Tote werden nicht lebendig, Schatten stehen nicht auf; denn du hast sie heimgesucht und vernichtet, jede Erinnerung an sie hast du getilgt. (Jesaja 26,14)
Was will uns dieses Prophetenwort sagen? Bestätigt es einen Spruch der Freidenker aus dem 19. Jahrhundert?
Schafft hier das Leben gut und schön, kein Jenseits ist, kein Aufersteh’n!
Oder wie es in Jesaja 22,13b heißt:
Lasst uns essen und trinken, denn morgen sterben wir! (Elberfelder)
In Jesaja 22 jedoch wird diese Aussage und der dahinterstehende Lebensstil als sündhaft verurteilt, wie aus dem Folgevers hervorgeht:
Der HERR der Heerscharen offenbart sich in meinen Ohren: Diese Schuld wird euch nicht vergeben, bis ihr sterbt, spricht der Herr, der GOTT der Heerscharen. (Jesaja 22,14)
Auch in Jesaja 26,14 geht es nicht um die Leugnung des Lebens nach dem Tod. Einige Verse später steht das Gegenteil:
Deine Toten werden leben, meine Leichen stehen auf. Wacht auf und jubelt, ihr Bewohner des Staubes! Denn ein Tau von Lichtern ist dein Tau und die Erde gebiert die Schatten. (Jesaja 26,19)
Betrachten wir diese beiden Verse im Zusammenhang des Kapitels.
7 Der Pfad des Gerechten ist Geradheit, gerade ist die Bahn des Gerechten, die du ebnest. 8 Fürwahr, auf dem Pfad deiner Gerichte, HERR, haben wir auf dich gehofft. Deinen Namen anzurufen und deiner zu gedenken, ist der Seele Verlangen. 9 Meine Seele verlangt nach dir in der Nacht, auch mein Geist in meinem Innern ist voll Sehnsucht nach dir. Denn wann immer deine Gerichte die Erde treffen, lernen die Bewohner des Erdkreises Gerechtigkeit. 10 Wird dem Frevler Gnade gewährt, so lernt er keine Gerechtigkeit. Im Land des Rechts tut er Unrecht und sieht nicht die Hoheit des HERRN. 11 HERR, deine Hand ist erhoben und sie schauen es nicht. Doch sie werden schauen und beschämt dastehen vor dem leidenschaftlichen Eifer für das Volk. Ja, Feuer wird deine Gegner fressen. 12 HERR, du wirst uns Frieden schaffen; denn auch all unsere Taten hast du für uns gemacht. 13 HERR, unser Gott, es beherrschten uns andere Herren als du. Allein durch dich bringen wir deinen Namen in Erinnerung. 14 Tote werden nicht lebendig, Schatten stehen nicht auf; denn du hast sie heimgesucht und vernichtet, jede Erinnerung an sie hast du getilgt. 15 Du hast die Nation vermehrt, o HERR, du hast die Nation vermehrt, hast dich verherrlicht, hast alle Grenzen des Landes erweitert. 16 HERR, in der Not haben sie nach dir Ausschau gehalten; sie schrien in der Bedrängnis, als deine Züchtigung sie traf. 17 Wie eine Schwangere, die kurz davor ist, zu gebären, sich windet und schreit in ihren Wehen, so waren wir, HERR, vor deinem Angesicht. 18 Wir waren schwanger und lagen in Wehen, doch als wir gebaren, war es Wind. Heil verschaffen wir nicht dem Land und Erdenbewohner sind keine geboren. 19 Deine Toten werden leben, meine Leichen stehen auf. Wacht auf und jubelt, ihr Bewohner des Staubes! Denn ein Tau von Lichtern ist dein Tau und die Erde gebiert die Schatten. (Jesaja 26,7-19)
Der größere Zusammenhang ist die sogenannte Jesaja-Apokalypse, die die Kapitel 24-27 des Jesajabuches umfasst. Von der modernen Theologie wird dieser Abschnitt in spät nachexilischer Zeit verortet. Da im gesamten Abschnitt der Prophet Jesaja namentlich nicht genannt ist, besteht kein grundsätzlicher Grund gegen die Annahme, dass Texte späterer Propheten, die in der Tradition Jesajas standen, in das Jesajabuch aufgenommen wurden. Hier ist die Sachlage anders als bei der sogenannten Pseudepigraphie im Neuen Testament.
