das Bilderverbot zwar nicht geleugnet, aber unsichtbar gemacht.
Seit dem 2. Konzil von Nicäa (787) wurde die Verehrung von Bildern erlaubt und gewünscht. Diese Bestimmung wurde am Konzil von Trient in der 25. Sitzung 1563 erneuert.1
Ferner soll man Bilder Christi, der jungfräulichen Gottesmutter und der anderen Heiligen vor allem in den Kirchen haben und beibehalten. Man soll ihnen die schuldige Ehrfurcht und Verehrung erweisen, nicht etwa, als ob man glaube, es wohne ihnen etwas Göttliches oder eine Kraft inne, weshalb man sie verehren müsse; oder als ob man sie um etwas bitten könne; oder als ob man seine Zuversicht auf Bilder setze, wie einst die Heiden, die ihre Hoffnung auf Götzenbilder setzten; sondern weil die ihnen erwiesene Ehrfurcht das Urbild meint, das sie darstellen. Wenn wir deshalb Bilder küssen, das Haupt vor ihnen entblößen, hinknien, so beten wir Christus an und verehren die Heiligen, die sie darstellen. So legen es ja schon die Bestimmungen der Kirchenversammlungen, besonders der zweiten nizänischen, gegen die Bilderstürmer fest. […]
Haben nicht auch die Heiden bei der Verehrung der Götzenbilder an die Götter gedacht, die sie darstellen?
In der Praxis wird bei Katholiken aber schon zwischen verschiedenen „Gnadenbildern“ unterschieden. Es gibt die „Magna Mater Austriae“, die in Mariazell verehrt wird. Deren Bild wird unterschieden von anderen Marienbildern, die in Tschenstochau oder in Fatima oder sonstwo verehrt werden. Die Bilder haben schon einen gewissen Eigenwert, abgesehen von der Frage, ob zu Heiligen überhaupt gebetet werden soll.
Das Verbot der Bilderverehrung betrifft nicht nur Bilder von Gott, sondern es heißt:
Du sollst dir kein Kultbild machen und keine Gestalt von irgendetwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde.
Das ist kein grundsätzliches Verbot von bildlichen Darstellungen, aber ein Verbot von Bildern, die man verehrt. Überdies ist völlig unbekannt, wie Jesus oder Maria ausgesehen haben.
Um auf die Zehnzahl zu kommen, wurde das letzte Gebot geteilt. Es mag sinnvoll sein, zwischen der Begierde nach der Frau und nach dem Gut des Nächsten zu unterscheiden. Nach dem Text von Deuteronomium 5,21 wäre das auch möglich:
[…] und nicht die Frau deines Nächsten begehren und du sollst nicht das Haus deines Nächsten verlangen, nicht sein Feld, seinen Sklaven oder seine Sklavin, sein Rind oder seinen Esel, nichts, was deinem Nächsten gehört.
Hier wird sogar für das Begehren nach der Frau ein anderes Verb verwendet als für das Verlangen nach dem Haus und alles andere, was dem Nächsten gehört.
Bei Exodus 21,17 geht diese Teilung aber nicht:
Du sollst nicht das Haus deines Nächsten begehren. Du sollst nicht die Frau deines Nächsten begehren, nicht seinen Sklaven oder seine Sklavin, sein Rind oder seinen Esel oder irgendetwas, das deinem Nächsten gehört.
Hier wird zuerst das Haus genannt und erst danach die Frau. Mit dem „Haus“ ist in diesem Fall nicht nur das Gebäude gemeint, sondern auch der Hausstand, der anschließend aufgezählt wird: die Frau, das Personal, die Tiere …
Die katholische Zählung wird verschiedentlich auf Augustinus zurückgeführt. Ich habe aber keine genaue Stellenangabe gefunden. Es wäre interessant zu lesen, wie er seine Zählweise begründet hat. Mit dem Text von Exodus 20 ist sie nicht vereinbar.
Grundsätzlich sollte eine unterschiedliche Zählweise kein Problem sein, vor allem dann nicht, wenn die Gebote mit dem vollen Text zitiert werden. In der Praxis wurde aber ein Gebot Gottes unsichtbar gemacht und so aus dem Bewusstsein der Katholiken, die durch viele Jahrhunderte von der Bibel ferngehalten wurden, gestrichen.
15 Nehmt euch um eures Lebens willen gut in Acht! Denn ihr habt keinerlei Gestalt gesehen an dem Tag, als der HERR am Horeb mitten aus dem Feuer zu euch sprach. 16 Lauft nicht in euer Verderben und macht euch kein Kultbild, das irgendetwas darstellt, keine Statue, kein Abbild eines männlichen oder weiblichen Wesens, 17 kein Abbild irgendeines Tiers, das auf der Erde lebt, kein Abbild irgendeines gefiederten Vogels, der am Himmel fliegt, 18 kein Abbild irgendeines Tiers, das am Boden kriecht, und kein Abbild irgendeines Meerestieres im Wasser unter der Erde! (Deuteronomium 4,15-18)
- Zitiert nach: Josef Neuner – Heinrich Roos, Der Glaube der Kirche in den Urkunden der Lehrverkündigung, 13. Auflage, Regensburg 1971, S.327, Nr.476. ↩