Jetzt ist meine Seele erschüttert. Was soll ich sagen: Vater, rette mich aus dieser Stunde? Aber deshalb bin ich in diese Stunde gekommen. (Johannes 12,27)
Nach muslimischer Überzeugung wurde Jesus von Gott vor seinem Tod gerettet, sodass er nicht am Kreuz sterben musste. Zur Auslegung von Sure 4,157-158, die als Begründung für diese Überzeugung herangezogen wird, gibt es einen eigenen Beitrag.
Das Wort aus Johannes 12, welches Jesus wenige Tage vor seinem Tod gesprochen hat, zeigt, dass Jesus von Gott erkannt hat, dass es nicht der Wille seines Vaters war, dem Tod am Kreuz auszuweichen. Dadurch hat Jesus durch seine eigenen Worte dieser islamischen Lehre von vornherein die Grundlage entzogen.
Lesen wir diese Stelle im Zusammenhang:
20 Unter den Pilgern, die beim Fest Gott anbeten wollten, gab es auch einige Griechen. 21 Diese traten an Philippus heran, der aus Betsaida in Galiläa stammte, und baten ihn: Herr, wir möchten Jesus sehen. 22 Philippus ging und sagte es Andreas; Andreas und Philippus gingen und sagten es Jesus. 23 Jesus aber antwortete ihnen: Die Stunde ist gekommen, dass der Menschensohn verherrlicht wird. 24 Amen, amen, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht. 25 Wer sein Leben liebt, verliert es; wer aber sein Leben in dieser Welt gering achtet, wird es bewahren bis ins ewige Leben. 26 Wenn einer mir dienen will, folge er mir nach; und wo ich bin, dort wird auch mein Diener sein. Wenn einer mir dient, wird der Vater ihn ehren. 27 Jetzt ist meine Seele erschüttert. Was soll ich sagen: Vater, rette mich aus dieser Stunde? Aber deshalb bin ich in diese Stunde gekommen. 28 Vater, verherrliche deinen Namen! Da kam eine Stimme vom Himmel: Ich habe ihn schon verherrlicht und werde ihn wieder verherrlichen. 29 Die Menge, die dabeistand und das hörte, sagte: Es hat gedonnert. Andere sagten: Ein Engel hat zu ihm geredet. 30 Jesus antwortete und sagte: Nicht mir galt diese Stimme, sondern euch. 31 Jetzt wird Gericht gehalten über diese Welt; jetzt wird der Herrscher dieser Welt hinausgeworfen werden. 32 Und ich, wenn ich über die Erde erhöht bin, werde alle zu mir ziehen. 33 Das sagte er, um anzudeuten, auf welche Weise er sterben werde. (Johannes 12,20-33)
Die Szene beginnt mit einigen Griechen, sogenannten „Gottesfürchtigen“, Menschen, die den jüdischen Glauben an den einen Gott als richtig erkannt haben, aber nicht beschnitten waren und daher auch nicht zur Einhaltung des jüdischen Ritualgesetzes verpflichtet waren. Jesus schien zuerst gar nicht auf diese Griechen einzugehen. Er sprach über seine Verherrlichung. Aber diese Verherrlichung bestand nicht in der Vermeidung des Todes.
Jesus erzählte ein Gleichnis über das Weizenkorn, das sterben muss, um Frucht zu bringen. Er wandte diesen Grundsatz nicht nur für sich selbst an. Er gilt auch für alle, die ihm folgen wollen. Das heißt nicht, dass jeder Christ den Märtyrertod sterben muss. Aber jeder Christ verliert sein eigenes Leben, stellt seine eigenen Wünsche, Pläne und Vorstellungen zurück, um den Willen Gottes zu tun und darin sein wahres Leben zu finden. Das bedeutet in einer Verfolgungszeit auch, dass er nicht an seinem irdischen Leben festhält, weil Gott ihm ein neues Leben in der Ewigkeit schenken wird. Er stirbt lieber, als seinen Herrn zu verleugnen. Nachfolge Jesu kann auch Nachfolge bis zum körperlichen Tod bedeuten. Gerade in dieser Hingabe gewinnt er die Ehre des Vaters.
Jesus ist diesen Weg vorangegangen. Auch für ihn war dieser Weg nicht leicht. Darum sagte er:
Jetzt ist meine Seele erschüttert.
Aber auch in dieser Erschütterung war für ihn klar, dass es nicht richtig sein kann, aus „dieser Stunde“, d. h. aus der „Stunde“ seines Leidens und Sterbens, gerettet werden zu wollen. Der Weg Gottes war die Hingabe bis in den Tod. Für Jesus war das Ziel nicht, seine eigene Haut zu retten, sondern den Namen seines Vaters zu verherrlichen. Diese Verherrlichung sollte durch Jesu Tod und Auferstehung geschehen.
Darum war die Bitte Jesu, dass sein Vater seinen Namen verherrlichen sollte. In dieser Situation gab es eine Antwort vom Himmel, die für die Anwesenden eine Hilfe sein sollte.
Danach kam Jesus auf eine weitere Dimension seines Todes zu sprechen: den Sieg über den Herrscher oder Fürsten dieser Welt, über den Widersacher Gottes, der hinausgeworfen werden sollte. Der Widersacher, der in seinem Stolz gegen Gott rebelliert hat, wird durch die Demut des Menschensohnes besiegt. Der Vater der Lüge, der Menschenmörder von Anfang an (Johannes 8,44), wird durch Jesus besiegt, der die Wahrheit (Johannes 14,6) und die Menschenfreundlichkeit Gottes (Titus 3,4) in Person ist.
In Vers 32 wies Jesus auf eine weitere Folge seines Erlösungswerkes hin:
Und ich, wenn ich über die Erde erhöht bin, werde alle zu mir ziehen.
Der Evangelist sah darin einen Hinweis auf die Art des Todes Jesu, auf die Erhöhung am Kreuz. Doch war das nur ein Aspekt dieser Aussage Jesu. Jesus hat dadurch gesagt, dass er durch seine Erhöhung alle Menschen zu sich ziehen würde. Das war auch eine Antwort an die Griechen. Sie, die jetzt noch vom Volk Gottes getrennt waren, würden durch den erhöhten Jesus herangezogen werden. Es geht da nicht nur um diese konkreten Griechen, sondern um alle Menschen. Jesus ruft und zieht alle Menschen zu sich. Freilich wird dadurch der freie Wille der Gezogenen nicht ausgeschaltet. Wer sich dem Rufen und Ziehen durch Jesus widersetzt, wird in der Ferne bleiben. Doch die liebevolle Hingabe Jesu am Kreuz gilt allen Menschen.
Jesus hat in diesen Worten von Johannes 12 verschiedene Aspekte seines Todes zusammengefasst. Das alles gäbe es nicht, wenn das islamische Narrativ von der Rettung Jesu vor dem Tod korrekt wäre.
Wir dürfen Gott danken für die große Liebe, die er uns durch die Hingabe seines Sohnes erwiesen hat. Muslime sollen bedenken, was ihnen durch die Leugnung des Todes und der Auferstehung Jesu genommen wird. Auch sie sollen sich dem Ziehen Jesu nicht entgegenstellen.
Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern ewiges Leben hat. (Johannes 3,16)