Meiner Ansicht nach würde dieser Text aber gut in die Zeit des babylonischen Exils passen. Die „Gerichte“, die in den Versen 7 und 9 erwähnt werden, wäre das Gericht über Juda und Jerusalem, das zur Zerstörung der Stadt und des Tempels und zur Verschleppung vieler Juden nach Babylonien geführt hat. Mit der „Erde“ und dem „Erdkreis“ wäre das verheißene Land gemeint. Im Hebräischen hat das Wort אֶרֶץ / ‚ärätz beide Bedeutungen „Erde“ und „Land“. Auch das mit „Erdkreis“ übersetzte Wort תֵּבֵל / tēbēl kann sich z. B. in Klagelieder 4,12 nur auf das Land Israel beziehen.
Die Gottesfürchtigen lernen durch das Gericht Gerechtigkeit. Die Frevler hingegen lernen die Gerechtigkeit nicht, selbst wenn sie Gnade erfahren (Vers 10). Das Gericht wird die Gegner Gottes treffen (Vers 11), die Gerechten haben die Hoffnung auf Frieden (Vers 12). Vers 13 schildert die Erfahrung des Exils. Trotz der Herrschaft anderer Herren halten die Gerechten am Namen Gottes fest. Vers 14 beschreibt den Augenschein. Durch das Gericht, durch die Zerstörung ist das Volk tot. Vielleicht ist hier auch die geistliche Wirklichkeit der Frevler gemeint. Sie sind geistlich tot, von Gott getrennt. Die gottlosen Führer des Volkes, die durch ihre Sünden zum Gericht beigetragen haben, sind bedeutungslos geworden.
Vers 15 ist entweder ein Rückblick auf die Anfangszeit des Volkes Israel von der Landnahme bis David, in der Gott die Grenzen des Landes erweitert hat. Es könnte aber auch ein Ausdruck der Zuversicht sein, dass Gott sein Volk trotz der Strafe nicht verlassen hat.
In den Versen 16-18 geht es um das Bemühen der Gerechten, Gott zu suchen. Sie stießen jedoch an ihre Grenzen. Sie brachten aus eigener Kraft nur „Wind“ hervor. Leben und Rettung kann nur von Gott kommen.
In Vers 19 kommt dann im Bild der Auferstehung die Hilfe Gottes zur Sprache. Gott wird sein Volk wiederherstellen. Ähnlich wie in Ezechiel 37,1-14 ist die Auferstehung ein Bild für die Erneuerung des Gottesvolkes.
Nach dieser Erklärung geht es direkt nicht um die Auferstehung der Toten. Die Auferstehung ist ein Bild für die geistliche Erneuerung des Volkes Israel, die mit der Rückkehr in das Land der Verheißung verbunden ist. Wenn die Auferstehung als Bild verwendet wird, setzt das den Glauben an die Auferstehung aus den Toten voraus.
Vers 13 ist keine Leugnung der Auferstehung, sondern will sagen, dass Gottes Feinde keine Zukunft in seinem Volk haben. Das heißt aber nicht, dass sie auf ewig ausgelöscht werden.
Die Auferstehung sowohl der Gerechten als auch der Ungerechten wird auch schon im Alten Testament gelehrt.
Von denen, die im Land des Staubes schlafen, werden viele erwachen, die einen zum ewigen Leben, die anderen zur Schmach, zu ewigem Abscheu. (Daniel 12,2)
So hat es auch Jesus gelehrt:
28 Wundert euch nicht darüber! Die Stunde kommt, in der alle, die in den Gräbern sind, seine Stimme hören 29 und herauskommen werden: Die das Gute getan haben, werden zum Leben auferstehen, die das Böse getan haben, werden zum Gericht auferstehen. (Johannes 5,28-29)
Paulus hat bekannt, dass er diese Hoffnung mit den Pharisäern geteilt hat:
[…] und ich habe dieselbe Hoffnung auf Gott, die auch diese hier haben: dass es eine Auferstehung der Gerechten und Ungerechten geben wird. (Apostelgeschichte 24,15)
Der Glaube an die Auferstehung ist keine Jenseitsvertröstung, sondern schenkt dem Leben auf dieser Erde eine neue Perspektive, die auch das irdische Tun erfüllen und verändern kann. Der Blick auf das Ziel bestimmt den Weg und schenkt dadurch auch eine gesunde Distanz zu allen irdischen Sorgen und Problemen.
25 Jesus sagte zu ihr: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt, 26 und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben. Glaubst du das? (Johannes 11,25-26)