Sturheit oder Gottes Führung?

Als Paulus zum Abschluss seiner 3. Missionsreise nach Jerusalem zog, wurde er wiederholt davor gewarnt, dorthin zu gehen, wobei ausdrücklich betont wird, dass dieses Warnungen durch den Heiligen Geist geschahen. Paulus ist trotzdem in der Überzeugung, dass es Gottes Wille war, dorthin gezogen. Er wurde dort fast getötet, von den Römern gefangen genommen und musste mehrere Jahre in Gefangenschaft verbringen. Wie ist das zu beurteilen?

Die Reise nach Jerusalem hing mit einer Sammlung von Geldspenden für die dortige Gemeinde zusammen. Diese Sammlung wurde über längere Zeit hin geplant und hatte neben der Behebung der Not in Jerusalem und Judäa auch eine große geistliche Bedeutung. Sie sollte ein Ausdruck der Dankbarkeit der großteils heidenchristlichen Gemeinden für das Evangelium sein, das von der Urgemeinde in Jerusalem seinen Ausgang nahm.

Ja, das haben sie beschlossen und sie sind auch deren Schuldner. Denn wenn die Heiden an ihren geistlichen Gütern Anteil erhalten haben, so sind sie auch verpflichtet, ihnen mit irdischen Gütern zu dienen. (Römer 15,27)

12 Denn dieser heilige Dienst füllt nicht nur die leeren Hände der Heiligen, sondern wird weiterwirken als vielfältiger Dank an Gott. 13 Vom Zeugnis eines solchen Dienstes bewegt, werden sie Gott dafür preisen, dass ihr euch gehorsam zum Evangelium Christi bekannt und dass ihr ihnen und allen selbstlos geholfen habt. 14 In ihrem Gebet für euch werden sie sich angesichts der übergroßen Gnade, die Gott euch geschenkt hat, eng mit euch verbunden fühlen. 15 Dank sei Gott für sein unfassbares Geschenk! (2 Korinther 9,12-15)

Mehr zu diesem Hilfswerk kann in 2 Korinther 8 und 9 gelesen werden.

Ursprünglich war sich Paulus nicht sicher, ob er bei der Überbringung dieser Gabe dabei sein sollte. Er schrieb im Jahr 55, ca. zwei Jahre vor der Reise nach Jerusalem, aus Ephesus an die Korinther:

1 Was die Geldsammlung für die Heiligen angeht, sollt auch ihr euch an das halten, was ich für die Gemeinden Galatiens angeordnet habe. 2 Jeder soll immer am ersten Tag der Woche etwas zurücklegen und so zusammensparen, was er kann. Dann sind keine Sammlungen mehr nötig, wenn ich komme. 3 Nach meiner Ankunft werde ich eure Vertrauensleute mit Briefen nach Jerusalem schicken, damit sie eure Liebesgabe überbringen. 4 Ist es der Mühe wert, dass ich selbst hinreise, dann sollen sie mit mir reisen. (1 Korinther 16,1-4)

Im Frühjahr 57 war es für Paulus aber schon klar, dass er persönlich nach Jerusalem reisen würde. Er schrieb an die Römer:

25 Doch jetzt gehe ich nach Jerusalem, um den Heiligen einen Dienst zu erweisen. 26 Denn Mazedonien und Achaia haben beschlossen, eine Sammlung als Zeichen ihrer Gemeinschaft für die Armen unter den Heiligen in Jerusalem durchzuführen. 27 Ja, das haben sie beschlossen und sie sind auch deren Schuldner. Denn wenn die Heiden an ihren geistlichen Gütern Anteil erhalten haben, so sind sie auch verpflichtet, ihnen mit irdischen Gütern zu dienen. 28 Wenn ich das abgeschlossen und ihnen den Ertrag der Sammlung versiegelt übergeben habe, will ich euch besuchen und dann nach Spanien weiterreisen. (Römer 15,25-28)

Paulus war also zuversichtlich, dass er, nachdem er die Gabe an die Gemeinde von Jerusalem übergeben hatte, anschließend nach Rom reisen könnte. Es war ihm aber bewusst, dass in Jerusalem Gefahr drohte. Darum bat er die Gemeinde von Rom um ihr Gebet für ihn.

