Warum schreibt nur Johannes über Lazarus?

Im Johannesevangelium ist die Auferweckung des Lazarus von großer Bedeutung. Der Evangelist schreibt umfangreich über die Umstände dieses Wunders (Johannes 11,1-44). Dabei geht es nicht nur um dieses große Wunder an und für sich. Dieses Kapitel ist auch theologisch wichtig, da Jesus im Gespräch mit Marta, der Schwester des Verstorbenen, seinen hohen Anspruch kundtut.

25 Jesus sagte zu ihr: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt, 26 und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben. Glaubst du das? (Johannes 11,25-26)

Sein Anspruch, dass er es ist, der das ewige Leben gibt, ist zugleich der Anspruch, dass er göttlichen Wesens ist. Wer sonst als Gott kann das geben?

Zusätzlich war dieses Wunder, das Jesus zu einer Zeit gewirkt hatte, als die Absicht der jüdischen Führer, ihn zu töten, schon sehr offensichtlich war, ein letzter Anstoß dazu, auch im Hohen Rat, der höchsten Ratsversammlung der Juden, einen Tötungsbeschluss zu fassen und öffentlich nach Jesus zu fahnden.

45 Viele der Juden, die zu Maria gekommen waren und gesehen hatten, was Jesus getan hatte, kamen zum Glauben an ihn. 46 Aber einige von ihnen gingen zu den Pharisäern und sagten ihnen, was er getan hatte. 47 Da beriefen die Hohepriester und die Pharisäer eine Versammlung des Hohen Rates ein. Sie sagten: Was sollen wir tun? Dieser Mensch tut viele Zeichen. (Johannes 11,45-47)

Von diesem Tag an waren sie entschlossen, ihn zu töten. (Johannes 11,53)

Die Hohepriester und die Pharisäer hatten nämlich angeordnet, wenn jemand wisse, wo er sich aufhält, solle er es melden, damit sie ihn festnehmen könnten. (Johannes 11,57)

Nach der Auferweckung des Lazarus, die in Betanien, einem etwa 2,8 km von Jerusalem entfernten Dorf (Johannes 11,18) geschah, zog sich Jesus in einen nahe der Wüste gelegenen Ort namens Efraim zurück (Johannes 11,54). Von dort kehrte er sechs Tage vor dem Paschafest, an dem er sterben sollte, wieder nach Betanien zurück (Johannes 12,1). Dort war bei einem Mahl, bei dem auch Lazarus anwesend war, und Marta, die Schwester von Lazarus Tischdienst leistete. Bei diesem Mahl wurde Jesus von Maria, der anderen Schwester von Lazarus gesalbt.

Als sich herumsprach, dass Jesus dort war, kamen viele Juden dorthin, um ihn und den von ihm erweckten Lazarus zu sehen. Das hatte zur Folge, dass auch die Tötung von Lazarus beschlossen wurde (Johannes 12,9-11).

Über all dieses berichtet nur Johannes. Warum schreiben die anderen Evangelisten nichts darüber? Zumindest nach der Darstellung von Johannes war die Auferweckung des Lazarus mit all ihren Folgen ein sehr entscheidendes Ereignis gegen Ende des Wirkens Jesu. Hat sich der Autor dieses Evangeliums, der möglicherweise zu einer Zeit schrieb, als keine Zeugen mehr am Leben waren, das alles nur ausgedacht?

Zur Frage der Autorschaft des vierten Evangeliums gibt es einen eigenen Artikel, der die Argumente, die für den Apostel Johannes als Schreiber dieses Evangeliums sprechen, zusammenfasst.

Die Salbung Jesu in Betanien wird auch von Matthäus (26,6-13) und Markus (14,3-9) erzählt. Doch sie erwähnen weder Lazarus noch den Namen der Frau, die Jesus gesalbt hat. Doch heißt es in diesen beiden Berichten übereinstimmend, dass Jesus im Hause eines „Simon des Aussätzigen“ war. Nach Levitikus 13,46 sollte ein Aussätziger sich von der Gesellschaft abgesondert aufhalten. Es war völlig undenkbar, dass ein Aussätziger ein Gastmahl geben konnte. Der Beiname dieses Simon konnte nicht bedeuten, dass er tatsächlich an dieser Krankheit litt. Möglicherweise war er früher aussätzig, und Jesus hatte ihn geheilt. Der Beiname ist ihm aber geblieben. Dann wäre dieses Gastmahl auch ein Ausdruck der Dankbarkeit Jesus gegenüber gewesen.

Eine andere Möglichkeit wäre, dass die Matthäus und Markus, die ihr Evangelium zu einer Zeit schrieben, als Lazarus noch lebte, ihn durch die Nennung seines Namens nicht gefährden wollten und über ihn unter dem Decknamen „Simon der Aussätzige“ schrieben. Tatsächlich war Lazarus, der Freund Jesu (Johannes 11,11) für die führenden Juden so etwas wie ein „Aussätziger“ im geistlichen Sinn, jemand, den man meiden muss.

Diese Gleichsetzung von Lazarus mit Simon dem Aussätzigen ist nur ein Vorschlag, der keineswegs sicher ist. In Johannes 12,2 steht nur, dass Lazarus gemeinsam mit Jesus bei Tisch war, nicht aber, dass das Mahl in seinem Haus stattfand. Dass Marta die Gäste bediente, würde dafür sprechen, dass tatsächlich das Haus ihres Bruders der Ort des Mahls war. Sie könnte aber auch bei den befreundeten Nachbarn im Hause Simons bei der Durchführung des Gastmahls geholfen haben.

Auch wenn nicht sicher ist, dass Simon der Aussätzige ein Deckname für Lazarus war, so ist es doch nicht unwahrscheinlich, dass die synoptischen Evangelisten die Erwähnung von Lazarus unterlassen haben, um ihn dadurch zu schützen.

Lukas schreibt über eine Begebenheit, aus der wir geistliche Prioritäten lernen können:

38 Als sie weiterzogen, kam er in ein Dorf. Eine Frau namens Marta nahm ihn gastlich auf. 39 Sie hatte eine Schwester, die Maria hieß. Maria setzte sich dem Herrn zu Füßen und hörte seinen Worten zu. 40 Marta aber war ganz davon in Anspruch genommen zu dienen. Sie kam zu ihm und sagte: Herr, kümmert es dich nicht, dass meine Schwester die Arbeit mir allein überlässt? Sag ihr doch, sie soll mir helfen! 41 Der Herr antwortete: Marta, Marta, du machst dir viele Sorgen und Mühen. 42 Aber nur eines ist notwendig. Maria hat den guten Teil gewählt, der wird ihr nicht genommen werden. (Lukas 10,38-42)

Hier lesen wir über die Schwestern Marta und Maria, nicht aber über ihren Bruder Lazarus. Wie beim Gastmahl in Johannes 12 war es Marta, die diente. Es ist nicht vorstellbar, dass Lazarus, so er nicht aus irgendeinem wichtigen Grund an einem anderen Ort war, bei diesem Mahl nicht dabei war. Mag sein, dass ihn Lukas nicht erwähnte, weil es inhaltlich nicht notwendig war. Aber er hätte Lazarus auch nennen können. Dadurch wäre klarer geworden, dass der Haushalt nicht nur aus zwei Frauen bestand, was damals wohl etwas ungewöhnlich war. Es könnte auch hier der Fall sein, dass Lazarus bewusst nicht genannt wurde, um ihn zu schützen.

Johannes 21,19 spricht dafür, dass Johannes sein Evangelium erst nach dem Tod von Petrus (65?) geschrieben hat. Die synoptischen Evangelien wurden früher verfasst. Das Lukasevangelium wurde spätestens im Jahre 62 geschrieben.1 Markus und Matthäus sind noch früher anzusetzen.

Ich halte es für wahrscheinlich, dass die früher verfassten synoptischen Evangelien Lazarus aus dem erwähnten Grund nicht genannt haben. Für Johannes, der etwas später, zu einer Zeit, als Lazarus schon verstorben war, schrieb, brauchte auf seine mögliche Gefährdung nicht mehr Rücksicht nehmen. So konnte er, der als Zeuge sowohl beim Wunder der Auferweckung des Lazarus als auch beim Gastmahl in Betanien dabei war, zuverlässig darüber berichten.

Dies ist der Jünger, der all das bezeugt und der es aufgeschrieben hat; und wir wissen, dass sein Zeugnis wahr ist. (Johannes 21,24)


  1. Die Begründung dafür ist für einen späteren Beitrag angedacht. 

Kommentare sind geschlossen.

Bloggen auf WordPress.com.

Nach oben ↑