30 Ich bitte euch aber, Brüder, bei unserem Herrn Jesus Christus und bei der Liebe des Geistes: Kämpft mit mir in den Gebeten für mich vor Gott, 31 dass ich vor den Ungehorsamen in Judäa gerettet werde, dass mein Dienst an Jerusalem von den Heiligen dankbar aufgenommen wird 32 und dass ich, wenn es Gottes Wille ist, voll Freude zu euch kommen kann, um mit euch eine Zeit der Ruhe zu verbringen! (Römer 15,30-32)

Im Laufe der Reise wurde es aber immer klarer, dass in Jerusalem Leiden auf ihn wartete. Den Ältesten der Gemeinde von Ephesus sagte er in Milet:

22 Und siehe, nun ziehe ich, gebunden durch den Geist, nach Jerusalem und ich weiß nicht, was dort mit mir geschehen wird. 23 Jedoch bezeugt mir der Heilige Geist von Stadt zu Stadt, dass Fesseln und Drangsale auf mich warten. 24 Aber ich will mit keinem Wort mein Leben wichtig nehmen, wenn ich nur meinen Lauf vollende und den Dienst erfülle, der mir von Jesus, dem Herrn, übertragen wurde: das Evangelium von der Gnade Gottes zu bezeugen. (Apostelgeschichte 20,22-24)

Paulus sah sich selbst „gebunden durch den Geist“, d. h., er sah es als den Willen des Heiligen Geistes an, dass er nach Jerusalem reiste. Andererseits wusste er durch das Zeugnis des Heiligen Geistes, dass er dort gefangen genommen werden würde. Dieses Zeugnis des Heiligen Geistes geschah vermutlich durch Warnungen von Geschwistern, die ihn durch den Heiligen Geist geführt in verschiedenen Orten auf die drohende Gefahr aufmerksam machten. Ausdrücklich wird das von der Gemeinde in Tyrus berichtet:

Nachdem wir die Jünger ausfindig gemacht hatten, blieben wir sieben Tage bei ihnen. Auf Eingebung des Geistes hin warnten sie Paulus davor, nach Jerusalem zu gehen. (Apostelgeschichte 21,4)

Ebenso gab es eine Warnung in Cäsarea, der letzten Station vor Jerusalem:

10 Wir blieben mehrere Tage. Da kam von Judäa ein Prophet namens Agabus herab 11 und suchte uns auf. Er nahm den Gürtel des Paulus, band sich Füße und Hände und sagte: So spricht der Heilige Geist: Den Mann, dem dieser Gürtel gehört, werden die Juden in Jerusalem ebenso fesseln und den Heiden ausliefern. 12 Als wir das hörten, redeten wir ihm zusammen mit den Einheimischen zu, nicht nach Jerusalem hinaufzuziehen. 13 Doch Paulus antwortete: Warum weint ihr und macht mir das Herz schwer? Ich bin nicht nur bereit, mich fesseln zu lassen, sondern auch, in Jerusalem für den Namen Jesu, des Herrn, zu sterben. 14 Da er sich nicht überreden ließ, gaben wir nach und sagten: Der Wille des Herrn geschehe. (Apostelgeschichte 21,10-14)

Wer war nun vom Heiligen Geist geführt? Paulus, der „gebunden durch den Geist“ nach Jerusalem zog, oder seine Geschwister aus verschiedensten Gemeinden, die „auf Eingebung des Geistes hin“ Paulus davor warnten, nach Jerusalem zu gehen?

Vom Ergebnis her könnte man meinen, dass sich hier Paulus der Führung des Heiligen Geistes widersetzt hat. Er wurde gefangen genommen und war an die vier Jahre in seinem Wirken sehr stark eingeschränkt. Zusätzlich ist zu bedenken, dass der Tumult gegen Paulus, der ihm fast das Leben gekostet hätte (Apostelgeschichte 21,27-40), im Tempel geschah. Paulus war deswegen dort, weil er auf Anraten von Jakobus und den Ältesten von Jerusalem ein Gelübde von vier Männern unterstützte (Apostelgeschichte 21,20-26). Für Paulus, der die Freiheit vom alttestamentlichen Gesetz verkündete, ist das sehr überraschend. Doch Paulus sah das wohl im Rahmen seines Grundsatzes:

Den Juden bin ich ein Jude geworden, um Juden zu gewinnen; denen, die unter dem Gesetz stehen, bin ich, obgleich ich nicht unter dem Gesetz stehe, einer unter dem Gesetz geworden, um die zu gewinnen, die unter dem Gesetz stehen. (1 Korinther 9,20)

Manche ziehen den Schluss, dass Paulus hier seinen eigenen Grundsätzen untreu geworden ist und das Gott deswegen die Gefangennahme zugelassen hat.1 Es ist aber auch zu bedenken, dass Paulus bei Nichtjuden sehr strikt gegen das Halten alttestamentlicher Rituale war, nicht aber bei Juden. Wenige Jahre später – nach der Zerstörung des Tempels – waren diese Rituale ohnehin nicht mehr möglich.

Ich denke, dass sowohl die Warnungen in den verschiedenen Gemeinden als auch die Entscheidung von Paulus, nach Jerusalem zu ziehen, vom Geist Gottes geführt waren. Die warnenden Geschwister wussten durch den Heiligen Geist, dass auf Paulus Gefangenschaft und Leiden warteten. Das wusste auch Paulus. Die Warner zogen aber aus ihrer Sorge um Paulus den Schluss, dass es besser sei, Paulus ginge nicht nach Jerusalem. Man kann Apostelgeschichte 21,4 so verstehen, dass sie auf Eingebung des Geistes über das kommende Leiden wussten und deshalb aus ihrem eigenen Wunsch heraus, Paulus davor zu bewahren, ihm nahelegten, doch nicht dorthin zu gehen. Auch der Prophet Agabus hat nur angekündigt, was geschehen wird. Die Begleiter von Paulus und die dortigen Geschwister haben ihm daraufhin zugeredet, nicht nach Jerusalem zu gehen. Das war die verständliche menschliche Reaktion. Paulus jedoch sah seine Reise nach Jerusalem im Dienst der Einheit der Gemeinde. Die Gabe der durch sein Wirken entstandenen heidenchristlichen Gemeinden sollte in seinem Beisein übergeben werden. Auch wenn es Unterschiede in der Einstellung zur Thora gab, war Paulus die Einheit zwischen Jerusalem und den Gemeinden unter den Heidenvölkern ein wichtiges Anliegen, wofür er auch zu leiden bereit war.

In seiner Gefangenschaft hat Paulus auch einige Briefe des Neuen Testaments geschrieben: die Briefe an die Kolosser, die Epheser, an Philemon, den zweiten Brief an Timotheus, vermutlich auch den Brief an die Philipper. Können wir wirklich annehmen, dass Gott nach so einer gravierenden Entscheidung gegen seinen Willen das Wirken von Paulus noch in dieser Weise gesegnet hätte, dass er ihn als Autor von Büchern der Heiligen Schrift verwendet hätte? Paulus hätte zumindest im Nachhinein die Sündhaftigkeit dieser Entscheidung erkennen müssen.

Lukas schreibt in der Apostelgeschichte über den Beistand Gottes auch nach der Verhaftung.

In der folgenden Nacht aber trat der Herr zu Paulus und sagte: Hab Mut! Denn so wie du in Jerusalem meine Sache bezeugt hast, sollst du auch in Rom Zeugnis ablegen. (Apostelgeschichte 23,11)

[…] und hat gesagt: Fürchte dich nicht, Paulus! Du musst vor den Kaiser treten. Und siehe, Gott hat dir alle geschenkt, die mit dir fahren. (Apostelgeschichte 27,24)

Gott hat auch den gefangenen Paulus für seine Pläne verwendet.

Die Gläubigen von Cäsarea und die Begleiter des Paulus sagten in Apostelgeschichte 21,14, nachdem er sich nicht überreden ließ:

Der Wille des Herrn geschehe.

Das ist nicht als Stoßseufzer zu verstehen, dass sich der sture Paulus ohnehin nichts sagen lässt, sondern zeigt ihre Offenheit für das Wirken Gottes, das nicht immer den eigenen Vorstellungen entsprechen muss.

7 Ich habe den guten Kampf gekämpft, den Lauf vollendet, die Treue bewahrt. 8 Schon jetzt liegt für mich der Kranz der Gerechtigkeit bereit, den mir der Herr, der gerechte Richter, an jenem Tag geben wird, aber nicht nur mir, sondern allen, die sein Erscheinen ersehnen. (2 Timotheus 4,7-8)


  1. Mir ist das aus den Anmerkungen der von Witness Lee begründeten Recovery Version des NT bekannt. 

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